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Alexander Diener

Die Zurückgebliebenen


Sonja heult oft. Ich mag es nicht, wenn Sonja heult. Es ist so ein unechtes Heulen: Sie sieht einen dabei nicht an, starrt nur an die Wand. Als müsste sie sich konzentrieren und sich jede einzelne Träne aus den Augen pressen. Am Anfang habe ich das nicht verstanden. Am Anfang habe ich ihr Heulen für echt gehalten und sie in den Arm genommen und auf sie eingeredet, mir zu erzählen, was sie bedrücke. Und sie hat nie ein Wort gesagt. Sie hat immer nur dagesessen, dieses hässliche, verwaschene Kissen an ihre Brust gedrückt und geheult. Was ist los, was hast du, fragte ich immer wieder, und sie sagte nichts. Ich dachte, es sei vielleicht so schlimm, dass sie nicht mit mir darüber sprechen könne. Dann begriff ich, dass sie nichts sagt, weil sie nicht weiß, weswegen sie heult. Und weil sie zu dumm ist, sich etwas auszudenken.

Jetzt sitzt sie wieder in ihrem Schlafzimmer und ich höre sie schluchzen. Ich gehe nicht hin, sie soll denken, dass ich sie nicht höre. Neben mir steht ein Kinderwagen. Darin liegt Lasse, ihr kleiner Sohn, er schläft. Lasse schreit nie. Nicht einmal wenn er Hunger hat, schreit er. Manchmal zähle ich, bevor ich gehe, wie viele Gläser seines Babybreis noch im Schrank stehen und schaue am nächsten Tag nach. Oft vergisst Sonja vor lauter Heulen, ihn zu füttern. Aber der kleine Lasse weint nie. Im Schlafzimmer wird das Schluchzen und Wimmern lauter. Sonja heult, Sonja will, dass ich zu ihr komme. Ich schalte den Fernseher lauter, sie soll wissen, dass ich sie gehört habe, aber so tun will, als hätte ich es nicht. Vielleicht hört sie dann auf, denke ich. Einige Sekunden ist es still. Dann fängt sie wieder an, fast kreischend, als bekäme sie keine Luft. Ich stehe auf und gehe nach Hause. Den Fernseher lasse ich laufen.

Sonja und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten, aber wir waren in der Schule nie befreundet. Wir sind der Rest, wir sind diejenigen, die blieben. Alle anderen zogen fort, studierten, machten Ausbildungen und so was, und ließen Sonja und mich im Stich. Ich kann es keinem verübeln. Ich habe das Gefühl, dass alles um mich herum altert und gammelt. Dieses verdammte Dorf will einfach nicht sterben, sagte mein Vater schon, als ich noch ein Kind war. Ich besuche Sonja nicht, weil sie mir gefällt, sondern weil ich Mitleid mit ihr habe. Sonja ist anders als ich. Ich hatte nie eine Chance wegzukommen, das sagten alle, meine Lehrer, die Verwandten, sogar meine Eltern. Also macht es nichts, dass ich hier bleibe. Es gibt für solche wie mich nichts anderes, sagt mein alter Lehrer immer, wenn ich ihn sehe. Ich nicke dann und sage, ja, es gibt nichts Besseres. Dann lächelt mein Lehrer und geht weiter. Aber Sonja war anders als ich. Sonja war wie die anderen. Sonja war klug und schön. Heute heult sie nur noch und ihr Gesicht sieht vernarbt aus, obwohl da nie Wunden waren. Sonja hat versagt, sagen alle. Ist schwanger geworden und konnte oder wollte niemandem sagen, wer der Vater ist. Wahrscheinlich ist er Hals über Kopf mit den anderen abgehauen. Sonja sagt, sie freue sich, wenn ich sie besuche. Sie sagt, ich erinnere sie daran, dass sie einmal anders gewesen sei als ich. Ich nicke dann und tue so, als verstünde ich nicht, worüber sie redet, um die Demütigung zu verbergen.

