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Thomas Kling

gesammelte gedichte

Ein Nachruf zum ersten Todestag

Thomas Kling
gesammelte gedichte
Hrsg. von Marcel Beyer
und Christian Döring
Köln: DuMont 2006

Weinreben bluten aus...

wenn man sie im Frühling zu spät schneidet. Der dies wie nebenbei bemerkt, ist Johann Lippet,1 während er mit Thomas Kling durch die Weinberge rund um Edenkoben2 spaziert. Interessiert horcht Kling auf und zieht ein Notizbuch aus der Tasche. Das ist mein „Sprachspeicher“, schmunzelt er und notiert den Satz vom Ausbluten.

aber die sprache,
aber die sprache,
aber die sprache,

dies ständige, ständige,
vollständige fragment3

Ich kenne einen, der ihn gekannt hat ... Ist dies nicht der klassische Nährboden, auf dem Legenden wachsen? Vor einem Jahr starb Thomas Kling, „die brennende Bibliothek“. Vielleicht wird die kleine Episode von oben irgendwann zur Legende. Noch hat sie Anekdotencharakter, aus erster Hand erzählt. Von Johann Lippet, der Thomas Kling in Edenkoben begegnet ist. Seine Erinnerung an jene Tage im Spätsommer 1998 hat er für diesen kleinen Nachruf freigegeben.

Ich kannte alle worte
für kralle, magen, mund und kopf.
für bärenkralle, bärenmagen,
bärenzungenspitze,
für meinen bärenkopf.

die kenn ich nun nicht mehr.
die brauch ich nun nicht mehr.

Der Wort-Winzer Thomas Kling ist tot, doch sein Weinberg liegt als enormes poetisches Werk vor uns. Der Sprachspeicher ist voll, der Sprachschatz, den Kling gehoben hat, muss ausgewertet werden. Von all jenen, die ihn gekannt oder nicht gekannt haben, die ihn schon immer gelesen oder noch nie gelesen haben. Die ihn jetzt erst entdecken. Für alle wird es viel Arbeit geben, begleitet von Klings Working Song:

von eisen der bach,
und wie er uns antrieb!
antrieb, flüssig, das mühleisen, das uns begleitet.

knirschend der stein, knirschend begleitender stein.

und die mühle sprach.
sprang.

ihre mühlensprache sprach sie: flüssig,
in zerkleinerungsform.
sprach wie im rausch.

DuMont brachte jetzt die „gesammelten gedichte“ heraus, einen kompakten Band von fast tausend Seiten. Schön aufbereitet, mit Lesezeichen, auf feinem Papier, wo man die Seiten auch mal drehen muss, um manche Gedichte im Querformat zu lesen. In den Botenstoffen schrieb Thomas Kling zu Ingeborg Bachmann: „Lest ihre Prosa, mit wem sie wann schlief, daß sie nach drei Bissen wieder rauchte, sodann ihre Kippe im Spiegelei ausdrückte – vergeßt das, lest ihre Schriften.“ Dieses Zitat versteht sich hier als Aufforderung und Paraphrase auf Thomas Klings Gedichte selbst.

1Johann Lippet – Autor, in Heidelberg lebend.
2Das Künstlerhaus Edenkoben – ein Ort der Begegnung für Dichter, Schriftsteller, Übersetzer, Bildende Künstler, Musiker und für ein literatur- und kunstinteressiertes Publikum.
3Alle zitierten Gedichte sind dem vorliegenden Band entnommen: Thomas Kling, gesammelte gedichte, DuMont 2006.

Thomas Kling, geboren 1957 in Bingen, lebte in Düsseldorf, Wien, Finnland und Köln. Zuletzt wohnte er auf der Raketenstation Hombroich in der Nähe von Neuss. Thomas Kling verstarb am 01. April 2005.

Zettel über Thomas Kling im Poetenladen

© 14.04.2006  Dorothea Gilde            Print

Dorothea Gilde
Interview