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10 Zu den Kolumnen

Rien ne va plus beim Bachmannpreis 2006
Qual der Wahl oder „Wahl der Qual“?

Iris Radisch' Topfavoritin war sie nicht. Dafür stimmten im ersten Durchgang fünf Juroren für Kathrin Passig, die damit den Bachmannpreis 2006 gewann. In einem Interview nach der Preisverleihung verriet Iris Radisch freimütig, dass sie Kathrin Passigs Text Sie befinden sich hier im Vorfeld zwar gelesen hatte und auch lustig fand, ihn aber unter zweihundert Bewerbungen nicht als den künftigen Siegertext erkannt hatte. Daniela Strigl umso mehr, auf deren Einladung hin die frischgebackene Autorin in Klagenfurt las. Frischgebacken trifft nur zum Teil, und zwar den literarischen. Als Sachbuchautorin fiel Passig zusammen mit Ira Strübel auf. Erfolgreich, kann man sagen, wenn man als Gradmesser die zweite Auflage des Buches „Die Wahl der Qual. Handbuch für Sadomasochisten und solche, die es werden wollen“ nimmt.

Kathrin Passig selbst fällt, wenn überhaupt, nur durch Understatement auf. Kleidung sportlich-burschikos, T-Shirt mit Firmenaufdruck, Augen niedergeschlagen oder am Gegenüber vorbei blickend. Beim Interview gibt sie schelmisch lächelnd zu, dass der Siegertext ihr erster literarischer Versuch überhaupt sei. Sie habe im vergangenen Jahr den Klagenfurter Wettbewerb verfolgt und sich gedacht, das versuchst du auch mal. Wie sie denn auf das Thema mit dem Erfrieren im Schnee gekommen sei? Nun ja, zuerst einmal sei ihr klar geworden, was sie nicht schreiben wollte: Beziehungskram, Liebesgeschichten. Und da sie in letzter Zeit viele Bücher über Expeditionen ins Eis gelesen hätte, wäre das Thema nahe liegend gewesen.

In der Begründung der Jury war von einem makellosen Text die Rede. Das mag sogar stimmen, nur spricht Makellosigkeit nicht immer für, sondern manchmal auch gegen etwas. Wenn sie zum Beispiel gleichgesetzt wird mit glatt oder konstruiert. Schon der erste Satz verrät die sprachlichen Wurzeln der Sachbuch-Autorin: „Wenn man im Winter in eine missliche Lage gerät, weil es beispielsweise früher dunkel wird als gedacht, Schneetreiben einsetzt oder man den Weg verloren hat, gibt es zwei Möglichkeiten.“ Es geht im Ton einer Gebrauchsanweisung weiter. Erstens, zweitens. „Die Frage, was zu tun ist, wenn beides nicht zutrifft, wird in der Literatur höflich ausgespart.“ In welcher Literatur? In Bergsteiger-Führern? In Abenteuerbeschreibungen? Und dann auch noch höflich. Als ob Literatur mit moralischen Kategorien handeln würde. Natürlich weiß Kathrin Passig sehr wohl, was sie hier schreibt und warum. Sie spielt mit der Sprache, mit dem Thema. Die Ironie des Textes ist doppeldeutig. Hier geht es nicht allein um einen Erfrierenden, der sich über sich selbst lustig macht. Hier blinzelt hinter jedem Satz der Schalk der Kathrin Passig hervor, als wollte sie der Jury und dem Auditorium zurufen: selber schuld, wenn ihr das hier für bare Münze nehmt.

Wenn nicht bare Münze, dann ist es Spielgeld. Von Spielgeld aber sprach allein Iris Radisch. Sie war es auch, die zugab, lieber als altmodisch zu gelten, als pseudoliterarischen Konstrukten zu applaudieren. Ihr Herz schlage für gewachsene Sprache und Themen, die das Leben vorgibt, wie in Norbert Scheuers Text Überm Rauschen. Und ich füge hinzu, dass meine Favoritin Angelika Overath war und bleibt. Dass ihr für den Beitrag Das Aquarium der Ernst-Willner-Preis zugestanden wurde, spricht am Ende doch für diesen Wettbewerb, der nicht der Preise wegen, sondern als Plattform wichtig ist, die er jungen Autoren bietet. Angelika Overath hat ihre literarischen Fähigkeiten bereits eindrucksvoll im Roman Nahe Tage belegt. Ob wir von Kathrin Passig nächstens mehr Literarisches erwarten dürfen, hängt davon ab, ob sie die am Klagenfurter Spieltisch eingeheimsten Jetons in klingende Münze umwandeln kann.

Angelika Overath | Nahe Tage
News zum Bachmannpreis 2006

© 26.06.2006  Dorothea Gilde            Print

Dorothea Gilde
Interview