Zu Hause gehe ich zu meiner Mutter, sie liegt im Schlafzimmer und liest, wie immer. Sie hört nicht auf zu lesen, als ich das Zimmer betrete. Nicht mal, als ich mich räuspere.
  „Ich bin wieder da.“
  „Gut.“
  „Ich war bei Sonja.“
  „Wo sollst du sonst gewesen sein?“
  „Sonja hat wieder geheult.“
  „Sonja heult immer.“
  „Warum sagst du das?“
  „Weil sie eine Versagerin ist. Dein Vater hat angerufen.“
  „Wie geht es ihm?“
  „Er hat jetzt Arbeit in der Stadt.“
  „Das ist gut.“
  „Ja. Sagt, dass er am Wochenende vielleicht kommt.“

In der Küche liegt überall dreckiges Geschirr. Ich stapel es in der Spüle. Im Kühlschrank finde ich Kartoffeln und Soße mit Fleischklößchen, zusammengekippt in einer großen Schüssel. Ich fülle einen Teller und stelle ihn in die Mikrowelle und überfliege die Schlagzeilen in der Tageszeitung. Als die Mikrowelle piept, klingelt das Telefon. Es ist Sonja.
  „Du sollst nicht einfach so gehen.“
  „Ich musste, ich hab noch was zu erledigen.“
  „Du sollst mir Bescheid sagen.“
  „Ich habe das vergessen. Entschuldigung.“
  „Du musst nicht zu mir kommen.“
  „Ich besuche dich gerne.“
  „Ich jammer doch nur und heule, das hast du selber gesagt. Ich verstehe nicht, warum du immer wieder kommst.“
  „Das macht nichts, das Heulen und Jammern. Das macht mir nichts aus.“
  „Ich bin eine Versagerin. Ich habe keinen Besuch verdient.“
  „Hast du Lasse gefüttert?“
Dann heult sie nur noch und ich höre ihr eine Zeit lang zu und lege irgendwann auf. Ich mag es nicht, wenn Sonja heult. Sonja soll glücklich sein. Sie soll die erste sein, die versagt hat, aber glücklich ist. Das ist meine Aufgabe, Sonja glücklich zu machen. Das können die anderen nicht. Die anderen sind weg, haben sie im Stich gelassen.

Ich mache die Kartoffeln und die Fleischklößchen noch einmal warm und beginne zu essen. Es ist zu viel Soße, sie schmeckt schwer und sickert wie Teer in meinen Magen. Mutter kommt aus dem Schlafzimmer. Sie trägt einen alten Bademantel. Sie steht hinter mir, streicht mir mit ihrer rissigen Hand über meinen Nacken, meine Wange, beugt sich vor, küsst mich auf die Stirn, auf die Nase, auf den Mund.
  „Du musst nicht zu Sonja gehen, mein Schatz. Du brauchst Sonja nicht. Sie kann dir nichts geben, was du nicht schon hast.“
  „Ich will, dass Sonja nicht mehr heult.“
  „Sonja wird immer heulen. Sonja hat versagt.“
  „Ich weiß. Ich auch.“
  „Aber das stimmt nicht, mein Schatz. Du hast dich doch entschieden hierzubleiben, in der Heimat, zu Hause, bei deiner einsamen Mutter.“
  Ihre Hände liegen auf meinen Schultern. Ich wische sie weg und stehe auf.
  „Was hat sie aus dir gemacht?“ Mutter ist wütend, Mutter soll nicht wütend sein.
  „Es tut mir Leid.“ Ich nehme vorsichtig ihre rissige Hand. Immer habe ich das Gefühl, alte Blätter zwischen den Fingern zu haben, die zerbröselten, würde ich zu sehr drücken.
  Mutter zieht ihre Hand zurück. „Geh zu Sonja. Aber wenn du das tust, versagst du auch, und dann komm nicht her, um dich an meiner Brust auszuheulen.“

Am nächsten Morgen gehe ich zu Sonja und sie sagt, sie wolle gerade mit Lasse einen Spaziergang machen. Ich freue mich und begleite sie, denn wenn andere Menschen dabei sind, heult Sonja nie. Sie lächelt dann immer und macht Witze und lacht und sagt, es sei ein Glück, dass wir hier geblieben seien, und dass die anderen sich doch in der Stadt abschuften sollten. Sie grüßt alle Leute und lächelt sie an und manche grüßen zurück. Wir gehen durch den Park und setzen uns auf eine Bank.

