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Jan Decker
Vogelkunde für Städtebewohner


Ein Vogelkonzert am frühen Morgen, mit Rotkehlchen, Buchfink und Mönchs­gras­mücke. Was gibt es Schöneres? Walther Lembeck, Vogel­stimmen­sammler und Rentner, lässt fünf verpackte Leber­wurst­brote in den Stoff­beutel gleiten, auf dem eine nis­tende Hecken­braunelle abgebildet ist. Der Star, ein aus­gespro­chener Lang­schläfer, war noch nicht zu vernehmen. Dafür haben Amsel und Haus­rotschwanz ihr schönes Lied zu singen begonnen. In der Brutzeit kann der Städte­bewohner besonders viele Vogel­stimmen hören. Es sind die ge­sangs­begab­teren Männchen, die Weibchen anlocken wollen, und ihr Revier gegen Kon­kurrenten abgrenzen. Das Wort Nutten­safari, von seiner Nach­barin Frau Sperling für den Morgen­spazier­gang erfunden, dreht die Vogel­welt aller­dings auf den Kopf. Von fleisch­lichen Gelüsten ist Walther Lembeck befreit. Das hätte Frau Sperling wohl gern so.

Da ist zum Beispiel gleich auf seinen ersten Schritten das Kix des Buntspechts zu hören. Ein Stand­vogel, der schon einmal in ein infer­nalisches Trommeln ausbrechen kann, wenn ihm der Stadtlärm zu bunt wird. Ein Auto rumpelt über die Kopf­stein­pflas­ter­straße. Da, ein letztes Kix, und der Bunt­specht ist ver­schwunden. Das Trommeln kommt allerdings von oben. Es ist Frau Sperling, die ausgerechnet jetzt ihren Balkon mit einem Besen fegen muss. Der frühe Vogel fängt den Wurm, heißt es. Nichts wie weg also.

An der Kreuzung ist Vorsicht geboten. Schon öfters musste Walther Lembeck einer ge­schwung­enen Leder­hand­tasche ausweichen, die nicht ihm, sondern einem Weibchen des Neben­reviers galt. Heute verharrt das Biotop reglos. Man könnte von einem Wachs­figuren­kabinett der Prostituierten sprechen, das er jeden Morgen auf dem Weg zu den Stadtvögeln durchstreift. Und so weit reicht Frau Sperlings Blick vom Balkon. Dann zieht sie sich vermut­lich zufrieden und bestätigt in ihre Wohnung zurück. Schau an, hört er Frau Sper­ling sagen. Walther Lembeck macht wieder Nuttensafari.

Eine neue Vogelstimme ist zu hören. Walther Lembeck geht flink weiter. Der Buntspecht kann es nicht sein, der ist abgeflattert. Walther Lembeck hört aufmerksam hin. Natürlich, es ist das durch­dringende Twiht des Kleibers. Hier in den ausge­faulten Ast­löchern der Straßen­bäume liegen seine Brutplätze. Sie sind das erste Ziel seines Morgen­spazier­gangs. Ausge­rechnet hier an der Kreuzung streift der schnurrende Jäger umher, den sich Frau Sperling hält. Als hätten die beiden sich verab­redet. Walther Lembeck scheucht Frau Sperlings Katze mit einem be­herzten Tritt auf die Kreuzung. Autoreifen quietschen. Da fliegt der Kleiber fröhlich auf das Astloch zu, im Schnabel klumpenweise frisches Bau­material. Der zweite Standvogel des Tages, und das dritte Exemplar einer Art, der sich Walther Lembeck selbst zuschreibt. Dem gefiederten Flaneur, der unter widrigen Bedingungen in der Stadt ausharrt.

Denn was lauert am Stadtrand? Die Langeweile. Der Stadtvogel dagegen zeigt, wie man inmitten all des Lärms sein eigenes Biotop bestellen kann, trotz der gackernden Gegenwart von Städte­bewohnern wie Frau Sperling. Und der Stadtvogel weiß sich zu wehren, indem er die Städte­bewohner imitiert. Er dreht, nicht anders als Frau Sperling, die Laut­stärke auf. So hört Walther Lembeck es jeden Morgen mit eigenen Ohren, das Trommeln des Buntspechts, das Teck-Teck des Garten­rot­schwanzes, das Tsiwit der Rauch­schwalbe, das weiche Hui des Fitis, in zehnfacher Lautstärke. Die Stadtvögel haben ihr Biotop gefunden, nur wissen es die Städte­bewohner noch nicht.

