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Anke Stelling

Das Gespräch führte Carolin Callies für die poetin
»Den Engel zeitweise aussperren«
  Gespräch
poetin nr. 25   externer Link
Herbst 2018

 



Die 25. poetin ist eine besondere poetin: Das Thema Autorschaft und Elternschaft wird nicht nur in Gesprächen und Essays behandelt, sondern spiegelt sich auch in den Prosa- und Lyrikbeiträgen wider.
Anke Stelling, geboren 1971 in Ulm, studierte Schreiben in Leipzig und lebt heute in Belin. Ihr vierter Roman Bodentiefe Fenster stand 2015 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und der Hotlist der Unabhängigen Verlage. Das 2017 erschienene Kinderbuch Erna und die drei Wahrheiten stand auf der Liste der besten 7 des Deutschlandfunks und wurde mit dem White Raven ausgezeichnet. Zuletzt gab es Fürsorge im Verbrecher Verlag, und im September 2018 erscheint eben dort Schäfchen im Trockenen.


 

Carolin Callies: In Deinen letzten drei Romanen – Bodentiefe Fenster (2015), Fürsorge (2017) und Schäfchen im Trockenen (2018) – spielen Familien und gerade auch Mütter, ungewöhnliche Mütter, eine große Rolle. Was treibt Dich persönlich bei diesem Thema um, es immer wieder und immer wieder neu in Romane zu packen?
Anke Stelling: Ich glaube, dass Schriftsteller*innen über das schreiben sollen, worin sie sich auskennen – und sich gerne auskennen würden. Ich versuche, im Erzählen Erkenntnisse zu gewinnen über meine Gegenwart, und ich hoffe, dass das dann auch Leser*innen für ihre Gegenwart interessiert. Bei mir sind's zur Zeit Mütter, weil ich selbst eine bin und glaube, dass es da noch eine Menge zu verstehen gibt.

 

C. Callies: Auch andere Autorinnen haben so schonungslos wie Du über Mutterfiguren und das Mutterdasein geschrieben. Ich denke an Helga M. Novak, Elfriede Jelinek oder Julia Franck. Gibt es Romane oder literarische Figuren, die Dich inspiriert haben?

 

A. Stelling: Oh ja, viele! Zum Beispiel Anneliese Mackintoshs So bin ich nicht – ihre Greta ist eine sehr inspirierende Figur. Oder Elizabeth Strouts Lucy Barton und Olive Kitteridge. Beides Mütter, schwierige Mütter, die eine ist Schriftstellerin, die andere Mathematiklehrerin. Jane Smileys Ginny aus Tausend Morgen hat fünf Fehlgeburten und vergräbt sie in der Scheune, damit ihr Mann nicht merkt, dass sie's immer weiter versucht.

 

C. Callies: Männer als Familienmitglieder dagegen sind fast eine Leerstelle in Deinen Romanen. Sie kommen höchstens am Rand vor. Spiegelt das für Dich die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Kinder­betreunng wieder?

 

A. Stelling: Ach so, nein. Das ist lediglich eine Perspektivefrage. Meine Mütter sind keine sonderlich erfüllten Menschen und trotz der vielen anderen, die sie umgeben, sehr einsam. Wobei ich nicht glaube, dass die dazugehörigen Väter sie böswillig im Stich lassen. Die wissen einfach auch nicht, wie's geht.

 

C. Callies: Lass uns näher auf Deinen Roman Fürsorge eingehen. Darin stellst Du zwei Frauenfiguren gegenüber: Gesche, die die Geschichte er­zählt und die dreifache fürsorgende Mutter ist, und Nadja, eine perfektionistische Primaballerina, die ihren Sohn vor sechzehn Jahren bei ihrer eigenen Mutter zurückgelassen hat und nun mit ihm ein sexuelles Verhältnis eingeht. Was hat Dich an dieser Gegenüberstellung der beiden Frauen und an dieser Erzählhaltung gereizt?

