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Ich nenne es eine kleine Evolution der Sprache in mir

You-Il Kang im Gespräch mit Johanna Hemkentokrax
You-Il Kang

Foto: Torsten Hattenkerl

You-Il Kang wurde 1953 in Seoul geboren. 1975 veröffent­lichte sie ihren Debüt­roman »Weiße Fahne«, der wie viele ihrer folgenden Romane in Korea zum Best­seller wurde. Für ihre Romane, Essay- und Erzähl­samm­lungen wurde sie mit zahlreichen Literatur­preisen ausge­zeichnet, fünf ihrer Bücher wurden verfilmt.
 Sie arbeitete als Kolumnistin und moderierte für das koreanische Fernsehen und den Hörfunk Kultur- und Literatur­magazine. 1995 ging You-Il Kang nach Deutsch­land und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, wo sie heute als Gast­dozentin lehrt. In der »Korea Times« schreibt sie regelmäßig eine Kolumne über deutsche Themen.

Johanna Hemkentokrax: Liebe You-Il Kang, Sie leben seit 1995 über­wiegend in Deutsch­land. Trotzdem scheinen Sie vor allen Dingen für die Recherche Ihrer Romane ständig auf Reisen zu sein, pendeln zwischen Korea, China und Deutschland hin und her. Welche Bedeutung hat das Reisen für Sie als Autorin?

You-Il Kang: Mein Beruf ist irgendwie zu einem Reiseberuf geworden, ständig fliege ich hin und her. Ehrlich gesagt, ich zweifle, ob es sich lohnt, eine ausführliche Recherchereise und Entdeckungsreise für einen besseren Roman zu unternehmen. Aber ich habe keine Alternative, da ich keine andere, bessere Methode kenne. Um einen Roman auszuarbeiten, brauche ich etwa drei Jahre Arbeitszeit und besuche mehr als ein Dutzend Städte. Beispielsweise brauchte ich für meinen jüngsten Roman Klaviersonate 1987 vier Jahre Arbeitszeit und besuchte damals Moskau, St. Petersburg, Prag, London, New York, Florenz, Peking, Bagdad und Seoul. Um den neuen Roman zu vervollständigen, war ich gerade zehn Monate lang in Peking, Schanghai, Xian, Hongkong und Seoul. Obwohl mein Verlag mich treu unterstützt, muss ich gestehen, dass diese Methode zu viel Zeit, Kraft und finanzielle Mittel kostet.


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Foto: Torsten Hattenkerl

J. Hemkentokrax: Gibt es für Sie einen festen Lebensmittelpunkt be­ziehungs­weise Orte, an denen Sie sich persön­lich und literarisch zu Hause fühlen, und welche Bedeutung hat das Gegenteil, das Erleben der »Fremde« für Sie?

You-Il Kang: Seit 1995 habe ich eigentlich keinen festen Lebensmittelpunkt mehr. Ich fühle mich wie auf einer Irrfahrt, ein wenig wie Odysseus. Aber ich fühle mich in Leipzig wohl und die Stadt ist ein Stück Heimat geworden mit produktivem Heimweh. Übrigens tanke ich unterwegs sehr viel Kraft und Inspiration und gewinne präzise Details und andere Dimensionen. Wenn ich immer an meinem Platz bleibe, kann mir eigentlich nicht viel passieren. Die fatale Bequemlichkeit, Sicherheit, Geborgenheit, das erworbene Recht. Ich will besser schreiben, das ist meine einzige naive Eitelkeit.
  Ab und zu fühle ich mich in Deutschland, als ob ich im Exil leben würde. Dieser Abstand, Differenzierung, Überforderung, Frustration, Einsamkeit, Unsicherheit und der Zustand, wie anonym leben zu müssen, schenkt mir trotzdem eine absolute, heilige Freiheit, eine sehr reine, unberührte und ungestörte Freiheit. Obwohl die geografische Entfernung zu meinem Heimatland Korea sehr groß ist, etwa 8000 Kilometer, wird paradoxerweise die innere Beziehung zu ihm noch enger. Ich bin eine kosmopolitische Schriftstellerin geworden. Ich schreibe regelmäßig meine eigene Kolumne in einer koreanischen Zeitung, weil ich Kontakt und Wärme zum koreanischen Leser nicht verlieren will. Vor ein paar Tagen habe ich in der Joongang Daily Newspaper, die eine der angesehensten Tageszeitungen in Korea ist, über die Leipziger Poetikvorlesung 2009 mit Herta Müller, die von Deutschen Literaturinstitut veranstaltet wurde, geschrieben, und bin damit auf große Resonanz gestoßen.

