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Das Schwanken der Erinnerung

André Schinkel im Gespräch mit Dirck Weinreich

André Schinkel erhielt den Joachim-Ringelnatz-Nachwuchs­preis aus der Hand von Wolf Biermann und war zuletzt Stadtschreiber von Ranis. Soeben ist sein Lyrikband Gedächtnis­schutt (Zeit­zeichen, 2008) erschienen. Es ist sein letzter Versuch, ein Lyrikbuch – als Zyklus – am Stück zu verfassen.

 

Dirck Weinreich: Herr Schinkel, wann haben Sie angefangen zu schreiben?

André Schinkel: Im Sommer 1987, aus Liebeskummer, natürlich. Seit 1989 etwa weiß ich, daß ich es nicht mehr lassen kann. Vor 1987 hatte ich in einer Art kindlichen Leichtsinns zwei Tierbücher konzipiert und mich jahrelang mit dem Zusammentragen einer möglichst vollständigen Artenliste der Vögel beschäftigt. Ich wußte noch nicht, daß die Menschen das Ziel meiner Erhebung sein würden. Ich dachte in jenen Jahren, daß es glimpflicher ausgeht.

D. Weinreich: Wie sehen Sie heute im Rückblick die DDR?

A. Schinkel: Als die Herkunft, die ich nicht verleugnen kann wie jeder Hineingeborene. Es gelten im Hinblick auf die DDR ja grundsätzlich nur noch zwei Sichtweisen: die ihrer Verklärung oder jene ihrer Verdammung. Es ist beides falsch. Ich erinnere mich an wunderbare Augenblicke, ja, und Geborgenheit, aber auch an die staubige Drögheit und die notorischen Zweifel an der »Sache« in der Jugendzeit. Ich nenne das: Das Schwanken der Erinnerung. Einer meiner Großväter war ein durch die Schrecken des Krieges geläuterter und rechtschaffener Sozialist, der andere ein Vertriebener, der für den Rest seines Lebens unter diesem Umstand litt und sich redlich in Arbeit vergrub. Redlich waren sie beide, und sie haben beide den Wandel nicht oder kaum noch erlebt. Zwischen diesen Polen liegt mein DDR-Erlebnis. Ich kann und will es nicht missen oder verdrängen.

D. Weinreich: Gab es Bücher, die Sie als Kind besonders beeindruckt und Ihr eigenes Schaffen beeinflußt haben?

A. Schinkel: Ich habe jahrelang Tier- und Märchenbücher verschlungen. Später die üblichen Verdächtigen: Robinson Crusoe, Tom Sawyer. Was mich direkter beeinflußt hat, kam erst viel später: Hilbig, der Expres­sionismus, die früheren Meister. Der Beginn meines Schreibens liegt in einem autistischen Dunkel – er nährte sich zunächst aus meinem Zorn und meiner Ratlosigkeit. Ich hatte einige Jahre keine Zeit zu lesen. Weil ich schreiben mußte.

D. Weinreich: Und woher kommen heute Ihre Inspirationen fürs Schreiben?

André Schinkel | Loewenpanneau
André Schinkel
Löwenpanneau
Neue Gedichte
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2007
 
A. Schinkel: Natur und Musik. Der eigene Urgrund der Trauer, was sonst. Liebe. Freundschaft. Und naja, die jahrelange Beschäftigung mit Literatur provoziert auch ihre Zurkenntnisnahme. Ein viel wichtigere Inspiration ist indes die Archäologie. In ihr ist der Roman der Menschheit bis in die Gegenwart nachlesbar. In der existentiellen Literatur sind immer die großen Dinge durch den Filter der Persönlichkeit gedrückt; oft ist es das Tragische, im Kleinen wie Großen, das einen umtreibt. Ich lerne aber auch zunehmend das Schöne zu sehen und darüber zu befinden. Das ist neben der Fäulnis, die diese Zeit darstellt, etwas Tröstliches: daß man sich nach und nach der möglichen Facetten entsinnt. Das hilft so manche Schmerzelei an der Welt zu überwinden.

D. Weinreich: Welche Kindheitserlebnisse waren für Sie besonders nachhaltig?

A. Schinkel: Die schwierige Begegnung mit meinem Vater, seine Verlorenheit und aggressive Unerreichbarkeit. Ich habe erst lange nach seinem Tod etwas von der Tragödie seines Lebens begriffen. Leider wiegt das die Verluste in der Kindheit nicht auf. Ich bin in der Bewältigung dessen auf mich allein gestellt.

