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Jan Fischer
Die Spielplätze der Irren

Der Spielplatz der Irren ist der Platz der Herrscher, der tausend Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die Erlöserposen verdrehen Julien den Kopf: Das Geräusch eines Schädels, der voll gegen eine restau­rierte histo­rische Laterne knallt. Karl der Große, und der Rest der Kaiser am Rathaus und ein in Gold gegossener Krieger auf einem Brunnen schauen in Helden­pose zu, als Julien sich an den Kopf fasst, und seine Platz­wunde blutet auf das Kopfsteinpflaster. Zwei Irre taxieren ihn mit schräggelegten Köpfen: Der eine, der sich anzieht wie eine Puppe, mit roten Lippen den Plastik­wangen, und der andere, mit freiem Oberkörper, ein drahtiges Etwas, das am liebsten Solarium­frauen mit kleinen Hunden an­quatscht. Zwischen Juliens Fingern quillt das Blut, und der Drahtige hat sich jetzt ent­schlos­sen, zu Julien zu tanzen: Komm mit, da drin gibt's Pflaster, sagt er, sie schneiden oft in Ohren. Er zerrt Julien über den Platz, zum Laden an der Ecke, an dessen Fassade ein goldener Kamm und eine goldene Schere sind.

Juliens Blut tropft auf den Boden, schwarze Kacheln, von denen alle fünf Minuten das Haar gefegt wird. Der Irre winkt einem Mann mit sauber ausra­siertem Nacken, der sich über eine Frau in Trockenhaube beugt, und Julien hat Kopf­schmerzen. Der mit dem ausra­sierten Nacken kommt und führt Julien durch den Laden, die Kaiser sind immer noch ver­schwom­men sichtbar durch das Fenster und es riecht nach dem Shampoo fremder Leute. Die alten Frauen unter den Trocken­hauben schauen hoch von ihren Kreuz­wort­rätseln, die Friseusen und Friseure hören auf zu schneiden und zu föhnen, die Männer, deren beachblond unter Alufolie gärt, schauen ihn mit ihrem Mars­menschen­gesicht an. Da hoch, sagt der Mann, und zeigt auf eine Wendeltreppe.

Die Friseuse sagt, sie kennt sich aus mit Fleischwunden, das ist nicht erste Mal. Im Spiegel sieht Julien ihr Kobratatoo. Die Schlange ringelt sich hinten aus ihrer Hose. Die Friseuse tupft das Blut ab, das Julien ins Auge tropft. Sie kippt Des­infektions­flüssig­keit aus einer milchigen Plastik­flasche auf ein Stück Küchen­rolle und reibt es über die Wunde. Juliens Wunde brennt. Die Friseuse klebt ein Pflaster drauf. Der Raum ist klein, nur ein Sessel, ein Spiegel, keine Fenster und das Loch, wo die Treppe nach unten führt. Die Friseuse hat blonde Haare mit ein paar dunklen Highlights drin. Um das Pflaster herum verfärbt die Haut an Juliens Kopf sich blau. Die Friseuse sagt, es sieht cool aus, und: Ruf mich doch an. Sie schreibt ihre Telefon­nummer auf ein Pflaster, und klebt es Julien auf den Arm.

Danach darf Julien wieder auf den Platz, ein Stück Mullbinde über eine Augenbraue geklebt, er fotografiert die Kaiser einzeln mit dem Handy, die Auflösung ist schlecht und er kann nur aus einem Auge überhaupt was sehen. Die Sonne geht fast schon unter. Die Irren bewegen sich über den Platz und hüpfen von einem zum anderen, wo sie manchmal weg­geschickt werden, und manchmal nicht. Alle anderen sind im Freeze, den Blick nach oben zu den Kaisern, oder im Café, den Löffel im Macchiato, oder am Brunnen und wickeln ihre Brote aus. Als es zu dunkel ist zum Fotografieren, ruft Julien die Nummer auf dem Pflaster an, und die Friseuse lädt ihn ein, noch was zu trinken.

Julien soll noch mit hochkommen, sagt die Friseuse, und oben schneidet sie ihm die Haare, und reibt hinterher Ammoniak hinein, damit sie blonder werden. Der Ammoniak läuft Julien in die Wunde und brennt. Sie hören Platten die am Anfang und Ende rauschen und der Tonarm schwenkt mit seinem Ton­arm­knacken zurück. Die Kobra ringelt sich der Friseuse bis runter ums ganze Bein, hat sie Julien gezeigt, die Friseusen­ferse ist das Ende vom Schwanz. Die Sonne geht auf und scheint durch die Fenster und wickelt die beiden in hellen Dunst ein. Juliens Haare sind kürzer jetzt und blond. Wir haben alle so eins, sagt die Friseuse, und meint ihr Kobratatoo, wir Irren haben alle sowas. Der Tonarm knackt zurück. Die Sonne steigt höher.

Der Drahtige steht auf dem Platz im Sonnenfleck, der sich durch eine Lücke des Gebäudes mit den Kaisern schleicht und im Gold des Wappens auf dem Kriegerschild bricht. Der, der aussieht wie eine Puppe dreht sich um sich selbst. Julien stellt sich in Positur vor dem Kaiserhaus, er hat keine Sekunde geschla­fen in der Nacht. Die Friseuse foto­grafiert ihn mit seinen hängenden Augen. Der Drahtige hangelt sich von Gruppe zu Gruppe auf dem Platz, er spricht mit der Friseuse: Eine Stimme wie das Knacken und Rauschen einer Stimme am Ende von Seite B: Keine Chance mehr zu erfahren, worum es eigentlich ging. Die Friseuse zeigt ihm ihre Kobra. Wie Pinballs auf ihrem Spielplatz, sagt die Friseuse, und foto­grafiert Julien nochmal: Sein Gesicht mit der müden Haut stellt sie scharf, die tausend Kaiser verschwimmen im Hintergrund.