J. Hemkentokrax: Ihre Romane sind bisher noch nicht auf Deutsch erschienen. Sie schreiben auf Koreanisch, sprechen aber Deutsch und beschäftigen sich intensiv mit deutscher Literatur, beispiels­weise haben Sie mehrere Romane deutscher Schrift­steller ins Koreanische übersetzt. Entsteht durch die Mehr­sprachigkeit für Sie eine Art Spannungsfeld?

You-Il Kang: Ein Schriftsteller lebt von der Qualität seiner Sprache. Ich schreibe meine Romane noch immer in meiner Muttersprache Koreanisch. Ich bin noch nicht fähig, einen Roman hindernislos auf Deutsch zu schreiben. Ich glaube, ich werde bis ans Ende meines Lebens alle meine Bücher in meiner Muttersprache Koreanisch schreiben, weil eine Muttersprache mehr als eine Sprache ist. Die Muttersprache ist kein Instrument sondern existiert, lauert, fließt einfach in meinem Blut als seelische DNA. Eine Fremdsprache ist für mich, wenn man die Sprache eines Landes, in dem man lange gelebt hat, beherrscht. Ohne einen langen Aufenthalt kann man den Geist der Sprache nicht besitzen, weil eine Sprache eine Welt, ein Universum und der Geist eines Volkes ist. Eine Sprache ist das Alibi eines Volksgeistes. Sie verrät die Tagträume und Traumata eines Volkes oder einer Spezies.


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Foto: Torsten Hattenkerl

J. Hemkentokrax: Verwenden Sie Sprache dadurch anders, denken Sie Bedeutungen und Assoziationen des Deutschen mit, wenn Sie Koreanisch schreiben?

You-Il Kang: Zweifelsohne ist die Sprache für einen Schriftsteller ein kostbares Instrument. Zwischen zwei Sprachen, Koreanisch und Deutsch, ist meine Sprache in meinen Romanen viel feiner, sensibler, präziser, genauer, realis­tischer, vernünftiger, weiser geworden. Ich kann die Wörter viel genauer dosieren als früher, weil ich zwei Sprachen, zwei Waagen habe. Ich nenne es eine kleine Evolution der Sprache in mir. Deutsch als Fremdsprache funk­tioniert für mich nie automa­tisch oder instinktiv, sondern begleitet mich immer wie eine Prothese.

J. Hemkentokrax: Jede Sprache hat ja Ihre Eigengesetzlichkeiten, die auch Ausdruck kultureller Wert­setzungen sind. Sie nannten den Begriff „Seelische DNA“. Was sind für Sie besonders wichtige oder reizvolle Merkmale der korea­nischen und der deutschen Sprache?

You-Il Kang: Die koreanische Kultur ist eine Schriftkultur. Die Koreanische Sprache ist wie die anderen ost­asia­tischen Sprachen meta­phorisch, symbo­lisch, poetisch, indirekt, vieldeutig, nuancenreich, meditativ, spirituell und überirdisch, hingegen ist für mich die deutsche Sprache kristall­klar, trans­parent, kühl, sachlich, genau und lakonisch.