War das eben das Dschäd der Blaumeise, das Walther Lembeck aus seinen Gedanken riss, dort vom Dach des Möbelhauses her? Er wickelt das Leberwurstbrot in die Aluminiumfolie zurück, lässt es wie einen Torpedo in den Stoffbeutel mit Heckenbraunelle sausen, und marschiert los. Die wartenden Damen blicken ihm nach, ein Aah kommt aus ihren Mündern, sie haben die Blaumeise ebenfalls vernommen. Womöglich ist er in seiner Suche nach einer städtischen Lebensform nicht allein, denkt Walther Lembeck. Er steht an der Verladerampe des Möbel­hauses. Hier hat er die Blaumeise eben gesichtet, doch sie ist weiter­geflattert.

Da tönt wie aus dem Nichts ein Möbellaster. Walther Lembeck muss zur Seite springen, der Lasterfahrer schimpft wie ein Rohrspatz. Der Blaumeise ist es zu viel geworden. Auch ihre Robustheit kennt Grenzen, zumal sie unablässig von stärkeren Vögeln aus ihrem Biotop verdrängt wird. Alle Städte­bewohner stecken mit Frau Sperling unter einer Decke, denkt Walther Lembeck. Dann räumt er die Verlade­rampe. Es bringt nichts, sich aufzu­plustern. Der Kerl ist zwei Köpfe größer. Und plötzlich versteht Walther Lembeck die Stadtrandvögel, die leisen Brüter und stillen Flatterer, die sich im Biotop der Zart­besaiteten versammeln.

Wann fährt die nächste Stadtbahn? Eine Landpartie zu den schwachen, aber klugen und sensiblen Vogelexemplaren, zu den Dichtern und Denkern unter dem Gefieder, das sich nicht mit Frau Sperlings Katze abgibt, sich nicht mit aus­gefaul­ten Astlöchern in Straßen­bäumen beschei­det, sondern in den frischen jungen Bäumen wohnt, dafür auf Wider­stands­kraft verzichtet. Sein Blick fällt auf die Auslage des Möbel­hauses. Die Modell­sitz­ecke Grünfink. Tisch und Sofa haben gebogene Stahlteile, demnach sind sie die Schnäbel der Grünfinken, die gegen den Natursinn zu grässlichen Verletzungen einladen. Während der Tisch aus reinem Stahl gehalten ist, also das Grün­finke­nmännchen darstellt, schmückt sich das Sofa mit einem mattbraunen Bezug, es ist also das Grün­finken­weibchen. Walther Lembeck meint bereits, das Dschwüid und Gigigi der Grün­finken zu hören.

Aber was ist das? Frau Sperling springt im Möbelhaus umher, schrill und gackernd, ein geschminkter Paradies­vogel, der einen neuen Brutplatz inspiziert. Jetzt wälzt sie sich genüsslich auf dem matt­braunen Grünfinkenweibchen. Der Vogel gibt seinen sozialen Druck an das nächste Vogelexemplar im Biotop ab. Demnach ist die ganze Stadt eine Stress­gemein­schaft, und nur das vitalste Männchen im Biotop hat ein stress­freies Leben. Zurück zur Kreuzung. Jetzt schauen die wartenden Damen er­wartungs­voll und leicht säuerlich her, als würden sie Walther Lembeck für das Verschwinden der Blaumeise ver­antwort­lich machen. Immer­hin sind sie aufgewacht. Dabei würde eine Fahrt mit der Stadtbahn ausreichen, um ihnen gleichsam neues Leben einzuvögeln. Dort sind sie alle, weiß Walther Lembeck. Amsel, Drossel, Fink und Star. Die ganze Vogelschar.

Insgeheim ahnt er, wo sich die Blaumeise herumtreibt. Er muss das Dschäd, Tui oder Tscher­retetet der Blaumeise gar nicht hören. Der gefiederte Flaneur hat sich in den Lüftungs­löchern des Möbel­hauses eingerichtet. Dschäd Dschäd. Gewusst wie. Doch Walther Lembeck ist auf dem Rückzug. Sein Morgen­spazier­gang hat eine bedroh­liche Wende genommen. Es sind die gereiz­ten Tschts der wartenden Damen, es ist der einsetzende Bindfadenregen, es ist Frau Sper­lings über­fall­artiges Auf­treten in der Nähe der Blaumeise, das ihn plötzlich das häusliche Nest aufsuchen lässt.

Und es ist eine tiefe Vogelverwandtschaft, die Walther Lembeck jetzt spürt. Dem gefie­derten Flaneur ist das häusliche Nest am wärmsten. Ihm versagt niemals die Peilung zu dem einen Ort, den er inmitten all des Lärms zu seinem Zuhause erwählt hat. Wie behaglich dem Vogel sein Nest erst in der Groß­stadt wird. Vielleicht bleibt Zeit für ein Vogel­konzert bei offenem Fenster, bis Frau Sperling aus dem Möbel­haus zurück ist. Vielleicht wird plötz­lich, wie im letzten Oktober, der Zilpzalp an seinem Fenster erscheinen, der kurz vor dem Abflug nach Nordafrika sein scharfes Fiet mit dem weichen Füid alte­rierte…