Die Kobra hält Julien die ganze Nacht wach: Vom Fuß bis ganz hoch ringelt sie sich an der Friseuse, sie ist länger geworden, wie das Rauschen am Ende der Platten, die sie hören. Die Pausen werden groß bis am nächsten Tag das Licht wieder durch den Vorhang kriecht. Je länger die Kobra sich ringelt, je größer die Asche­haufen in den Unter­tassen werden, desto weniger kann Julien sich bewegen: Er ist viel zu schwer dafür, als setzten der Rauch und das Rauschen sich ihm subkutan ab. Die Platten wechseln oder nochmal von vorne hören ist nicht drin. Morgens ist, wenn das Licht weiß ist, abends, wenn es gelbgrün wird, und dazwischen ist Julien dunstig: Der größte Teil des Tages besteht aus Flimmern ohne Farbe. Manchmal ist die Friseuse tagsüber weg, dann schnappt Julien nach den Fliegen, die um die Lampe kreisen.

Wenn die Friseuse frei hat, schleift sie Julien zu den Kaisern, jeden Tag zu einer anderen Zeit: Die Lichtstimmung auf den Fotos, die sie macht ist immer anders. Keine Chance, sagt sie, es in jedem Licht festzuhalten. Julien kann sich kaum noch auf den Beinen halten, er schwankt, hat Kopfschmerzen, und stößt von Zeit zu Zeit die anderen Menschen auf dem Platz an. Das ist die Wunde, sagt die Friseuse, die blutet manchmal noch ein bisschen, mit Fleisch­wunden kennt sie sich aus. Wird schon, sagt sie, und lacht ein bisschen. Oft umzirkeln die Irren die beiden, aber genau­so­oft auch nicht: Sobald ein Muster zu erkennen ist, hört es auf. Julien schwankt, die Friseuse hat Probleme, ihn scharf­zu­stellen auf den Fotos, Julien hat Probleme, auf den Beinen zu bleiben. Er ist auf den Fotos nur noch ein verwackelter Schemen vor unscharfen Kaisern in Erlöserpose.

Das Licht ist weiß und scheint Julien auf den Bauch: die Friseuse hat ihm das Hemd ausgezogen, die Sonne macht ihm einen Fleck um den Nabel. Der Verband kommt heute ab, sagt die Friseuse, und kriecht ihm am Bauch vorbei zum Kopf. Sie saugt an seinen Körper­teilen: An den Ohren, an der Nase, auch am Hals. Die Wunde wickelt sie aus und betupft sie mit Mercurochrom aus einer braunen Flasche. Das rote Zeug fließt an Juliens Ohr vorbei und sickert in die Matratze ein. Na Bitte, sagt sie, sieht doch schon viel besser aus. Den Rest Mercuro­chrom leckt sie von Juliens Hals bis hoch zum Ohr, und knabbert ihm ins Ohrläppchen. Dann muss sie fri­sieren gehen. Den Rest des Tages hört Julien nichts als das weiße Surren der Fliegen, die immer wieder um die Deckenlampe kreisen, und hin und wieder kommt eine ihm zu nahe, dann packt er sie und isst er sie: Manchmal summen sie ihm selbst noch im Hals, die kleinen Protein­lieferanten.

An späteren Tagen (in Juliens Wahrnehmung gibt es schon längst keine Tage mehr, nur weißes und gelbgrünes Licht) kommt die Friseuse nur noch zu unmöglichen Zeiten, weil für Julien jede Zeit unmöglich ist. Zu unmöglichen Zeiten lässt die Friseuse erst Julien zur Ader, dann sich selbst, die Friseuse erweitert den Blut­kreis­lauf auf zwei: Sie nuckeln sich gegenseitig ihr Blut weg, es schmeckt metallisch von den Blut­plättchen, der Tonarm ist auf Dauer­rausch gestellt, auf den Platz der Herr­scher gehen sie nicht mehr: Meist liegen sie danach in gelbgrünem Licht, ineinander verkeilt mit den Mündern an ihren Wunden. Der Aderlass erschöpft. Es ist bald vorbei, sagt die Friseuse einmal, und führt Juliens Hand an ihrer Kobra entlang. Denk daran, sagt sie.

An ihrem letzten Tag stehen sie auf in weißem Licht, Juliens Kopf dreht sich, obwohl er sich nicht dreht: Die Friseuse hilft ihm, sich in einen Rollstuhl zu rotieren, Man kann das nicht in jedem Licht festhalten, sagt sie: Sie zerrt Julien die Treppe runter, sie poltern raus ins weiße Morgen­licht, Julien mit dem Rücken zuerst. Die Friseuse schiebt, Julien hat den Kopf gesenkt, am Straßen­pflaster erkennt er nicht, wohin es geht, aber eigent­lich ist das klar, die Kaiser in ihren Erlöser­posen sieht er nicht, als sie dort sind, nur den kleinen, goldenen Fleck, da, wo aus dem Schild heraus das gebro­chene Licht auf den Boden strahlt. Die Friseuse stellt den Rollstuhl in den Fleck. Jetzt steh auf und spiele, sagt die Friseuse, und Julien läuft los. Die Wunde ist schon fast komplett verheilt, und mit den anderen Irren tanzt Julien auf ihrem Spielplatz durch goldene Licht­flecken.

Jan Fischer    2013    

 

 
Jan Fischer
Prosa