J. Hemkentokrax: Wie sind Sie erstmals in Berührung mit der deutschen Sprache gekommen?

You-Il Kang: Mein Vater war sehr belesen, er hatte eine kleine Bibliothek mit wirklich exzellent ausgewählten Büchern. Mein Vater las Bücher auf Chine­sisch und auf Japa­nisch. Mit vier Jahren durfte ich dort in Büchern von Laotse, Dchuang Dsi, Du Fu und Bei Juyi herumblättern, dabei las mir mein Vater schon Der Vogel Rokh und die Wachtel und Schmetter­lings­traum von Dschang Dsi vor. Später übte die chinesische Lite­ratur aus der Tang-, Song- und Ming Dynastie einen starken Einfluss auf mich aus. Zum Beispiel Ode von der Fahrt zur Roten Wand (1088) von Su Dongpo und Neue Gespräche beim Putzen der Lampe (1378) von Qu You. Die chinesische Sprache, Schriftzeichen und Literatur beeinflussen die koreanische und japanische Sprache sehr.
  Später habe ich auch japanische Schriftsteller wie Abe Kobo und Mischima Yukio durch meinen Vater kennengelernt, zum Beispiel Die Frau in den Dünen und Das Verbrechen des Herr S. Kamura von Abe Kobo und Der Tempelbrand von Mischima Yukio. Die Meisterwerke aus China und Japan hinterließen in mir ihre Macht.
  Mein Vater zeigte auch großes Interesse an Dostojewski, Friedrich Nietzsche, Franz Kafka, Albert Camus und Jean Paul Sartre. Er hat in seiner Studiums­zeit Deutsch gelernt, konnte ein paar Gedichte von Goethe und Herman Hesse aus­wendig und sang ohne Noten und Text Am Brunnen vor den Tore von Franz Schubert, kurz gesagt, ich habe die Sprachen aus­nahms­los in der Literatur kennen gelernt. Die Sprache allein ist mir keine Sprache, für mich ist Sprache immer mit Literatur verbunden.

J. Hemkentokrax: Ich habe einen Auszug aus ihrem jüngsten Roman Klaviersonate 1987 in einer vor­läufigen Über­setzung gelesen. Sie verwenden dort immer wieder starke mytho­lo­gische Motive, die Wirk­lichkeit scheint an vielen Stellen mit dem Mythos zu verschmelzen. Welche Bedeutung haben die Mythen und das Wechsel­spiel zwischen Tradition und Moderne, insbe­sondere Ihrer korea­nischen Heimat, für Ihr Schreiben?

You-Il Kang: Um Mythen, Symbole und Meta­phern zu verstehen, braucht man einen gewissen ästhe­tischen Hinter­grund. Ohne Mythen, ohne Alle­gorien zu verstehen, kann man die ost­asiatische Lite­ratur und Kultur­geschichte nicht berühren und inter­pretieren. China hat grandiose Schö­pfungs­mythen, die mit den griechischen Mythen ver­gleich­bar sind, zum Beispiel das Shan-Hai-King, die älteste chinesische Mythen­sammlung. Korea und Japan haben auch gewaltige und raffinierte Mythen. Die Verbotene Stadt in Peking beispiels­weise, ein gran­dio­ses Bauwerk, das nach seiner Vollendung um 1420 die gesamte kaiser­liche Residenz beher­bergte, 500 Jahre lang den Mittelpunkt der Welt darstellte und Schauplatz des grandiosen Untergangs der Qing Dynastie war, ist mir fast ein Kanon oder ein aufgeschlagenes Buch voller chinesischer und ostasiatischer Mythen und Symbol­sprachen. Ohne Vor­kennt­nisse über die Mythen und Symbole Ostasiens kann man die Verbotene Stadt überhaupt nicht schätzen und genießen. In Mythen stecken die Tagträume und Inter­pretationen, die gesamte Welt­anschauung eines Volkes. Selbst­verständ­lich benutze ich beim Schreiben die Symbole und Alle­gorien von Mythen um die Viel­deutigkeit des Lebens andeuten zu können.


