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Sarah Kirsch
Sommerhütchen

Sommerliche Einblicke
  Kritik
  Sarah Kirsch
Sommerhütchen
Steidl 2008
159 Seiten, 18,90 €


Steidl macht schöne Bücher. Diesem wurde ein sonnen­blumen­gelber Leinen­umschlag mit apfel­grünem Rand spendiert. Es fällt wegen der sommerlichen Farben­frische im Regal sofort auf, wenn es dort quer zur Welt steht, also so platziert ist, dass es dem Betrachter eine visuelle Breitseite verpasst, die es wegen der Farbgebung und der Größe und Schwärze der ins Gelb geschlagenen Tief­druck­buch­staben unmöglich macht, den Titel zu über­sehen: Sommer­hütchen – Anfang April, nach dem Ende des Winters, am ersten T-Shirt-Tag des Jahres, ein wohliger, warmer, ver­lockender Begriff. Das Buch ist von Sarah Kirsch. Ich greife zu. Ein Reflex. Optik und Titel machen mich neugierig. Ich blättere. Es handelt sich um tagebuch­ähnliche Protokolle aus dem Jahr 2004, die am 16. April beginnen und am 16. Septembrius enden, also den Frühling (grüner Rand) und den Sommer (gelber Umschlag) als Halb­jahres­zyklus umfassen. Steidl hat sie 2008 zu diesem Buch gemacht. Ich schnappe hier und dort ein paar Zeilen auf, begegne dem typisch spröden Sarah-Kirsch-Charme, irgendwo zwischen Distanz und Nähe verortet, der auch ihren Gedichten eigen ist: Das Oszil­lieren zwischen dem Bedürfnis sich poetisch mitzu­teilen und dem über allem und in allem liegenden Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, um sehen, in-sich-aufnehmen und arbeiten zu können. Ich lege das Buch zu den anderen, die ich in der Hand halte und gehe zur Kasse. Ich vermute in Sommer­hütchen Lektüre, die zum Sonnen­schein passt, den ich zusammen mit meiner Frau Claudia im hessischen Mittelalter-Städtchen Limburg genieße. Lektüre, die den Früh­lings­tag zu einem ganz­heitlichen, also auch litera­rischen Erlebnis machen soll. Den ersten zwanzig, dreißig Seiten des Buches widme ich mich schon eine Stunde später bei einer Tasse Milchkaffee in einer Konditorei am Marktplatz der Stadt: Sarah Kirsch gewährt in knappen, schräg-schönen lyrischen Notizen Einblick in ihren Alltag im schleswig-holsteinischen „Tee“ (Tielen­hemme), den sie am liebsten ungestört in ihrem großen alten Bauernhaus am Deich verbringt.
  Sie schreibt von Zimmern mit wohl­klingenden Namen (Karpathen­zimmer [sic], Spitzes Zimmer, Früh­stücks­zimmer, Ostsalon, Grüner Gartensalon), in die sie mit dem Sonnenlauf wechseln kann, vom wild wuchernden Garten, dem kaum noch Einhalt zu gebieten ist, vom Trompeten­baum, von Glyzinien, Rosenhecken, rauschenden Pappeln, vom Duft des Holunders, von Brach­vögeln, Krähen, Buchfinken, Schafen, Kiebitzen, Stockenten, dem Bachstelz und von Hauskatze Emily. Sie schreibt von uner­wünsch­ter Bettel-Post, die sie in den Papierkorb befördert, vom sehr frühen Aufstehen am Morgen, von Spazorgängen („War herrlich spazoren, zu den Azoren.“) zu Tageszeiten, die Einsamkeit versprechen, von Schwalben­scheiß­paket­chen auf der Treppe, von Wolken, schwan­kenden Bäumen und vom Wetter.


Eine Spielart von Voyeurismus?