 

A. Stelling: Genau diese auf den ersten Blick extreme Unterschiedlichkeit und wie sich daran das Thema Kinderwunsch, Elternschaft, Eltern-Kind-Beziehung erzählen lässt. Ich fand erhellend, inwiefern das scheinbar Normale das offensichtlich Abnorme braucht, um überhaupt normal zu erscheinen.

 

C. Callies: Der Titel Fürsorge mutet fast zynisch an, oder? Was ist elterliche Fürsorge für Dich? Haben Gesche und Nadja ein komplett anderes Gefühl der Fürsorge ihren Kindern gegenüber?

 

A. Stelling: Mein Lieblingsbild zur Vertracktheit von Fürsorge ist diese Anweisung, die man immer im Flugzeug erhält: Im Falle einer Sauerstoffunterversorgung soll man sich unbedingt zuerst selbst eine Maske aufziehen, bevor man beginnt, seinem Kind dabei zu helfen. Sonst sind am Ende beide tot.
  Ich gehe davon aus, dass alle Eltern zuerst mal das Beste für ihr Kind wollen. Aber was ist dieses »Beste«? Dafür gibt's ja keine feste Definition. Das ist nicht nur historischem und kulturellem Wandel unterworfen, das ist auch bei einem selbst nicht sonderlich konstant. Und genau das stellt die riesige Herausforderung beim Elternsein dar: Eben nicht mit Sicherheit zu wissen, was zählt, nicht mal, was man selbst findet, und trotzdem die Verantwortung zu übernehmen. Was, wenn es vielleicht das Beste für mein Kind ist, es mit mir selbst zu verschonen?

 

C. Callies: Gesche, über deren alltägliches Leben wir nicht viel erfahren, die manchmal eher als Stichwortgeberin fungiert, sagt an einer Stelle: »Drei kleine Kinder, die mir ausgeliefert sind; selbstverständlich werde ich alles tun, um sie zu versorgen, morden würde ich für sie. Schon jetzt lösche ich mich täglich aus, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen, stehe auf, wenn sie nachts nach mir rufen, bleibe wach, bis sie wieder schlafen, ordne mich ein und unter, um ihnen ein sicheres Zuhause zu sein. Und würde niemals behaupten, dass das nicht auch mein Bedürfnis ist.« Fürsorge funktioniert also über Aufgabe der eigenen Wünsche und Bedürfnisse?

 

A. Stelling: Ja, aber natürlich in Maßen. Wie bei der Sauerstoffversorgung. Schließlich besteht Fürsorge auch darin, meinem Kind beizubringen, für sich selbst zu sorgen, und das kann es nicht lernen, wenn es das bei mir nicht sieht. Aber ein Zusammenleben bedeutet immer auch Un­terordnung und Verzicht, ein Aushandeln, wer wann dran ist mit seinen Wünschen. Ungebremste Selbstverwirklichung macht einen genau so einsam, wie stetige – und erst recht festgeschriebene – Unterordnung einen verkümmern lässt. Ich kann sagen: »Okay, das ist jetzt halt nötig.« Aber ich muss dabei ein Gefühl für mich selbst bewahren, um auch sagen zu können: »Okay, und jetzt reicht's, jetzt muss dann mal wer anderes ran.«

 

C. Callies: Nadja ist Gesches Pendant – als Künstlerin, als Ballerina, die das Kind bei ihrer eigenen Mutter aufwachsen lässt – und erst nach sechzehn Jahren wieder vorbei schaut. Ist das ein Klischee – die Künstlerin als Genie, die Autonomie braucht für ihr Schaffen, die Freiheit von Zwängen benötigt? Ist man als Künstler Egozentriker?