You-Il Kang 2

Foto: Torsten Hattenkerl

J. Hemkentokrax: Sie verknüpfen die mythi­schen Elemente im Rahmen der Handlung ja häufig mit Ereig­nissen der koreanischen Zeit­geschichte. Welche Rolle spielt die wechselvolle Geschichte Ostasiens und speziell die Koreas für die koreanische Literatur und für Sie?

You-Il Kang: Zurzeit schreibe ich über den Unter­gang der Kai­ser­dynastie Koreas im Zeit­raum von etwa 1836 bis 1910. Diese Ära nenne ich Ghetto des Scheiterns. Der Roman gehört zu meiner Roman­trilogie, deren erster Band Die Klaviersonate 1987 im Jahr 2005 ver­öffent­licht und den Korea­nischen Lite­ratur­preis erhielt. Ich proto­kolliere darin das Scheitern der ost­asiatischen Dynastien Chinas und Koreas. Das Scheitern ist viel herrlicher und grandioser als die Geschichte der am Kapitalismus orientierten Repu­bliken des modernen Ost­asiens.
  Der Opiumkrieg war ein militärischer Konflikt zwischen dem Westen (Groß­britan­nien) und dem Osten (dem kaiser­lichen China der Qing-Dynastie). Das Orakel des Unter­gangs zwang China zur Öffnung seines Reiches. Dieser Prozess der Öff­nung zur Welt war bei der letzten korea­nischen Dynastie Chosun auch sehr tragisch. Als Kaiserin Cixi am 15. November 1908 starb, erklärte sie auf ihrem Totenbett den Pu Yi zu ihrem Nach­folger, aber das war schon der Anfang des end­gültigen Unter­gangs der Qing-Dynastie. Durch die Xinhai-Revolution am 10.10.1911 endete die Dynastie und die Repu­blik China wurde gegründet. Die korea­nische Kaiser­dynastie endete auch im Jahr 1910 durch die japanische Besatzung. Korea schien grausam genug bestraft für seine Selbst­zufrie­den­heit. Diese koloniale Herr­schaft endete mit der bedingungs­lose Kapitu­lation Japans am 15. August 1945, durch die Atombombe Little Boy auf Hiroshima und Fatman auf Nagasaki.
  Die Macht des Schicksals faszi­niert mich. Das Protokoll des Unter­gangs der kaiser­lichen Dynastie und das nationale Schicksal neu zu inter­pretieren bezie­hungs­weise neu zu bewerten war die Jahr­hundert­auf­gabe der korea­nischen Literaten. Später wurden auch der Korea­krieg, die Teilung des Landes, die Moderni­sierung und Indus­triali­sie­rung im Süden und die Ent­fremdung zwischen Nord und Süd the­matisiert. 1950 eskalierte der Kalte Krieg zum Koreakrieg. Das war ein stell­vertre­tender Krieg, vor allem zwischen den USA, die Südkorea unter­stützten und der VR China, die Nordkorea unter­stützte. 1962 standen die Super­mächte und die Welt mit der Kubakrise am Rand eines neuen Weltkriegs. Das so genannte Zeitalter des ´Roten Telefons´ zwischen den USA und der Sowjetunion.
 Der letzte Band meiner Roman­trilogie handelt von dem Militär­putsch im Jahr 1961, der einerseits eine Revolution und anderer­seits die Ver­schwö­rung einer Rebellengruppe war. Dieser Militär­putsch brachte 1961 General Park Chung-Hee an die Macht. Er regierte das Land mit Hilfe eines straffen Sicher­heits­apparates. 1979 wurde er bei einem Festmahl um Mitter­nacht von seinem Gefolge beziehungs­weise vom Chef des Geheim­dienstes ermordet. Das ist kein abge­schlossenes histo­risches politi­sches Kapitel. Im Grunde genommen bin ich un­politisch und kein Patriot, aber ich interes­siere mich für politische Roman­stoffe. In meinen Romanen stelle ich Fragen nach einigen noch wenig beleuch­teten und frag­würdigen Kapiteln der korea­ni­schen und ost­asia­tischen Geschichte