D. Weinreich: Schreiben Sie jeden Tag, wenn Sie zu Hause sind?

A. Schinkel: Als gebürtiger Lyriker kann ich das nicht. Ich kann, wenn ich etwa redaktionell arbeite, jeden Tag mit Murren mein Pensum schaffen ... aber in der Lyrik ist das unmöglich. Stellen Sie sich vor, jeden Tag murrend an 3- oder 4-hebigen Jamben herumschnitzen zu müssen! Es gibt hochkreative Phasen, in denen zehn Texte oder auch nur einer entstehen können, zwischen diesen aber liegt die ganze Arbeit oft und lange verschüttet.

D. Weinreich: Denken Sie, daß das Schicksal es gut gemeint hat in Ihrem Leben?

A. Schinkel: Ja und nein. Die Prüfungen, die mir das Schicksal auferlegt hat, sind unauslöschlich, teils auch sehr schmerzhaft. Aber sie bedingen zugleich meine Kreativität und die Momente des Glücks in meinem Leben.

D. Weinreich: Herr Schinkel, wenn Sie zurückblicken: Gab es in Ihrer Jugendzeit Hoffnungen, die Sie später begraben mußten?

A. Schinkel: Viele. Ich hatte lange gehofft, ein guter Mensch zu werden. Aber das ist Quatsch. Eine Reihe Träume und Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, nicht selten diejenigen, die man mit besonderer Inbrunst verfolgt hat. Ich bin sowieso nicht sehr hoffnungsfroh, versuche aber zunehmend, mit der Desillusion umzugehen. Ja, und ich wäre gern Archäologe geworden ... ach nein, das bin ich ja geworden!

D. Weinreich: Gibt es einen Platz, an dem Sie am liebsten schreiben?

A. Schinkel: Ja, dieser Ort ist momentan aber unerreichbar. Ich brauche eigentlich keinen speziellen Ort zum Schreiben, es gibt aber immer Gegebenheiten, unter denen man sich das Schreiben schöner vorstellt, konfliktärmer.

D. Weinreich: Waren Sie als Kind eher ein Einzelgänger?

André Schinkel | Gedächtnisschutt
André Schinkel
Gedächtnisschutt
Präludien und Gedichte
Zeitzeichen, Un Artig 2008
 
A. Schinkel: Ich war lange, wenn es das gibt, eine Art geduldeter, zeitweise wohl auch leidlich beliebter Sonderling. Meine Interessen waren schon damals ungewöhnlich, mich interessierten beispielsweise spezielle Probleme der Zoologie stärker als Fußball. Ich hatte immer ein paar Freunde, gottlob, und eine mittlere Riege Kumpel. Geselligkeit und eine dosierte Lebensfreude sind nicht unbedingt ein Schrecknis für mich.

D. Weinreich: Gehen Sie gern auf Lesereise?

A. Schinkel: Ja, ich mag es, Lesungen zu halten. Noch mehr liebe ich es, immer ein paar Lesungen in Aussicht zu haben. Das ist eine schöne Anwesenheitsübung. Außerdem ist das Gefühl, nachgefragt zu sein, mit diesen ja heute oft als abwegig betrachteten Dingen, sehr angenehm.

D. Weinreich: Der erste Satz hat für viele Autoren eine ganz besondere Magie. Bleibt der einmal gefundene Anfang stehen oder verändern Sie ihn noch?

A. Schinkel: Der erste Satz ist ein zentrales Problem beim In-Angriff-Nehmen und Bewältigen eines Textes. Meist steht er unverrückbar und nicht selten hinderlich vor dem, was noch zu sagen ist. Wenn ich beginne, ihn zu verändern, ist das oft ein Zeichen dafür, daß es eben doch nicht der erste Satz ist.

D. Weinreich:Brauchen Sie Distanz zu Ihrem eigenen Text?

A. Schinkel:Jeder Text muß sich früher oder später von seinem Erfinder entfernen. Veröffentlichen schafft Distanz. Oft sieht man erst dann, ob das, was man wieder verzapft hat, etwas taugt.