 

A. Stelling: Es sind eben zwei Klischees, deren jeweilige Prämissen keine lebbare Konklusion zulassen: die komplett autonome Künstler- und die komplett fremdbestimmte Mutterfigur. Diese Absolutheit und damit Trennung dient nach meiner Ansicht vor allem der Arbeitsverteilung und wird deshalb von denen, die's zufrieden sind, verteidigt. Was sich im Literaturbetrieb zum Beispiel darin zeigt, dass immer noch und immer wieder in Frage gestellt wird, ob Reproduktion als Stoff überhaupt »literaturfähig« sei – oder nicht doch in die Ratgeber – oder zumindest »Frauenbuch«-Ecke gehöre. Ich spüre die Wirkung der Klischees aber auch von innen. Die Radikalität, mit der ich als Künstlerin meine Perspektive, meine Weltsicht absolut setze, beißt sich auch mit meinem Bild einer sich selbst liebevoll zurücknehmenden, alle Bedürfnisse und Perspektiven gleichermaßen berücksichtigenden Mutter. Schreiben hat etwas Brutales. Mir wurde das klar, als ich mich mit dem Bild der literarischen »Zuspitzung« beschäftigt habe. Ich schnitze da Waffen, die andern eventuell wehtun werden. Virginia Woolf hat das so ausgedrückt: Um zu schreiben, müsse man »den Engel im Haus töten«. Sanftmut, Ausgewogenheit und allumfängliches Verständnis helfen dem Text in der Regel nicht weiter, der braucht Zuspitzung, Schärfe und Entschiedenheit, und die muss man sich erstmal erlauben. Die trifft im Ernstfall auch die eigenen Liebsten.

 

C. Callies: Wie empfindest Du das persönlich: Gehen für Dich Care­arbeit und künstlerische Arbeit zusammen? Oder vor welche Herausforderungen stellt es Dich?

 

A. Stelling: Um es wieder mit Virginia Woolf zu sagen: Ich habe glücklicherweise ein Zimmer für mich allein, in dem es mir auch gelingt, den Engel zumindest zeitweise auszusperren.
  Ich lebe in Ostberlin, wo es Kitas und Ganztagsschulen gibt, die Carearbeit übernehmen, sowie mit einem Mann zusammen, der das ebenfalls selbstverständlich tut.
  Der andere Aspekt, das Töten des Engels, bleibt eine Herausforderung und Teil der täglichen künstlerischen Arbeit. Aber das bezieht sich natürlich nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf die Sorge um mich selbst. Künstler*innen, die nicht trinken oder andere Drogen brauchen, denen es gelingt, sich um ihre körperliche und seelische Gesundheit zu kümmern und gleichzeitig ihre Scharfsicht und Unerbittlichkeit bei der Produktion zu behalten, sind große Vorbilder für mich.

 

C. Callies: Zurück zum Roman: Nadjas Verhalten gegenüber ihrem Sohn ist der Leserin, dem Leser gegenüber eine Provokation, ein Tabubruch. Ist das Vergewaltigung? Zudem diese Passagen über den Sex zwischen Mutter und Sohn sehr detailliert und intensiv sind. Welche Reaktionen hast Du auf dieses Buch erlebt?

 

A. Stelling: Es ist in der Tat ein größerer Tabubruch, als ich geglaubt habe. Es war schwer, das Buch zu veröffentlichen. Es gab eine Lektorin, die meinte, sie würde im Gegenteil alles tun wollen, um zu verhindern, dass es erscheint. Es gibt Männer, die bei Lesungen schimpfen, dass das doch nur gehe, weil die Frau der Aggressor sei, und das sei mal wieder typisch. Es gibt aber auch viele, die die Sexszenen mögen, die der Be­schreibung von Körperlichkeit, von der Beschaffenheit von Oberflächen und wie sie in Berührung geraten, etwas abgewinnen können.

 

C. Callies: Gesche denkt über Entwicklungspsychologie nach, darüber, dass die Ich-Werdung des Kindes und seine Erkenntnis, dass andere anders denken und empfinden als es selbst, äußerst schmerzhaft sind. Über die sogenannte »Theory of Mind« also. Könnte man sagen, diese Überlegung spiegelt sich in diesem sexuellen Kampf, möchte ich es mal nennen, zwischen Nadja und ihrem Sohn Mario wieder?

