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Jan Kuhlbrodt

Vor der Schrift
Romanauszug 2010
Weidmann

Ich habe den Vater meiner Mutter, den ich als meinen Großvater bezeichnen müsste, nie kennengelernt, weil er die Bombennacht Anfang März 1945, in der große Teile der Stadt zerstört wurden, dazu nutzte, seine hochschwangere Frau zu verlassen.

Vielleicht hatte er einfach nicht mehr durchgesehen, durch diese Familie, in die er gutgläubig hinein­geheiratet hatte, wusste nicht mehr, wer seine Frau und wer Tante war, hatte sich also im Stand einer familiären Unsicher­heit vermutet, und nicht mehr gewusst, wohin er gehörte. Da war es besser, einfach zu verschwin­den. Und Weidmann hatte, weil er sie kannte, wohl voraus­gesehen, dass seine Schwieger­mutter ihm sein Kind entreißen und ihn zum Onkel meiner Mutter, seiner eigenen Tochter, machen würde. Dann hatte er die Entfernungen durch­gerechnet und alle Bindungen verloren. War im Strudel familiärer Beziehungen verschwunden, weil er darin nicht vorgesehen war oder nur als Verschwundener vorgesehen war.
Viel wahrscheinlicher ist aber, dass er in den Angriffen der Amerikaner und im Chaos der Zerstö­rung eine Chance sah, sein Glück alleine zu machen, noch einmal neu zu beginnen, wenn schon alles in Schutt und Asche lag. Er war wohl kein Familien­mensch. Er sei ein rechter Schürzen­jäger gewesen, hatte Martha einmal gesagt. Ich weiß nicht mehr zu welcher Gelegenheit, aber es muss hoch hergegangen sein, wenn sie sich dazu herabließ, über ihn zu sprechen. Und es war ja nichts Ungewöhn­liches, dass jemand im Bombenhagel verschwand.

Mein Großvater hieß Weidmann. Seinen Vornamen habe ich nie zu hören bekommen, und ich habe auch nicht danach gefragt. Sein Vorname war bedeu­tungs­los, und alle nannten Weidmann immer nur Weidmann, wenn über­haupt einmal von ihm gesprochen wurde. Viel­leicht sind sie einfach froh gewesen, dass er weg war. Ich weiß seinen Vornamen bis heute nicht.

Er sei Friseur gewesen, hieß es, in Crimmitschau, und das Wort Friseur hörte sich in den Mündern meiner Verwandten an wie etwas Schäbiges, etwas geradezu Unaus­sprech­liches, wenn man es in Bezug auf ein, wenn auch bedeutungs­loses, Familien­mitglied benutzte. Jemand, der Haare schnitt, galt wenig im gelebten sozialistischen Realismus.

Ein wenig leuchtete mir das ein, schon weil ich mir selbst nur ungern die Haare schneiden ließ. Es war geradezu ein Strafe für mich, zum Friseur zu gehen. Vor allem wusste ich nie, was ich sagen soll, wenn man mich fragte, wie ich es haben wolle. Ich meine, man hätte mich das schon als kleines Kind gefragt. Wie willst du's denn Kleiner, und ich habe meinen Urgroßvater, der mich auf schweren Wegen begleitete, fragend angeschaut, aber der wusste es auch nicht und hat nur mit den Schultern gezuckt.

Urgroßvater sprach übrigens vom Barbier, wenn wir zum Haare­schneiden gingen, und hatte über Weidmann, solange ich mich erinnern kann, nie ein einziges Wort verloren. Auch kein schlechtes. Wenn Karl allerdings von Schürzen­jägern sprach, tat er das in einem ganz anderen Tonfall als Martha. Ich denke, dass er meinen Großvater, den Barbier, gemocht hat, sonst hätte er, wie die anderen, in die abschätzigen Bemerkungen eingestimmt. Vielleicht hatte er ihn auch ein wenig beneidet.

Dass der Friseur­beruf etwas Klein­bürger­liches sei, wurde in meiner Familie behauptet, und das bedeutete, dass er jenseits von Gut und Böse lag, gleichsam einem schwammigen Kosmos des Vergangenen entsprungen. Die klein­bürger­lichen Elemente seien die Steig­bügel­halter Adolf Hitlers gewesen, hörte ich später in der Schule, und ich musste mir vorstellen, wie eine Hand voll Barbiere einem spillerigen Nazi auf ein deutsches Brauereipferd halfen. Weidmann war nicht dabei. Jedenfalls keiner der so aussah, wie ich mir Weidmann vorgestellt hatte.

Ich stellte ihn mir mit weißer Schürze vor, groß und breitschultrig. Er stand vor einem Frisiersalon auf dem Markt einer mittel­sächsischen Kleinstadt. Der Platz lang gezogen, sorgfältig gepflastert, porphyrne Einfassungen der Fenster an frisch geweißten Mauern. Manchmal Fachwerk auf den Feldsteinen vom ersten Stock und über dem Ratskeller hing ein rotes Transparent mit gelber Schrift.
Es gab spärlich besetzte handgemalte Parkbuchten, schräg zur Fahrbahn, Zebrastreifen vor dem Rathaus, die ebenfalls handgemalt waren und in die die Autos flache Spurrinnen gefahren hatten. Ein schwacher Abrieb unter dem das alte Straßenpflaster stellenweise wieder hervorblickte. Keine Straßen­bahn­schienen, allenfalls Pferdefuhrwerke. Die anderen Ladenbesitzer, Fleischer und Apotheker, standen ebenfalls in weißen oder grauen Kitteln vor ihren Geschäften. Allerdings waren sie klein gewachsen und dick. Steigbügelhalter.