J. Hemkentokrax: Gibt es noch weitere »rote Fäden«, die sich durch ihre Arbeiten ziehen?

You-Il Kang: Bislang habe ich in Korea 33 Bücher veröffentlicht, darunter 21 Romane. Themen sind etwa Sterbe­hilfe und Terrorismus. Meine Prota­gonisten sind Grenz­gänger: Zum Beispiel ein Schauspieler, der seinem tod­kranken Bruder beim Sterben hilft, oder ein Revolutionär, der durch das Zünden einer Bombe seine Utopie Wirklich­keit werden lassen will. Seine Idee heißt: Um morgen eine Realität zu schaffen, in der es keine Unter­drückung und Gewalt gibt, muss man heute bereit sein jemanden zu töten. Ein Urpara­doxon, das sich durch die Literatur zieht von Platon über Camus bis zu Heiner Müller.

J. Hemkentokrax: Sie haben mit 22 Jahren Ihren ersten Roman ge­schrieben, der ebenso wie Ihre folgenden Romane in Korea zum Bestseller wurde. Inwiefern haben dieser Erfolg und die große mediale Aufmerksamkeit Ihre Arbeit als Schriftstellerin beeinflusst?

You-Il Kang: Seit meinem Debüt habe ich beruflich keine Schwierigkeiten gehabt. Von 1975 bis 1990 fand in Korea eine literarische Renaissance statt. Meine Romane wurden fürs Kino oder Fernsehen verfilmt und als Hörspiele ausgestrahlt, aber ich habe das Gefühl, dass ich meine Kraft und Begabung zu sehr abgenutzt habe ohne regelmäßig zu tanken. Niemand kritisierte es, aber ich spürte gravierend, ich will nicht mehr weiter.
  Eigentlich bin ich ein passionierter Leser. Ich wollte tanken. Damals hatte ich eine große Sehnsucht nach der Erweiterung meines Hori­zontes. Romane zu schreiben ist Knochenarbeit. Man muss seine Zeit mit eiserner Disziplin managen und seine Kon­zentrations­kraft bewahren. Am besten ohne Termin, ohne Telefon. Ich mag die Romane, die wirklich nach dem Schweiß ihrer Autoren riechen.
  Viele Aufträge und mediales Engagement kosten viel Zeit und er­heblichen Konzentrationsverlust. Selbstverständlich kann man großen Respekt genießen und die finanziellen Mittel haben, die man zum Schreiben braucht, wenn man ständig in den Medien auftaucht. Ich konnte mich damals auf meine Romane nicht mehr konzentrieren.

J. Hemkentokrax: Haben sich ihr Schreiben und Ihre eigene Sichtweise zum Schreiben dadurch verändert?

You-Il Kang: Früher interessierten mich nur die ästhetischen Aspekte des Schreibens. Später bin ich reifer für die politischen und geschichtlichen Themen geworden, zum Beispiel für die Macht, die Utopie und die Unsterblichkeit.

J. Hemkentokrax: In Deutschland sind Sie ja als Autorin noch nicht so stark bekannt. Gibt Ihnen das auch wieder ein Stück Freiheit für Ihr Schreiben fernab von den Erwartungen einer Leserschaft, die Sie kennt?

You-Il Kang: Hier in Deutschland lebe ich anonym. Aber diese Freiheit ist sehr kostbar für mich. Die Unbekannt­heit und Anonymi­tät tun mir gut, sogar sehr. Weil ich hier die innere Ruhe finden kann, ist Deutsch­land für mich zu einem Rückzugs­raum geworden. Ich habe schon das wahre Gesicht der Berühmtheit gesehen und erlebt. Ich vermisse das nicht mehr. In der Bequemlichkeit lauern durch­schnitt­liche Romane, schreck­licher Dilet­tan­tismus und Selbst­zufrie­denheit. Mein einzige Ambition und Eitelkeit ist, ohne Störung, ohne Kompro­misse, ohne Koket­terie meine Bücher schreiben zu können. Ich habe noch etliche Romane in Planung und will all meine Kraft investieren. Mein Verlag aus Seoul kümmert sich immer treu um mich, und ich bin soweit sehr dankbar.