 

A. Stelling: Ja, ich glaube, dass Sex was mit Verschmelzung und Einswerden zu tun hat. Dass das einer der Gründe für seine Attraktivität ist. Dieses Einswerden mit dem eigenen Kind zu reinszenieren, ist selbstverständlich ein Tabubruch. Dafür plädiere ich ja auch nicht, aber mir wurde dadurch klar, dass Schwangersein, Geburt und Säuglingszeit mehr mit Sex zu tun haben, als ich mir vorher eingestehen wollte. Weil das für mich eben auch ein Tabu war.

 

C. Callies: Wenn ich Nancy Hüngers Essay in dieser POETIN-Ausgabe lese, scheint es mehr Gründe zu geben, keine Kinder zu bekommen, als welche zu bekommen. Gesche hat zwei Antworten darauf: »Meine Kinder sind meine Hoffnung, sind mein Beitrag zum Fortbestand der Menschheit. Ich hätte es auch sein lassen, nur mich selbst ins Rennen werfen können. Aber ich wollte, ich hoffe auf mehr.« Worauf hofft man als Vater oder Mutter?

 

A. Stelling: Auf Sex – nein, Scherz. Ich glaube, dass Fortpflanzung, Familiengründung immer auch eine Art Heilsversprechen ist. Neue Menschen, eigene Nachkommen, ist das nicht eine irre Verheißung? Leute, die mich selbstverständlich lieben, die mir nahe sind, die mir gleichen. Eine eigene Bande. An mich gebunden. Und dann – na ja. Dann stellt sich raus: Es ist wie immer beides. Wahr und falsch. Schön und grausam.

 

C. Callies: Gesche definiert sich über die Mutterrolle: »Ich weiß nicht, was meine Kinder in mir sehen. (…) Dabei bin ich gerne ihre Mutter. Erstens haben sie keine andere, und zweitens definiert es mich mehr als alles andere.« Wie sehr verändert einen die Mutterrolle? Wie sehr nimmt es Raum ein im Selbst?

 

A. Stelling: Erstmal gibt sie mir einen festen Platz in der Gesellschaft. Als Frau keine Kinder zu bekommen, ist immer noch rechtfertigungsbedürftig. Bei uns vielleicht nicht mehr so sehr – in anderen kulturellen Zusammenhängen schon. Wieviel leichter es ist, mit Roma und Romnija aus Ost-Ungarn in Kontakt zu kommen, wenn ich die Kinder – oder zumindest Fotos von ihnen – dabei habe! Ich bin selbst anfangs dem Trugschluss erlegen, als Mutter mit andern Müttern automatisch eine Gruppe zu bilden. »Oh, so viele Gleichgesinnte!«, hab ich mich gefreut. Was natürlich Quatsch ist. Aber auf der ersten Ebene verbindet es schon. So, wie Hunger haben. Oder Kätzchen süß finden. Oder Schutz suchen, wenn es irgendwo knallt.

 

C. Callies: Fürsorge ist voller Bonmots, voller theoretischer Überlegungen zum Thema Elterndasein. Besonders oft wiederholen sich die Sätze: »Eure Kinder sind nicht eure Kinder« und »Deine Mutter ist deine Mutter«. Wie stehen sich diese beiden Sätze für Dich gegenüber?

 

A. Stelling: Der erste Satz ist ein Zitat aus Kahlil Gibrans Der Prophet. Der ist Mahnung und Trost zugleich, wenn's um die leidigen Erziehungsfragen und das Nähe-Distanz-Problem geht. Der kann, wie es sich für prophetische Sätze gehört, das Denken und Fühlen und Handeln erweitern – während der andere Satz mehr so freudsch und ziemlich beklemmend ist. Eine verkürzte, vielleicht nicht ausgesprochene, aber wirkmächtige Schuldzuweisung: Auf die Mutter kommt's an, die ist der Nährboden. Ob aus dem Kind was wird, liegt in der Hand der Mutter. Wenn die Kahlil Gibran nicht kennt, na dann: Gute Nacht.

