poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Christoph Wenzel – Archiv

zeit aus der karte (Rimbaud Verlag 2005)

MIT DEM KOMPASS liest du
die zeit aus der karte

eine in die fläche formatierte welt
geglättetes flachland darüber ein fingerzeig

auf einen ort in der falte
der verschwindet im klappen des plans

zwischen den rändern das standbild einer landschaft
aus papier und projektion

liegenschaften im staub unter dem auge
verblassen die farben der straßen und pfade

im licht unter der hand wird orientiert
bis nichts mehr geht

ein richtungsvektor deutet vage zum ziel
jenseits des ausschnitts

bei konstanter geschwindigkeit
läßt sich der weg dorthin

in sekunden beschreiben

ERSTE UND LETZTE ZEILE: bordsteine
am rand und flüchtige schienen im straßennaß

dazwischen ein bildbruch provoziert
die klirrende kälte im wind

geraten die metaphern schief
der schneelose winter –

ein unbestelltes feld der witterung
ein undeutliches wetter alles

nur abgebrochene versuche
eine jahreszeit zu beschreiben

an den rändern die ausläufer
eines tiefs – die eisheiligen:

ein kollektiv kalter tage das drängt sich
in den folgemonat der frost

hat seine bildsprache: eine plane
glashaut über den versen

legt den regen einen film auf eis
und alle zeichen stehen

auf stumm

DIE GRAMMATIK DER GLEISE
ein strenges regelwerk

von norm und verspätung
die typographie der differenz

etwa 30 minuten später
kommst du an

und bist schon nicht mehr
abkömmlich von hier

die weiteren anschlußmöglichkeiten
entnehmen wir den örtlichen

durchsagen beim verlassen
der zeit

IM TIEFSCHLAF liegt der letzte tag in bildern wach
diese nachsendung: eine montage aus ungereimtem

ein wirres protokoll des ungefähren wovon du erzählst
und ein begriff von gestern liegt dir noch auf der zunge

im erwachen atmest du tief ein und schnappst
mit den ersten augen schon nach licht

im verdunkelten zimmer durch die tür
hörst du die stimmen vom vortag reden:

ein kopiertes gespräch auf du und du in falschen zitaten
im strecken stemmst du die arme vergeblich gegen deinen schlummer

und während noch mal nacht wird über geistes gegenwart
schläfst du im licht mit mir

eine geschätzte stunde etwa wieder ein

ein SCHEINRIESE: der mond
sitzt dir im nacken und läßt nicht locker

den rückspiegel verstellst du
die linke hand am steuer

um zu sehen wer dir sonst noch folgt
aus kurzer distanz ein doppelmond

deckt sich mit den kreisen deiner pupillen: verdoppelung
auf dem glas das bild zweier scheinwerfer wie satzzeichen

im intimen inneren des fahrzeugs
vor dir der unterbrochene mittelstreifen

kommata zwischen den fahrbahnen
und hinter dir noch das gestreute fernlicht

eines trabanten

jüdisches museum, berlin

sternbruch: in der stadt
schlägt der blitz achsen
unter einen himmel in das fundament

frakturen der geschichte
hier ein bau von winkeln und
wundem gedächtnis

ein weg in hoffmanns garten: eine straße
ins exil eine andere zum turm
einbahnstraßen sind hier

und immer wieder sackgassen die im
toten winkel münden
eine treppe führt hinauf ins leben

between the lines jahrhunderte von schrift
und unterirdisch passagen
durch den kreuzberg

 

 
Christoph Wenzel
Lyrik