  „Warum heulst du jetzt nicht?“
  Sie gibt keine Antwort.
  „Warum musst du immer heulen, wenn wir alleine sind?“
  „Weil ich nur noch dich habe und weil du mich durcheinander bringst. Findest du mich schön?“
  „Du bist die schönste Frau, die je mit mir gesprochen hat.“
  Sie steht auf, legt Lasse in den Kinderwagen. „Komm, lass uns gehen.“
  Ich nicke und folge ihr.

Sonja heult wieder. Sonja heult nur für mich. Warum macht sie das, was erwartet sie von mir? Ich gehe in das Wohnzimmer und schalte den Fernseher an und hoffe, dass es aufhört. Aber es hört nicht auf, es hört nie auf. Lasse schreit nicht. Er wird nicht so auf den Arm genommen wie andere Babys und bekommt nicht so oft zu essen wie andere Babys. Darum erwartet er nichts, darum fehlt ihm nichts, weil er nichts anderes kennt. Mutter sagt, Kinder sind egoistisch, Kinder schreien nur, wenn sie etwas wollen, aber noch nicht wissen, wie sie es jemandem mitteilen können. Warum heult Sonja? Was will sie? Was fehlt ihr?

Sonja kommt aus dem Schlafzimmer und setzt sich neben mich auf das Sofa und sieht mich von der Seite an. Tränen fallen aus ihren Augen, sie zieht die Nase hoch.
  „Wie war es, zu den anderen zu gehören?“, frage ich.
  „Ich gehörte nicht zu den anderen. Jetzt gehöre ich zu den anderen.“
  Ich tue, als wüsste ich nicht, wovon sie redet. Sie lächelt.
  „Findest du mich schön?“
  „Du bist die schönste Frau, die je mit mir gesprochen hat.“
  „Du würdest gerne mit mir schlafen.“
  Ich schaue sie an und drehe den Kopf schnell wieder weg.
  „Du wirst nicht mit mir schlafen. Du wirst mich niemals bekommen.“
  Sie lacht, sie kreischt schrill vor Lachen. Die Tränen trocknen an ihren Augenrändern.
  Ich stehe auf. „Ich habe noch etwas zu erledigen.“
  „Denkst du, ich habe nicht gemerkt, dass du nicht so hängen geblieben bist wie du tust? Aber mich wirst du nie ficken, merk dir das.“
  Ich hole aus der Küche einige Gläser Babybrei und werfe sie vor Sonja auf den Boden, eine nach der anderen. Scherben und Brei fliegen umher.
  „Lasse hat Hunger, du musst ihn füttern.“, sage ich und haue ab. Den Fernseher lasse ich laufen. Sonja lasse ich heulen.

Mutter wartet in der Küche auf mich. Sie trägt ein enges schwarzes Kleid. Ich kenne es von den alten Fotos, die sie und Vater mir mal gezeigt haben, auf denen zu sehen ist, wie sie zusammen ausgingen. Damals hatte meine Mutter schöne Haut. Heute ist ihre Haut rissig und fühlt sich an wie Gummi. Sie sagt: „Endlich bist du wieder bei deiner Mutter.“ Sie steht auf und umarmt mich. Ich lege meine Hände auf ihre Schultern. Sie lehnt ihr Gewicht an mich, presst ihren Körper an meinen, küsst mich auf die Stirn, auf die Wange, auf den Mund, immer wieder auf den Mund. Ich stoße sie weg. Mutter starrt an mir vorbei und beginnt zu heulen.
Alexander Diener   02.04.2011   

 

 
Alexander Diener
Prosa