 

C. Callies: Die Körperlichkeit spielt eine große Rolle in dem Roman – bei Frauen wie bei Männern. Wie nehmen sie sich wahr? Wie fordern sie ihren Körper? Gesche selbst beschreibt sich als dick, als verfressen, als faul. Wie verändert sich die Selbstwahrnehmung auf sich selbst – gerade auch mit Kindern?

 

A. Stelling: Na ja, wo ich gerade von Nährboden sprach – Gesche kriegt die widersprüchlichen Anforderungen nicht gut zusammen. Attraktiv im Sinne von jugendlich, trainiert, fuckable – wie es neudeutsch heißt – zu bleiben und gleichzeitig schwanger, gebärend, nährend durch die Welt zu laufen. Sie träumt von Gebrauchtwerden und Unabhängigkeit zugleich, auch körperlich. Nach meiner Erfahrung erweitert das Kinderkriegen das eigene Körpergefühl, spürt man die Fähigkeiten und Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers ganz ähnlich wie beim Sport. Aber das Bild, das der Körper abgibt, ist ein Problem: Gesche sieht zu sehr nach Mutti aus. Sie hat kein dickes, faules Vorbild, wenn's um Sex geht. Sex, zumindest selbstbestimmten Sex, haben junge, gestählte Körper. In den dicken, weichen Körper vergräbt sich höchstens das Kind. Also geht da was – wenn man den Bildern erliegt – nicht zusammen.

 

C. Callies: Gerade auch im Roman Bodentiefe Fenster schreibst Du vom Leben mehrerer Familien in einem Gemeinschaftshaus. Alle Frauen darin kämpfen um den Widerspruch zwischen dem familiären Alltag und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung. Die Feministin Laurie Penny nennt das: »Wir leiden unter dem Fetisch der Individualisierung.« Kannst Du diesem Widerspruch etwas abgewinnen?

 

A. Stelling: Ja, der ist ein Riesenproblem. Er löst sich aber auf, wenn ich Selbstverwirklichung eben nicht mit grenzenloser Freiheit gleichsetze. Wenn zu meiner Selbstverwirklichung Kinderkriegen dazugehört, gehört halt auch die Sorge für sie dazu. Weshalb dann Windelnwechseln Einzug in mein Schreiben hält, und mein Schreiben mich vom Windelnwechseln abhält, und das wiederum auszuhalten, ist dann die nächste Stufe meiner Selbstverwirklichung. Das Leid tritt doch vor allem ein, wenn sich der Erfolg meiner Individualisierung an der Abgrenzung oder sogar Herabsetzung von anderen misst.
  Wenn die Frauen im Gemeinschaftshaus sich wirklich zusammengetan hätten beim jeweils individuellen Muttersein, anstatt im Vergleichen, sich Belauern und Gewinnenwollen steckenzubleiben, wäre das bestimmt richtig gut geworden. Aber sie schaffen's nicht. Weil man dazu auch das ständige Versagen, den Neid, die Wut und die Missgunst offen mit einbringen muss – und das ist furchtbar unangenehm und scheint vor allem riskant. Die Chance, die darin liegt, gilt es zu erkennen und zu beschützen. Ich versuche es, indem ich schreibe.

 

C. Callies: In Deinem neuesten Roman Schäfchen im Trockenen erzählt die Schriftstellerin und Mutter Resi von vier Kindern in losen Sequenzen, Notizzetteln, Briefen, Listen, Ratschlägen, in sprunghaften Erinnerungen quer durch die Zeit von Freunden, den Eltern, dem Nachwuchs – zwischen Milchpulver und Zahnspangen, zwischen »Fang mich doch, du Eierloch« und Brotdosen eine Geschichte über den Verlust von alten Freundschaften, wenn die Zeit des Eigenbaus und Eigentums angebrochen ist. Über finanzielle Engpässe, wenn man mit den Kinder in den Herbstferien nicht in Urlaub fährt. Wie das Gefühl entsteht, gesellschaftlich und finanziell abgehängt zu sein. Wie erlebt Resi die Gefahr des Prekariats durch die Doppelherausforderung von kreativer Arbeit und Kindern?

