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Eva Scheller
Im Vorgarten ein totes Kamel
Die Herbstsonne fiel auf den See, ich saß ganz am Ende des Bootsstegs und hielt meine Füße ins Wasser, ich spürte, wie Nässe und Kälte durch meine Segelschuhe drangen, die ich anbehalten hatte. Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, dass meine Schwester ertrunken war, dass sie als Nixe im See weiterlebte und am Ende ihres Fischleibs einen Schuh trug. Im Haus lag ein einzelner Stoffschuh herum und irgendjemand hatte behauptet, er habe meiner Schwester gehört.

Ich hatte nie mehr hierher zurückkehren wollen, nie mehr, der See, der Kiefernwald, die verstreuten Häuser, die Bootsstege, von Anfang an habe ich gewusst, dass ich nicht dorthin gehöre, und habe jeden Sommer seit meiner Geburt dort verbracht, jeden Sommer, bis ich die Schule verließ. Und wenn jemals Liebe für diesen Ort in mir gewesen sein sollte, hat meine Mutter sie ausgetrieben, so wie meine wilde gefährliche Liebe zu dem Kanonenofen, der an kalten Abenden glühte und mich in seine Nähe lockte trotz des Verbots, bis sie einen meiner Zöpfe mit einem großen eisernen Löffel auf die Herdplatte presste und mit der anderen Hand mein Ohr packte und ihre Finger in mein Haar krallte und mein Gesicht nach unten drückte, dass ich die Hitze spürte und meinte, den Geruch verbrannten Fleisches zu atmen. Dabei war es nur der Geruch von versengten Haaren, der Kanonenofen hatte ein Loch in meinen Zopf gebrannt, und nachdem ich die ganze Nacht mit diesem Gestank zugebracht und kaum geschlafen hatte, weil ich fürchtete, ich würde mich im Schlaf vom Rest der Hitze in meinem Körper selbst entzünden, hat meine Mutter am nächsten Morgen den Zopf gekürzt. Bis zum Ende der Ferien lief ich mit zwei unterschiedlich langen Zöpfen herum, erst als ich wieder in den Kindergarten ging, hat meine Mutter ihre Länge angepaßt.
Dass ich dorthin zurückkehrte, daran war natürlich meine Mutter schuld, im Sommer vor zwei Jahren ist sie gestorben, die Krankheit hatte sie zunächst unförmig werden lassen und später dünn wie Papier, sie wollte, dass ihre Asche in dem Wald bei dem See verstreut wurde, an dem sie fünfzig oder sechzig oder was weiß ich wieviele Sommer verbracht hat, sie wollte nicht ins Wasser, nein, sie wollte unter die Kiefern, und ich sollte es tun. Mir wurde eine Urne aus billigem Weißblech übergeben, das Metall war kühl und distanziert, es kam mir vor, als beschäftigten sich meine Finger mit einer Obszönität, als hätte ich einen so intimen Zugriff auf meine Mutter, wie zu ihren Lebzeiten nicht, und der Mitarbeiter des Beerdigungsinstitutes fragte, ob ich mich für einen Augenblick setzen wolle. Meine Ohren brannten und ich brachte die Urne in den Keller, wo sie zwei Jahre lang stand, einmal stand ich nachts vor der Abfalltonne, den Deckel der Urne hatte ich schon beiseite gelegt, mich dann aber doch nicht getraut, obwohl ich betrunken war.
Dann las ich in der Zeitung die Erzählung über einen Mann, in dessen Vorgarten plötzlich ein totes Kamel liegt, nein, ich glaube, es war eine tote Giraffe, aber mir gefällt die Vorstellung besser, daß es ein totes Kamel war, eines mit zwei Höckern, kein Dromedar, über Nacht liegt im Vorgarten also plötzlich ein riesiger Kadaver, der bald anfängt zu stinken. Aus irgendeinem Grund brach ich am nächsten Tag auf.
