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Pierre Michon
Die Grande Beune

In der Höhle der Zigarettenverkäuferin
  Kritik
  Pierre Michon:
Die Grande Beune
Roman
Suhrkamp 2011
103 Seiten | 12,90 Euro


Als „packende, knappe Geschichte“ bezeichnet der Verlag die Erzählung Die Grande Beune von Pierre Michon, und diesmal trifft zu, was ein Klappentexthasser sonst an diesen Paratexten bemängelt: die Reduktion einer komplexen Handlung, von Sprache, Stil und Poesie auf den Plot.

Die Grande Beune ist ein Gebirgsfluss in der Dordogne, im Südwesten Frank­reichs. Ganz in der Nähe existieren unterirdische Höhlen, die berühmteste ist die Höhle von Lascaux. In dieses Gebiet verschlägt es 1961 einen jungen Lehrer, der in einem kleinen Nest seine erste Lehrer­stelle antritt. „Auch die Teufel, so nehme ich an, beruft man in die Höllenkreise; und von Überschlag zu Über­schlag purzeln sie auf des Trichters enges Loch zu, so wie wir der Rente ent­gegen­rutschen.“

In dieser zivili­sations­fernen Landschaft begegnen ihm urtümliche und sonderliche Gestalten, zum Beispiel Hélène, die reife Wirtin des Gasthofes Chez Hélène, in den er einzieht, oder Jean der Fischer, allemal die Kinder, die er mit einer gewissen Rührung und aus sicherer Distanz betrachtet, wie andere ihre Schmet­ter­lings­sammlung oder die Exponate eines geolo­gischen Museums. Schließlich ist es aber Yvonne, die Verkäuferin im Tabakladen, die es ihm angetan hat, die in ihm sofort unan­ständige Gedanken hervorruft.

Wie die Teufel dem Zentrum der Hölle und die Lehrer ihrer Pension entgegen­fiebern, rutscht der junge Lehrer immer weiter auf das Zentrum seines Begeh­rens zu. Die Ohrringe, der Hals, die Achseln, Nylon­strümpfe und Beine peitschen ihn auf. Aber ohne Chance auf Erfolg, zumal die Frau auch Mutter eines seiner Schüler ist. Dennoch stellt er ihr nach, verfolgt sie auf den Feld­wegen, die sie seiner Meinung nach auf­reizend zurücklegt. Wohin, dass weiß er lange nicht. Wie die tosenden Fluten wartet er darauf, dass die Sexualität endlich ausbricht, sei es durch Gewalt. Erst als er sich eine Freundin zulegt, jung und unge­stüm wie er selbst, der der schnelle Sex im Renault genügt, kann er seine Energie kanali­sieren wie einen wilden Fluss, als sei die Freundin die Kleine und Yvonne, das ideali­sierte Prachtweib, die Große Beune.

Überall unter den Feldern und Bergen schlummern die Höhlen, in denen vor Urzeiten Menschen gehaust haben, Menschen sich durch die erste Malerei verewigt haben. Der junge Lehrer reagiert eher gelangweilt, wenn ihm die Kinder ihre Funde in die Schule bringen, Steine, Werkzeuge der Cro-Magnon-Menschen, Feuer­steine, die durch das Pflügen der Felder an die Ober­fläche befördert werden. Aber darunter schlummern die Höhlen, verborgen wie das weibliche Geschlecht, das der Lehrer begehrt, uner­reichbar vielleicht, aber doch der Grund für alles tun und streben. Da sind die Urge­walten versteckt, die wir Instinkte nennen, sowie auch die Kunst.

Pierre Michon gilt als Sonderling der Literatur, was auch immer das heißen mag. Solche Sonderlinge sind häufig bedeutendste Schrift­steller zugleich. Er wurde 1945 geboren, aber erst jetzt im Renten­alter kommt sein wuchtiges kleines Buch zu uns, das vor 15 Jahren in Frankreich erschienen ist. Diese wuchtigen, kleinen Bücher, Erzählungen oder knappen Romane sind so rar, aber umwerfend, dass man sie einfach ins Herz schließen muss.
Adrian Kasnitz   08.06.2011   

 

 
Adrian Kasnitz
Lyrik