 

A. Stelling: Man kann regelmäßig lesen, dass Kinderkriegen das Armutsrisiko erhöht. Und in der Statistik der Künstlersozialkasse kann man lesen, was die Künstler und Künstlerinnen im Schnitt so verdienen. Aber wer sieht sich selbst in einer Statistik? Und auf welcher Position? Kann ja auch sein, dass das Kind der neue Jay Z wird. Oder man selbst die nächste JK Rowling. Resi merkt vor allem, wie wenig sie bisher, all die Jahre hindurch, über Geld und die damit verbundene Macht oder Ohnmacht nachgedacht hat. Und fragt sich, woran das wohl gelegen hat – Arroganz? Alternativer Lebensentwurf? Abwehr?

 

C. Callies:: »Das muss man sich vorher überlegen, ob man sich die Kinder leisten kann« – heißt es an einer Stelle im Roman. Also: Kinder muss man sich finanziell leisten können. Schreiben als Arbeit und Beruf begreifen – das muss man sich aber auch leisten können, oder?

 

A. Stelling: Ja, bestimmt. Resi nimmt sich in doppelter Hinsicht einiges heraus. Hat's nicht durchgerechnet, vorher, ist dem Leitsatz gefolgt, dass es schon irgendwie gehen wird. »Wo eins satt wird, werden auch vier satt«, heißt dieser Satz zum Beispiel, oder »Der Sinn der Arbeit ist wichtig, nicht die Bezahlung.« Der Roman erzählt davon, wie die widersprüchlichen Leitsätze sich irgendwann verheddern, wie zwischendurch oder nach und nach eben doch auch die Sehnsucht nach finanzieller Absicherung aufscheint, der Neid auf Erbenkinder oder die Reue über den vor Jahren eingeschlagenen Weg.

 

C. Callies: Poetologisch scheint Dein Text mit offenen Karten zu spielen: »Genau deshalb ist das hier das Gegenteil eines gut gebauten, elegant komponierten Romans« – schreibt Resi. Ist das Lose (oder das Lose wirkende) zur Poetik von Resi geworden?

 

A. Stelling: Weil sie die Erzählerin ist, hab ich versucht, Resis Gemütszustand auch formal zum Ausdruck zu bringen. So wie ihr der Alltag entgleitet, entgleiten ihr Erzählstränge, so wie sie zu neuen Schlüssen gelangt, fügt sich auch Handlung wieder zusammen. Als Aufsteigerkind hat Resi Sehnsucht nach dem bürgerlichen Roman und nach dem bürgerlichen Leben – und ist zugleich dabei, sich von beidem zu emanzipieren. Zu merken, dass ihr Roman viel aufregender ist als einer, der ständig auf seinem Stammbaum und damit auf Referenzen aus dem vorletzten Jahrhundert beharrt.

 

C. Callies: Ist es laut Resis Satz: »Kunst ist die einzige Möglichkeit, den Widerspruch fest- und auszuhalten« nicht sogar zu vermuten, dass Elterndasein und künstlerisches Dasein sich gegenseitig auf herausfordernde Art befruchten?

 

A. Stelling: Das vermute ich, ja. Das Leben in möglichst vielen Facetten, und die Kunst als eine Form des Zugriffs darauf. Das ist Reichtum. Das ist ein Riesenprivileg.

 

C. Callies: »Wie schaffst Du das?«, würde ich Dich, liebe Anke, am Schluss am liebsten noch fragen (eine Frage, über die sich Resi zu Recht beschwert), lasse es aber natürlich und danke Dir sehr herzlich für das Gespräch!

  Dieses Gespräch
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zum Thema in poetin nr. 25

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Carolin Callies    2018       

 

 
Carolin Callies
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