Ich hatte damit gerechnet, mich zu verfahren, doch ich war traumwandlerisch sicher, auch wenn ich damals keinen Wagen steuerte, immerhin bin ich ein paar Dutzend Mal diesen Weg gereist, ich erinnerte mich sogar an die Gräben in die ich kotzte, weil ich das Autofahren als Kind nicht vertrug. Ich fand die Lichtung, von der aus man noch zehn Minuten läuft, die Straße endet dort, ein Pfad windet sich zwischen Brombeerhecken, man stelle sich das vor, jedes Pfund Mehl mussten wir schleppen, Lebensmittel für einen langen Sommer, wir fuhren während der ganzen Zeit allenfalls einmal zum Einkaufen ins nächste Dorf, das war fast eine Stunde entfernt. Für den Transport haben wir einen Bollerwagen benutzt, der stand im Schuppen beim Haus und zunächst wurden die Rucksäcke zum Bersten vollgepackt und auch mit dem Bollerwagen war es kein Vergnügen, er war schwer zu lenken, seine hölzernen Räder blieben immer wieder an Steinen hängen, ich schwitzte und mein Schweiß zog die Mücken an und bevor ich auch nur in die Nähe des Wassers kam, war ich schon halb von den Mücken aufgefressen worden.
Jetzt hingegen war es sonnig und kühl, ich hatte wenig Gepäck dabei, einen zweiten Pullover, ein paar Cracker, Nudeln und drei Dosen Thunfisch, die Thunfischdosen scheuerten an der Urne, das Geräusch war tatsächlich furchtbar, doch ich konnte mich nicht entscheiden, stehenzubleiben und umzupacken. Schließlich setzte ich mich ans Ende unseres Bootsstegs und ließ meine Füße im Wasser baumeln, die Schuhe behielt ich an. Die Oberfläche des Sees kräuselte sich im aufkommenden Wind, ich hörte jemanden rufen, eine helle Stimme, eine Kinderstimme, ich dachte an meine Schwester, tatsächlich bildete ich mir ein, meine Schwester rufe nach mir, dabei war es nur der Wind, der in die Holzplanken fuhr oder in das Schilf.
Am nächsten Morgen, ich hatte schon eine ganze Menge von dem alten Zeug verbrannt ohne genau hinzusehen, worum es sich handelte, Bücher, Briefe, bemalte Spanholzschachteln, die ich wahrscheinlich in endlosen Sommern verziert hatte, fing es an zu regnen, die Regentropfen prasselten auf das Dach, ich sah aus dem Fenster und blickte in ein nasses Gesicht. Er war alt, ich hatte ihn nicht eingeladen, doch er kam ins Haus und behauptete, sich an mich zu erinnern. Auf seinem Gesicht lag ein viel zu jugendlicher Ausdruck und ich begriff, dass er nicht mich, sondern meine Mutter sah, so, wie auch ich mich in den alten Fotografien meiner Mutter sehe, in den schwarz-weißen mit dem gezackten Rand.
Als ich einen weiteren Arm voller Briefe aus dem Schrank räumte und zum Ofen trug, sagte er, nein, die nicht, die auf keinen Fall, er nahm mir die Briefe ab und setzte sich auf einen Stuhl und hielt die Briefe auf seinem Schoß, ich bemerkte, dass sie alle noch verschlossen waren, er schien das zu wissen und verlor darüber kein Wort. Auf meine Fragen antwortete er nicht, er sagte, das Meer sei nicht allzuweit entfernt, sein Vater habe sich als Fischer auf einem Trawler verdingt, seine Familie immer hier gewohnt, und dann sah er mich bedeutungsvoll an und schwieg. Ich hörte tatsächlich die Zeit verrinnen und schließlich wusste ich nicht mehr, ob sie vorwärts oder rückwärts lief, mir fielen kleine Momente ein aus den Sommern am See, bis ich bei dem Tag angekommen war, ich war vielleicht zweieinhalb, doch ich erinnerte mich ganz deutlich, an dem meine Mutter mir sagte, ich hätte eine Schwester gehabt, eine, die auch Britta hieße, die Art, wie sie es sagte, erschreckte mich, ich hatte das Gefühl, ich wäre schuld, dass die erste Britta nicht mehr bei uns war, und tatsächlich behandelte meine Mutter mich immer, als trüge ich eine Schuld. Ich hatte sie nie danach gefragt und plötzlich war ich sicher, die Antwort in den Briefen zu finden, ich schnitt einen Brief auf und noch einen und dann fünf oder sechs, es stand immer nur der gleiche Satz darin und als ich wieder Anstalten machte, die Briefe zu verbrennen, erhob der alte Mann keine Einwände, aber ich brachte es schließlich nicht übers Herz, sie in den Ofen zu stecken. Und als ich ihn fragte, ob er mir das erklären könne, blieb er stumm, und als ich vom ihm wissen wollte, ob er in seinem Vorgarten schon einmal ein totes Kamel gesehen habe, stand er auf und ging.