Marga hatte ihren Mann nach dem Bomben­angriff, der fast die ganze Stadt in Schutt und Asche legte, für tot erklärt, in den Bränden ums Leben gekommen. Man könnte es für Naivität gehalten haben, wenn man Weidmann kannte. Allerdings scheint mir der Gedanke des Todes angesichts des Chemnitzer Infernos einigermaßen naheliegend.

Wir haben die Hölle erlebt, sagte sie mir, als ich sie später einmal darauf ansprach. Die Hölle, mehr war aus ihr in dieser Sache nicht rauszukriegen. Und ich konnte an ihren Augen erkennen, dass sie nicht zitierte. Als fehlten ihr einfach die Worte, blickte sie vor sich hin und ich wusste nicht, ob sie um den Verlust ihres Gatten oder um das Verschwinden der Stadt trauerte, wahrschein­lich um beides; und wenn wir zusammen durch die Stadt gingen und an kleinen Grasflecken vorbei liefen, an denen noch in den siebziger und achtziger Jahren Häuser endeten, als habe man sie wie ein Tortenstück abgeschnitten und herausgehoben, manchmal waren sogar noch Reste der Tapete im Zimmerschnitt zu sehen, sagte sie mir oft, dass sie jene gekannt habe, die dort vor dem Krieg gewohnt hatten.

Du musst Weidmann suchen!, hatte Martha zu Marga gesagt. Und Marga suchte. Zu ihrer Überraschung und mit Hilfe des Roten Kreuzes fand sie heraus, dass Weidmann am Leben war und im Fränkischen erneut geheiratet hatte.
Martha soll über diese Nachricht kaum verwundert gewesen sein. Nicht einmal seinen Namen hatte er geändert, obwohl es nach der Bombennacht ein Leichtes gewesen wäre, sich eine neue, eine vollkommen neue Identität zu verschaffen. Er war sich wohl zu sicher gewesen, dass niemand lange nach ihm suchen würde.

Als Marga ihn 1947 in Bayreuth aufsuchen wollte, um ihn zur Rede zu stellen, die Frage der Alimente für meine Mutter zu regeln und, auf Marthas Geheiß, auf dem Rückweg bei Bauern das Tafelsilber der Familie und Wolldecken gegen Lebens­mittel einzutauschen, war Weidmann inzwischen tatsächlich gestorben, an einer Zucker­krankheit, die ihn vor der Front bewahrt hatte und den Krieg zwei Jahre überleben ließ.

Ich hätte ihn also auch dann nicht kennen­gelernt, wenn er die Familie nicht verlassen hätte. Und Marga brachte von ihrer Reise zwei Eimer Kartoffeln und eine Bauernwurst mit.
Dies alles wusste ich als Kind nicht. Die Erwachsenen haben selten darüber gesprochen, und wenn, dann nur verklau­suliert und in Halbsätzen. Und mir fielen die Fragen nicht ein, die ich hätte stellen können. Weidmann geisterte als Name noch durch die Räume und ver­ursachte merk­würdige Ausdrücke in den Gesichtern meine erwachsenen Verwandten. Manchmal kam er mir wie ein Geist vor, ein Kobold, der die Menschen unversehens in den Hintern kneift.

Meine Mutter hatte einmal zu mir gesagt, er sei Anti­faschist und im Widerstand gewesen, was mich nicht wunderte, da sich alle in der Familie als Kommunisten und Antifaschisten bezeichneten. Obwohl von Helden­taten im Wider­stands­kampf ihrerseits nichts überliefert ist. Ich glaube, sie fanden erst nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu ihrer expliziten Haltung. Und letztlich sind irgendwie alle immer im Widerstand.

Aber Weidmann, ein Steigbügelhalter als aufrechter Held? Da musste also noch mehr gewesen sein als das Frisiergeschäft. Ein Kommunist, ein Wider­standskämpfer, der sich nur als Friseur getarnt hatte. Ein Frisiergeschäft, in dem massenweise Antifaschistische Flugblätter versteckt waren und eine Dechiffrier­maschine für verschlüsselte Botschaften von und an die Alliierten. Dieser Gedanke hatte sich in mir gefestigt, und ich spann mir eine Legende, die so weit ging, dass ich in meinem unbe­kannten Großvater einen Vertrauten Ernst Thälmanns sah. Einen Wider­standskämpfer ohne Furcht und Tadel, einen Partisanen, der geschickt hinter den Reihen des Feindes operierte.

Und als ich 1972 mein erstes Pionier­halstuch empfing, dachte ich an Weidmann, der umgekommen war im Kampf gegen Hitler. Ein Held. Aber auch ich sprach mit niemandem darüber. Bald würde ich seinen Namen schreiben können.

Aus: Vor der Schrift. Roman. Plöttner Verlag 2010

Jan Kuhlbrodt    30.12.2010   

 

 
Jan Kuhlbrodt
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