J. Hemkentokrax: Ihre Seminare am Deutschen Literatur­institut ha­ben ja immer die »großen Themen« zum Titel, zum Beispiel Liebe, Terrorismus, Suizid. Welche Bedeutung haben diese Themen beziehungs­weise ihre kulturelle Vergleich­barkeit in Ihren Augen für Schriftsteller heute?


You-Il Kang

Foto: Torsten Hattenkerl

You-Il Kang: In einem globa­lisierten Zeit­alter verliert man rasch die Identität. Südkorea gehört heute zu den modernsten und wohl­habendsten Ländern Asiens und ist sehr europäisiert, auch ameri­kanisiert. Dabei ignoriert man die lebens­wichtigen alten Werte. In dem Labyrinth, wo Raubtier­kapita­lismus und Casino­kapitalismus lauern, findet man sich in den Gängen kaum zurecht. Themen wie das Klon-Baby oder Sterbehilfe fordern uns, eine klare Lebens­an­schau­ung und Todes­an­schauung zu ent­wickeln. Als Schrei­ben­der, ob man nun in Europa oder in Asien lebt, ist das eine große He­raus­for­derung. Die Literatur sollte ihre klassische Funktion als Prophet oder Wegweiser wieder erlangen.

J. Hemkentokrax: Welche Rolle spielt die Übersetzung beim literarischen Brückenschlag zwischen den Kulturen?

You-Il Kang: Die unter­schied­lichen Charak­tere euro­päischer und ost­asia­tischer Sprache führen bei einer Über­setzungs­arbeit zu fatalen Schwierig­keiten. Durch eine durch­schnitt­liche Über­setzung verliert ein Roman fast das Herz­stück des Textes, beson­ders bei korea­nischer Lite­ratur, weil die gut aus­gebildeten Übersetzer und Mutter­sprachler absolut fehlen. Die korea­ni­sche Regie­rung investiert sehr viel Mühe, trotzdem braucht man noch gut zehn Jahre, um eine Handvoll kompe­tenter Über­setzer vom Korea­nischen ins Deutsche gewin­nen zu können.

J. Hemkentokrax: Gibt es für Sie einen besonderen Reiz am litera­rischen und kulturellen Dialog zwischen Korea und Deutschland?

You-Il Kang: Als literarisches Thema haben Deutschland und Korea eine Gemeinsamkeit, nämlich die Teilung des Landes. Die Berliner Mauer und die DMZ (die militärisierte Zone zwischen Süd- und Nordkorea) oder der 38. Breitengrad in Korea. Die Jahrestage von 20 Jahren Friedlicher Revolution und 20 Jahren Mauerfall in Deutschland habe ich mit großer Emotion beobachtet. Mir ist es ein letztes Märchen und ein Wunder des 20. Jahr­hunderts. Ich habe großes Interesse an DDR-Literatur und der Literatur Nord­koreas. Wie alle Kunstgattungen in Nordkorea unterliegt auch die Belle­tristik der strengen Zensur des nord­koreanischen Regimes. Wichtigste Themen sind die Spaltung Koreas und der Personen­kult um das ver­storbene ehemalige Staatoberhaupt Kim-Il Sung. Hinge­gen hat die DDR-Lite­ratur und Kunst zur Wieder­vereinigung Deutsch­lands ganz ent­scheidend beigetragen.

J. Hemkentokrax: Vielen Dank für das Interview.
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Johanna Hemkentokrax   15.01.2010   
Johanna Hemkentokrax
Prosa
Reportage