Am nächsten Morgen hatte ich alle Briefe aufgeschnitten und die letzte Dose Thunfisch gegessen und es immer noch nicht getan, ich ging hinaus und zögerte, dann folgte ich dem Weg um den See und stellte mir vorsichtig vor, dass meine Mutter als Kind die gleiche Strecke gegangen war. Ich malte mir den alten Mann als Jungen aus, mit einem sehnigen sonnenverbrannten Körper und sonnengebleichten Haaren, wendig wie ein Fisch, wenn er in den See sprang, und schon hatte ich mich in die Idee dieses Jungen verliebt, unvermittelt erfasste mich ein unnatürlich heftiges Gefühl, die Sehnsucht nach einem Phantom, bis hinter diesem Phantombild eine weitere Erinnerung auftauchte, als ich vierzehn oder fünfzehn war. Wir saßen am Feuer und brieten Fisch, er berührte mein Knie, es hätte auch Zufall sein können und als ich viel zu spät nach Hause kam, schlug meine Mutter mich ins Gesicht, beschimpfte mich mit Worten, die ich noch nie gehört hatte und sperrte mich für Tage ein. Als ich wieder hinaus durfte, mied der Junge mich, ich weiß nicht, was sie gemacht hatte, aber es wirkte bis ans Ende der Ferien. Erst kurz vor der Abreise kam er zu mir und sagte, es täte ihm leid, er küsste mich, es war mein erster richtiger Kuß und brach mir sofort das Herz.
Ich versuchte mich zu erinnern, an welchem Tag er mich geküsst hatte, ein Wochentag, irgendeiner, den ich mir nicht gemerkt hatte, weil ich in dem Moment nicht ahnte, was er einmal für mich bedeuten könnte. Wenn ich ihn nicht vergessen hätte, ich hätte einen Augenblick in der Woche innehalten und mir sagen können, es ist wieder soweit, dass du es bloß nicht vergißt. Mein Leben wäre vielleicht anders verlaufen. Statt dessen habe ich alles vergessen, bevor es richtig anfing, und meine Mutter hat ihr Leben lang Briefe bekommen, in denen nur ein Satz stand. Es ist wieder Montag. Es ist wieder Montag! Was weiß ich, was an einem Montag geschah, vielleicht begegnete sie montags zum ersten Mal dem alten Mann, als der noch ein Junge war, jetzt war er mindestens siebzig, wenn man siebzig ist, wieviele Montage hat man dann gelebt, und jeden Montag ein Innehalten und die Nachricht, vergiss es nicht, und in seinem Kopf noch viel mehr Erinnerung als in einem Bündel Briefe und auch in ihrem Kopf und erst in ihren Herzen, ich hätte mich gern an ihrer Stelle erinnert, aber ich hatte keine Erinnerung, keine gute, und dann dachte ich wieder an die Geschichte mit dem toten Kamel und wie das Leben des Protagonisten auseinanderfällt.

Der Text wurde mit dem 1. Preis beim Kurzgeschichtenwettbewerb des Hamburger Abendblatts ausgezeichnet.

Eva Scheller       01.10.2007       

Eva Scheller
Prosa