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Dirk Stolzenberger
Tian'anmen-Platz


Es ist kalt, weit unter Null. In den Neben­straßen von Sanlitun stehen die Taxis dicht beieinander. Die Fahrer sitzen, eingepackt in dicke Jacken, hinter den Lenk­rädern. Ein paar Ver­wegene treten vor ihren Autos von einem Bein auf das andere und rauchen. Sie stoßen weiße Kugelwolken in die Nacht. Die Motoren laufen. Eine vibrie­rende Schlange aus Blech in Rot und Gelb. Von Zeit zu Zeit setzt sich einer der Wagen in Bewegung, die Lichter zerschneiden die Dunkel­heit, der Geruch von Benzin, das sich entfernende Geräusch der Reifen auf dem Asphalt.
  Es ist Februar. Der Wind trägt kleine stechende Eisnadeln. Er riecht nach Abgasen, nach Metall, nach Großstadt. Er riecht nicht nach Schnee, denn die Winter in Peking sind trocken, nahezu schneelos, aber bitterkalt.
  Im Stadtteil Sanlitun ein Taxi zu finden, ist leicht. Besonders in den Stunden zwischen Mitternacht und Morgen­grauen, wenn die Touristen die Bars und Clubs verlassen, um in ihre Hotels zurück­zukehren. Aus überfüllten Räumen drängen Dunst und Lärm durch die Spalten der Eingangstüren. Ich schiebe mich an einer Gruppe aufge­kratzter Amerikaner vorbei, die in ihren Daunen­jacken aussehen wie eingewickelte Fische. An der Gehwegkante ein rotes Taxi. Durch die beschla­gene Scheibe eine Kontur, die mir vage zunickt. Ich steige ein und schlage die Tür schnell zu.
  Wärme umgibt mich, draußen ist plötzlich weit fort, wie ausge­blendet. Sitze auf der Rückbank, merke jetzt, wie müde ich bin, von der Nacht, den vielen Menschen, der lauten Musik, dem Rauch. Hier ist es endlich still.
  Eine Frauenstimme holt mich zurück. Die Fahrerin lächelt so freundlich, dass ich ihren Gruß gebrochen, verwirrt, in schlechtem Chinesisch erwidere. Blass im Streulicht der Straßen­beleuch­tung ihr Gesicht. Die schwarzen Haare, lose zum Zopf gebunden, fallen über die Kapuze ihres Anoraks, weiße, silberne Fäden darin. Um die Augen viele Falten, die mitlächeln. Umständlich, mit steifen Fingern, ziehe ich die Visitenkarte meines Hotels aus der Jacken­tasche. Sie knipst das Licht an, nimmt die Karte entgegen, betrachtet sie kurz, reicht sie mir dann zurück.
  Wie alt mag sie sein?
 
Sie schaltet die kleine Lampe über ihrem Kopf wieder aus, legt den Gang ein, fährt an.
  Vielleicht 50.
 
Eine Hand am Steuer, mit der anderen kippt sie das rote Plastikschild des Taxameters auf dem Armaturenbrett um. Die immer gleiche, mir verschlossen bleibende Ansage einer Frau aus der Box, begleitet vom hochfrequentigen Geratter einer Mechanik. Beides verstummt nach wenigen Augenblicken.
  Vorbei an den Lokalen, vereinzelte Schatten davor. Ich schiebe meine Hände unter die Ober­schenkel, die Polster sind kratzig. Der Wagen verlässt die Neben­straßen, fädelt sich mühelos in den um diese Zeit spärlich flie­ßenden Verkehr. Das Klick-Klack des Blinkers, das automatische Zurück­springen des Hebels nach der Kurve. Jetzt ein nahezu lautloses Dahinschweben auf fünf Spuren. Autos, die sich rechts und links vorbei­schieben, in Zeitlupe.
