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Elisabeth Merey-Kastner
Die Salzer Lisa

Wenn die Mutter das Fenster öffnete, kam der Krieg in das Spielzimmer herein. Der Krieg ratterte unter den Rädern auf dem gelben Kopfsteinpflaster. Er quietschte, wenn die rote Straßenbahn um die Ecke bog. Er war ein schwarzes Brummen in der Luft.
Wenn Marie durch die Fensteröffnung schaute, sah sie den Himmel. Der Himmel lag aluminiumfarben und still über dem fünften Stock.
Wenn der Krieg aus Sirenen heulte, kam er auch bei geschlossenem Fenster in das Spielzimmer herein. Dann schloss die Mutter die Fensterläden, und das ganze Haus fuhr mit dem Aufzug in den Keller.

An einem Sonntag, als der Krieg in eine andere Stadt zog, fuhren der Vater und Marie ins Sommerhaus aufs Land. Die Lumpenpuppen hatten blasse Gesichter. Marie zog ihnen warme Kleider an. Sie band ihnen Tücher um ihre Köpfe. Die zwei Lumpenpuppen hatten zusammen drei Augen. Ein Auge fehlte. Dort war ein Loch. Aus diesem rieselte es heraus.

Der Vater wollte die Lumpenpuppen zu Hause lassen. Ohne die Lumpenpuppen geht Marie nicht.

Der Vater trug einen Rucksack.
Sie fuhren mit der roten Straßenbahn. Die Lumpenpuppen schauten zum Fenster hinaus. Sie sahen, dass auch die Häuser fuhren, aber in die falsche Richtung. Marie sang. Die Straßenbahn hörte zu oder sie bimmelte.

Die Endhaltestelle war der Bahnhof. Vor dem Bahnhof lag ein Mann auf dem Bauch. Er hatte einen roten Rücken.
Schau nicht hin, sagte der Vater zu Marie.
Schaut nicht hin, sagte Marie zu den Lumpenpuppen.

Der Weingarten war ein Hügel. Die Reben waren nackt und hielten sich an den Pfählen fest. Darüber flogen schwarze Vögel. Der Weingarten mündete in einen verschneiten Weg, der zum Sommerhaus führte. Der Himmel war hellblau unter der kalten Sonne. Das Sommerhaus rauchte aus seinem Kamin.
Der Rauch, der Rauch, schrie Marie. Sie zeigte mit ihren Fäustlingen in die Luft, und die Lumpenpuppen fielen in den Schnee hinunter.
Komm. Der Vater flüsterte.
Der Rauch, schrie Marie.
Der Vater hob die Lumpenpuppen auf. Er nahm Marie in seine Arme. Er trug den Rucksack, die Lumpenpuppen und Marie in das Sommerhaus hinein.
Der Hund war angekettet. Er fror und schaute in den Rauch. Er bellte nicht.

In der Küchentüre stand die Salzer Lisa. Ihre Mutter saß am Küchentisch. Der Vater lud den Rucksack auf den Tisch ab. Die Salzer Lisa packte den Rucksack aus und sagte danke zu den Kartoffeln und auch zum Brot und zur Marmelade sagte sie danke.

Die Salzer Lisa und ihre Mutter hatten früher in der Stadt gewohnt. Wenn die Salzer Lisa zu Besuch kam, erfand sie Lieder, die noch niemand kannte. Während sie sang, klatschte sie in ihre Hände. Manchmal tanzte sie.

Jetzt sang die Salzer Lisa nicht. Sie flüsterte. Ihre Mutter murmelte und weinte.
Geh zum Hund in den Garten hinaus, sagte der Vater zu Marie.

Der Hund fror und schaute in den Rauch. Er bellte nicht. Die Sonne lag auf dem Hügel über dem Garten.

Als der Vater und Marie nach Haus gingen, weinte auch die Salzer Lisa. Der Vater hatte sein faltiges Gesicht. Unter den Sohlen des Vaters knirschte der Schnee. Die Lumpenpuppen schliefen im Rucksack. Der Himmel war grau, weil auch die Sonne schlief.

Nach dem Krieg zogen die Salzer Lisa und ihre Mutter wieder in die Stadt. Die Salzer Lisa schenkte Marie ein Goldkettchen mit einem Anhänger daran.

Aber sie sang nicht mehr.

Elisabeth Merey-Kastner     2005    

Elisabeth
Merey-Kastner
Prosa