17 Uhr. Ich klappe das Buch zu. Das Café wird geschlossen. Mit dem Auto fahren wir in den nahen Wester­wald zurück. Zuhause, es dämmert, die Amseln singen, lese ich weiter. Sarah Kirsch schreibt vom Regen, immer wieder vom Regen, der sich leitmotivisch durch die Seiten zieht: Regen, der auf die Dach­fenster­schräge klappert, Regen, der sich in der Dunkelheit der Nacht versteckt, Regen, der den frühen Morgen schätzt, Regen am Mittag, Regen am Abend, Gewitter, Wolken­brüche, Schauer, Regen­geräusche, Regen­vorhänge über der Eider, Regen, der die Katze ins Haus zwingt und solcher, der sie durchnässt, weil sie es dennoch verlas­sen hat. Der Sommer 2004 fand im Norden offenbar nur in kurzen Regenpausen statt. Ich sehe aus dem Fenster in die Dämmerung, höre eine Weile den Amseln zu und denke nach. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich meinen Sommer 2004 empfunden habe.

Sommerhütchen ist ein sehr persönliches Buch von Sarah Kirsch. Man mag sich fragen, welchen Gewinn Leser aus der Lektüre zu ziehen vermögen. Was im Leben und Erleben der Dichterin weist so weit über sich selbst hinaus, dass es unbedingt als Lektüre öffentlich zugänglich gemacht werden muss? Hätte man von weniger bekannten Autorinnen und Autoren ein ähnliches Werk publiziert und dabei dessen stilis­tische Eigen­willig­keiten bei Wörtern, Grammatik, Zeichensetzung und Rechtschreibung ebenso rücksichtsvoll toleriert? Wahrschein­lich nicht. Insoweit ist Sommerhütchen also auch ein Buch, das seine Existenz hauptsächlich dem literarischen Ansehen verdankt, das Sarah Kirsch im deutschen Sprachraum genießt. Vielleicht war es neben der Freude am erfrischend wie elegant gestalteten Buchumschlag und der Vorfreude auf unkonventionelle Lektüre, auch eine Spielart von Voyeurismus, die mich Sommerhütchen in der Buchhandlung zur Kasse tragen ließ: Das Interesse und die Neugier durch Sprossen­fenster in beleuchtete Zimmer zu schauen und in das Schreib­leben einer der wichtigsten deutsch­sprachigen Lyrikerinnen der Gegenwart einzutauchen. So zu erfahren, wie diese ins Leben blickt und es zu Poesie gerinnen lässt. Dabei bestätigt zu finden, dass auch das Dichter­leben Sarah Kirschs überwiegend von Alltag geprägt ist, der gelebt und bewältigt werden will, wenn er auch gelassener und unab­hängiger erscheint, als der von Menschen, die von Termin zu Termin eilen oder die sich im Büro vom unberechen­baren Telefon zu ständiger Reaktions­bereit­schaft zwingen lassen müssen.
  Aufschlussreich ist die Lektüre von Sommerhütchen jedoch nicht nur deshalb, weil Sarah Kirsch als Chronistin in eigener Sache auftritt. Sie arbeitet immer wieder auch dramatisches Zeitgeschehen ein: Tote im Irak, Tote in Afghanistan, Tote durch Erdbeben in Japan, Tote durch Star­fighter-Absturz bei St. Peter-Ording, Tote in Beslan usw. Unglücke, die in meiner Erinnerung längst durch die Kata­strophen nachfolgender Jahre verschüttet wurden. Sie drängen bei der Lektüre unvermit­telt ins Bewusst­sein und wirken durch die Kompression auf etwa 160 Seiten und drei Lesestunden, noch bedrohlicher und unheim­licher, als in der damals erlebten Echtzeit von sechs Monaten. Sarah Kirsch lässt die Ereignisse dabei stets unkommentiert. Sie nimmt zur Kenntnis und protokolliert, ohne durchscheinen zu lassen, inwieweit sie von dem Ges(ch)ehenem emotional berührt wurde.

Es ist längst dunkel als ich Sommer­hütchen nach der letzten Seite schließe. Ich bin Sarah Kirsch gerne durch ihren Regensommer in „Tee“ gefolgt. Möge die bevorstehende Warmzeit ihr Sonnensoll zwischen Eider und Inn erfüllen. Hier im Westen der Republik hat der Frühling vielversprechend begonnen. Im Herbst werden wir wissen, ob wir uns im Sommer 2011 vor lauter Sonnenschein ein Hütchen kaufen mussten.

 

Andreas Noga   20.04.2011   

 

 
Andreas Noga
Lyrik