Die Sichtungen waren mager. Nur Buntspecht und Kleiber, von der Blau­meise ein einsamer Ruf. Er trägt ein Dschäd in das Vogel­stimmen­buch ein. Da hört er Schritte aus Frau Sperlings Wohnung. Flatternde Stimmen, ein hartes Tek wie vom Zaunkönig. Die Möbel­packer tragen die Modellsitzecke Grünfink herein. Walther Lembeck fühlt sich nicht gestört. Das Tek kennt er, denn jeden Tag kauft Frau Sperling neue Möbel. Sie wird eines Tages in ihrem Nest ersticken, ganz sicher. Die Pastorale von Beethoven ertönt. Das wird ein Gezeter geben. Ja, gleich wird Frau Sperling infer­nalisch mit dem Besen­stiel gegen die geteilte Wand trommeln. Doch ein Frei­geist wie er hat vorgesorgt. Walther Lembeck setzt die Ohren­schützer auf, die er aus zwei Meise­nbällen und einem dicken Ein­mach­gummi gebas­telt hat. Er ahnt wohl, dass er mit diesem eigen­sinnigen Gerät kein Weibchen in sein Nest locken wird. Aber die Ohrenschützer lassen die Vogel­stimmen durch, und halten Frau Sperlings Gezeter ab. Auch von Beethoven ist kaum etwas zu hören. Gewusst wie. Dschäd Dschäd.

Ein hartes Schack springt über seine Lippen. Walther Lembeck reißt die Alu­minium­folie mit dem Ruf der Elster auf, und beißt in das erste Leber­wurst­brot. Man kann nicht genug von der Elster lernen, denkt Walther Lembeck. Sie ist der wider­stands­kräftigste gefie­derte Flaneur der Stadt, der sogar den windigen Gemüse­händ­lern an der Kreu­zung zusetzt. Ein lautes Scheck, und die Tomate ist weg. Weiterhin hält die Elster nach über­fah­renen Katzen Ausschau, sie klemmt sich an jeden Müll­eimer, und leert ihn auf der Suche nach Fett­stücken, Knochen oder anderem Abfall aus, sie plündert fremde Nester, um Junge oder Eier zu fressen. Die Elster treibt es für Walther Lembecks Ge­schmack genau richtig. Und wer sie diebisch nennt, hat rein gar nichts begriffen, oder sein Hauptwerk, die Vogel­kunde für Städte­bewohner, nicht gelesen. Er wird sie eines Tages zu Papier bringen. Alles, was ihm als Kijak und Chwäh bei seinen Morgen­spazier­gängen durch den Kopf geht. Noch be­schränkt sich Walther Lembeck auf das Vogel­stimmen­sammeln. Nur manchmal sehnt er sich nach einem viel wei­cheren Geräusch als dem Scheck der Elster, das nur selten in der Stadt zu hören ist. Es ist nicht das glucksende Lachen eines Weibchens in Walther Lembecks Nest, sondern das weiche Füid des Zilpzalp. Und plötzlich träumt Walther Lembeck von Nordafrika.

Dann ist es schon wieder Oktober, Brutsaison um Brutsaison vergeht, und in den kalten Win­tern kauern Frau Sperling und Walther Lembeck an den beiden Seiten der geteilten Wand, um nach einem Lebens­zeichen zu horchen, einem Prrt oder Schrrip, wie es die Mehl­schwalbe aus­stößt, wenn sie die Sahara über­quert und sich der Stadt nähert. Aber kein Prrt oder Schrrip ist zu hören, nur manch­mal ein leises Weh. Weih­nachten steht vor der Tür, und der Nach­wuchs ist noch immer nicht bestellt. Frau Sper­ling liegt starr auf dem matt­braunen Sofa der Modell­sitzecke Grünfink, ihre Katze ist ver­schwunden. Walther Lembeck kauert lustlos am Boden, die letzten Stand­vögel haben sich ver­abschiedet, und die wartenden Damen an der Kreuzung tragen plusternd dickes Gefieder.

An einem dieser Tage reißt Walther Lembeck die Ohrenschützer herunter, und horcht in die menschen­leere Stille. Dann beißt er in die Meisenbälle. Ein letztes Schack, und der Rest mag eines Tages in der Morgen­zeitung stehen. Rentner nach Nutten­safari ge­storben. Frau Sperling wird es lesen und laut zetern: Ich habe es immer gesagt. Und während Walther Lembeck bis zur nächsten Brut­saison reglos in seiner Wohnung liegt, wird der Zilp­zalp am Fenster erscheinen und einen letzten Blick auf den gefiederten Flaneur werfen, der nicht mehr zappelt, bevor der Zilpzalp mit einem weichen Füid davon­flattert.
Jan Decker  06.11.2012   

 

 
Jan Decker
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