D. Weinreich: Gibt es besondere Voraussetzungen, Umgebungen, Situationen, die wichtig sind, damit Sie schreiben können?

A. Schinkel:Nein. Wenn man zum Schreiben verdammt ist, kann es einen immer und überall treffen. Ich habe schon an den unmöglichsten Orten geschrieben. In anderen, eigentlich kreativ ausgelegten, Phasen, ist oft gar nichts passiert. Ich habe gerade eine viermonatige Blockade hinter mir, glauben Sie mir, da hätte die beste Voraussetzung nichts genützt. Jetzt habe ich einigermaßen zu tun, da wird es vielleicht bald ein paar neue Gedichte geben.

D. Weinreich: Sie haben einen beeindruckenden Output. War es Existenzangst, die Sie so produktiv werden ließ?

A. Schinkel: Im übertragenen Sinne, ja. Es ging darum, mir selbst und meinen Sorgen auf die Schliche zu kommen. Die Welt kam da zunächst an zweiter Stelle, war oft Gegenstand meiner frühen Tiraden. Naja, es ist vielleicht keine so tolle Idee, seine Probleme mit so etwas vermeintlich Verlorenem wie der Kunst zu lösen. Mir erschien es – als Möglichkeit der Findung und zugleich Anderswelt – eine Zeitlang als sinnvoll. Und schimpfen kann ich immer noch ganz wunderbar. Ich habe jedoch auch gelernt, im Angesicht des Besonderen durchaus mal den Schnabel zu halten. Wo Schönheit herrscht, soll nicht geschimpft werden. Oder nicht gleich.

D. Weinreich: Welche Fragen werden von den Lesern am häufigsten gestellt?

A. Schinkel: Wie man dazu kommt, sich in diesen Abgrund des Schreibens zu begeben. Ich glaube, es steckt auch die Frage dahinter, warum man es nicht lassen kann.

D. Weinreich: Können Sie benennen, was Sie zum Schreiben treibt?

A. Schinkel: Diese Gier nach Anwesenheit. Neben der persönlichen Versehrtheit sind es die alten und immer gleichen Dinge, die mich antreiben: 1. der schöne Traum, damit etwas zu hinterlassen, 2. sich in die Illusion eines Gegenübers begeben, das – und sei es nur für einen Moment – diese Neigung mit einem teilt.

D. Weinreich: Ist der Vorgang des Schreibens bei Gedichten und Prosa gleich?

A. Schinkel: Ich hatte in den neunziger Jahren ausgeprägte lyrische und prosaische Phasen, die sich gegenseitig ausschlossen. Die Gedichte und die lyrische Prosa, die mir damals aus dem Kopf wuchs, waren unvereinbar, zwei Sachen. Das ist heute anders. In der Nähe des Gedichts kann ich sehr gut auch essayistisch schreiben, und die Prosa - sie ist heute nur zum Teil prosaischer als damals - knockt das Gedicht nicht mehr so rigoros aus. Ich bin überdies ganz froh über einen Fakt, der mit dem Auffächern der Möglichkeiten zu tun hat: daß ich seit einigen Jahren an einem Nachdichtungsprojekt beteiligt bin und daß es mir möglich ist, für Kinder zu schreiben. Nimmt man das Redaktionelle dazu, so hat sich die Zahl der Richtungen, in die ich arbeiten kann, mehr als verdoppelt.

D. Weinreich: Brauchen Sie die Anerkennung von anderen?

A. Schinkel: Ja. Sonst hätte ich das alles für mich behalten.

D. Weinreich: Was sind die wichtigsten Erfahrungen in Ihrem Leben?

A. Schinkel: Das Erlebnis der Liebe. Die Geburt meiner Töchter. Und daß ich in der Folge dessen etwas über den Stolz, die Verantwortung und die Demut begriffen habe. Die Begegnung mit einigen Menschen, bei denen ich das Gefühl habe, mich mit meinem Wesen und meiner Arbeit in ihnen zu spiegeln.

D. Weinreich: Können Sie sagen, Sie sind glücklich?

A. Schinkel: Jetzt gerade? Nein. Oder doch ...? Das müssen Sie mich morgen nochmal fragen!

D. Weinreich: Vielen Dank für das Gespräch.



Dirck Weinreich    03.10.2008

 

 
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