  Gerne würde ich vorne sitzen, ihr Gesicht während der Fahrt be­obach­ten. Im Rück­spiegel ihre Augen, konzen­triert auf die Fahr­bahn gerichtet. In den Pupillen fangen sich die Lichter der Stadt. Am Spiegel baumelt, aus roten Schnüren und Kunst­perlen, ein Glücksbringer.
  Die Fahrt könnte ewig dauern. Breite graue Asphalt­bänder, die über-, unter-, neben­einander fließen; sich vereinigen, sich kreuzen, sich teilen. Hochhäuser – dunkle Betonkuben mit Augen aus Glas. Glas, das die Nacht verschluckt, undurchdringlich schwarz. Selten: Glas mit Licht dahinter.
  Aus der Ferne das Klingeln des Handys. Ich öffne die Augen, muss kurz, für Sekunden nur, weg gewesen sein. Greife in die Jackentasche, doch das Handy rutscht mir aus Hand, verschwindet, flink wie eine Maus, unter dem Fahrersitz. Dort läutet es noch einmal, zweimal.
  Das Lächeln der Fahrerin im Rückspiegel. Ihre Hände umfassen das Lenkrad fest. Sie lässt das Auto ruhig und sicher zwischen den Lichtern hindurch­gleiten. Ich verrenke mich absurd bei dem Versuch, das Telefon mit angelegtem Sicher­heits­gurt unter dem Sitz hervorzuangeln. Bekomme nicht das Handy, dafür etwas anderes zu fassen: ein dünner Stoff, um Metall- oder Holz­stäbe gewickelt, auch ein Stück Schnur ist zu spüren.
  An der nächsten Ampel greift die Fahrerin kurz in den Fußraum, reicht mir das Handy über die Schulter, lächelt und fragt: Deutsch?
  Ich erstarre, bin plötzlich hellwach.
  Sprechen Sie Deutsch?
  Sie fährt an, schüttelt den Kopf.
  My brother in Dusseldorf, twenty years.
 Twenty betont sie mit zwei Fingern, was aussieht wie das Victory-Zeichen. Ich überlege, ob ihr Bruder nun seit zwanzig Jahren in Düsseldorf wohnt, vor zwanzig Jahren einmal da war oder zwanzig Jahre lang dort gelebt hat.
  You on holiday?
  Diesmal deutet ihr Zeigefinger nach unten, als hätte ich vorhin unter dem Sitz Urlaub gemacht.
  No holiday, I'm working.
  Ihre Aufmerksamkeit gilt jetzt ganz dem Verkehr, als wir auf die große Hauptstraße einbiegen. Zögernd ergänze ich:
  And a little bit holiday.
  Irgendwie dann doch auch. Sie freut sich.
  Trotz der späten Stunde viele Autos auf der endlosen Achse, die sich quer durch die ganze Stadt zieht. Fast ausschließlich Taxis, rot und gelb. Eine Brücke über eine kreuzende Schnellstraße, rechts und links zwei Bögen aus buntem Neonlicht. An einer Fassade das Schriftzeichen für Mensch, groß wie eine Linienmaschine.
  Sorry, what is it under your seat?
  Geht mich nichts an, denke ich und wünsche im gleichen Augenblick, die Frage nicht gestellt zu haben. Sie schweigt. Ihr Mund ein waagerechter Strich unter den starr auf die Fahrbahn gerichteten Augen.
  Dann, plötzlich, hellt sich ihr Gesicht auf. Sie sagt:
  Oh, I know what you mean, but I don't know in English.
  Sie lacht, denkt nach, dreht sich kurz um.
  If you want, I can show you.
  Wir passieren den Tian'anmen-Platz, sie biegt in eine Seitenstraße, verlangsamt, hält an, klappt das Schild des Taxameters nach oben und zieht unter ihrem Sitz das Ding hervor.
  You want try?, lächelt sie mich an.
  Wir steigen aus, der eisige Wind schlägt uns entgegen, überqueren einen asphaltierten Streifen, klettern über ein Geländer und stehen am Rande des unsagbar großen Platzes.
  Sie steckt Stäbe in Hülsen, fixiert Schnüre, prüft Längen.
  Die Weite des vollkommen leeren Platzes ist beängstigend. Im Schatten der Monumente, im Anthrazit der Steinplatten hat sich die Nacht festgesetzt. Die Stadt ist hier ein Nebel aus Geräuschen, das fluoreszierende Leuchten am Horizont.
  Der Wind reißt den Drachen sofort an sich, lässt roten Stoff knattern, wirft einen gelben Schweif aus dünnem Papier wie einen Blitz. Sie gibt Schnur von der Spule. Der Drachen steigt und steigt. Steigt so lange, bis er nicht mehr zu sehen ist, bis ihn das ferne Schwarz verschluckt. Sie lacht laut, stößt einen Freudenschrei aus. Sie hält den Himmel über der Stadt an einer Schnur fest.
 Dann drückt sie mir wortlos die Spule in die Hand. Ich spüre unver­züg­lich die Kraft, den Wind, wie er mich hinauf­ziehen will. Der Faden verliert sich in der Dunkelheit. Habe das Gefühl, dort oben zu sein. Ich lache, stoße einen wilden Schrei in die Nacht. Ich halte mich an einer Schnur am Himmel fest.
  Irgendwann liegt ihre Hand auf meiner Schulter.
  We must go.
  Sie nimmt die Spule, dreht sehr schnell daran, so dass die Kontur des Drachens über uns erscheint.
  Look!, sagt sie und weist mit dem Kopf zum anderen Ende des Platzes. Dort erkenne ich zwei Punkte, die sich direkt auf uns zu bewegen. Der Drachen reißt wütend an seiner Schnur, will sich nicht einfangen lassen. Doch sie dreht weiter, bis er plötzlich, mit der Schnauze voran, in einem Bogen auf den Stein­platten auf­schlägt.
  Die Punkte sind größer geworden. Es sind zwei Männer in Uniformen. Die Männer beginnen zu laufen. Sie nimmt meine Hand.
  Come!
  Auch wir laufen jetzt. Sie mit der Spule, ich mit dem widerspenstigen Drachen in der Hand, zwischen uns die unsicht­bare Schnur. Ich höre die Stiefel der Männer auf die Steinplatten schlagen. Wir klettern über die Ab­sper­rung, rennen auf die Nebenstraße zu, wo das Taxi steht. Immer wieder sträubt sich der Drachen, spannt die Schnur. Die Männer hinter uns rufen etwas. Wir erreichen das Auto, steigen ein, der Drachen zwischen Fahrer­sitz und Rückbank verkeilt. Sie startet sofort, gibt Gas, rast mit heulendem Motor die leere Straße entlang. Ich sehe die Männer bei der Absper­rung gesti­kulieren. Einer spricht in ein Funkgerät. Sie biegt ab, fährt Richtung Altstadt, biegt wieder und wieder ab, verwischt die Spur, bis sie schließlich auf einer großen Straße die Geschwindigkeit drosselt, das Licht einschaltet und das Taxameter umklappt.
  Höre jetzt ihren Atem im gleichmäßigen Rauschen. Wir tauchen im Strom, eines unter vielen Taxis. Im Rückspiegel kreuzen sich unsere Blicke, sie stößt Luft aus, beginnt zu lachen. Auch ich muss lachen, kann eine ganze Weile nicht aufhören.
  Ich zerlege den Drachen, schiebe ihn zurück unter den Sitz. Dann bemerke ich, wie sich die Fahrt verlang­samt, höre den Blinker und erkenne die Zufahrt des Hotels. Sie hält direkt vor dem Eingang, lässt den Motor laufen, klappt langsam das Plastikschild des Taxameters wieder nach oben. Ich zahle, wir geben uns die Hände, sie lächelt. Ich bleibe bei der Drehtür stehen, während sie losfährt, immer noch ihr Lächeln hinter der Scheibe. Sie winkt, während das rote Taxi auf die Fahrbahn gleitet.
Dirk Stolzenberger    05.04.2010   
Dirk Stolzenberger
Prosa