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Evolution

Ich bin sehr groß. Das habe ich von meinem Vater. Überhaupt bin ich wie er.

Mein Vater ist unterwegs. Er lebt jetzt auf dem Meer. Du gehst wie ein Seemann, sagt meine Mutter manchmal zu mir. Mein Vater war schon nicht mehr da, als ich auf die Welt kam. Geschwister habe ich nicht. Eins von der Sorte reicht, sagt meine Mutter. Wie mein Vater ist, weiß ich nicht. Er ist noch größer als ich, er trägt eine Jacke aus weissem Leinen und in seinen Augen spiegelt sich der Horizont. Das ist alles, was ich weiß. Wenn ich nach ihm frage, schüttelt meine Mutter den Kopf und geht in das andere Zimmer. Nur, wenn sie böse auf mich ist, spricht sie von ihm. Das hast du von deinem Vater, sagt meine Mutter dann. Du bist wie dein Vater.

Ich will wissen, wie mein Vater ist, deshalb sagt sie es oft. Am häufigsten sagt sie es, wenn ich nicht das tue, was von mir erwartet wird. Ich helfe nicht im Haushalt. Für das Handtäschchen, das mir meine Lieblingstante zu Weihnachten geschickt hat, habe ich mich noch nicht bedankt. Ich lerne nicht für die Schule. Das Einzige, was ich mache, ist die Post aus dem Briefkasten zu holen, aber er ist immer leer.

Die Schule finde ich nicht so schlimm. Ich habe mir angewöhnt, auf jede Frage eine Antwort zu haben. Schlimmer sind die Pausen, da fallen mir keine guten Antworten ein. Die Mädchen singen und hüpfen, die Jungen versuchen, eine plattgetretene Coladose zwischen zwei auf dem Boden liegende Jacken zu kicken. Es ist nicht so, dass ich alleine wäre. Ich spiele nur nicht mit.

Früher war ich eins von den stillen Mädchen. Ich wurde von den Lehrern mit den anderen stillen Mädchen verwechselt und stand schriftlich auf eins und mündlich auf fünf. In den Pausen spielten wir alle zusammen Vogel und Vogelfänger und in den großen Ferien fuhr ich zu Besuch zu meiner Lieblingstante in die Berge und half ihr beim Bügeln.

Meine Mutter und ich verstanden uns gut, wir gingen zusammen spazieren und ins Kino, und mein Vater wurde nicht erwähnt. Aber dann fand ich in der Bilderkiste ein Foto, ein schwarzweißes Passbild von einem jungen Mann mit dunklen Haaren, und ich wusste, da ist noch jemand, der zu mir gehört. Ich fragte meine Mutter, sie sagte, das ist niemand, und ging in die Küche. Ich tat das Foto in meine Truhe und sah es mir an, wenn ich vormittags wieder in der Schule dran genommen worden war, obwohl ich mich nicht gemeldet hatte.

Eines Tages war es nicht mehr da. Welches Bild, sagte meine Mutter, verließ das Zimmer und stellte den Staubsauger an. Ich lief hinter ihr her und zog den Stecker raus. Ich weiß nicht, wovon du sprichst, sagte sie, das ist meine Sache.

Ich habe ein kleines Loch in den Staubsaugerbeutel gemacht, darüber hat sie sich sehr aufgeregt. Sie hat mich angeschrien, dass ich wie mein Vater bin, selbstsüchtig, hinterhältig und gemein, und dass ich aufpassen soll, sonst werde ich eines Tages auch noch da landen, und ich dachte an den jungen Mann auf dem Bild und an das Meer und daran, dass es ihr Recht geschieht.

Im Mülleimer habe ich die Schnipsel gefunden. Ein Stück fehlte, und das Stück mit dem linken Ohr war gelblich mit altem Quark überkrustet. Ich bin ins Kino gegangen, ohne Bescheid zu sagen, und dann noch so lange durch die Gegend, bis es richtig spät war. Meine Mutter war noch wach, als ich kam, sie hat mich angeschrien, und ich habe mich im Badezimmer eingeschlossen, bis es still wurde. Als sie am nächsten Morgen sagte, was mir denn überhaupt einfällt, habe ich zurückgeschrien, dass es nämlich überhaupt nicht ihre Sache ist, sondern auch meine. Dann haben wir beide nicht mehr verstanden, was die andere geschrien hat, bis sie zur Arbeit mußte und ich in die Schule.

Als ich in der Schule ankam, sagte einer, da kommt Mammut. Er sagte es erst wie eine Frage, dann noch einmal wie eine Antwort, und dann sagten es alle.

Zuhause schmiss ich alles weg, was ich nie wieder anziehen wollte, und warf die Tüten in den Müllschlucker. Meine Mutter tobte vor meinem leeren Kleiderschrank und sagte, genau wie dein Vater, das hast du von ihm.

Ich würdigte die anderen keines Blickes, wenn ich morgens den Klassenraum betrat und sie Mammut riefen, Mammut ist so groß und schwer, Mammut läuft nicht auf Füßen, sondern stampft auf Hornplatten. Selbst die stillen Mädchen machten mit. Ich setzte mich auf meinen Platz, sah aus dem Fenster und rutschte schriftlich auf vier.

In den Herbstferien fuhr ich zu meiner Lieblingstante. Wir gingen zusammen ins Museum, sie machte für mich Kakao und Rhabarberkuchen und ich erzählte ihr alles. Kümmere dich nicht darum, sagte sie, dann geht es von selbst vorüber.
In ihrer Bügelwäsche fand ich ein Stück, das ich nicht kannte, eine feste weiße Schärpe mit einem Längsknick. Das ist ein Einsteckkragen, sagte meine Lieblingstante, wenn man mal keine Bluse unter dem Pullover tragen und trotzdem ordentlich aussehen will, ist das sehr praktisch.

Was an einer Kragenattrappe praktisch ist, habe nicht verstanden, und auch nicht, warum sie ordentlich aussehen wollte, und ich dachte auf einmal, wenn die Sache so liegt, ist es vielleicht doch nicht das Schlechteste, Mammut zu sein.

Als sie mich in der Schule wieder Mammut nannten, habe ich mich nicht weggedreht, sondern habe gesagt, ja, und dass sie sich mal besser vor meinen Hornplatten in Acht nehmen sollen, das kann gefährlich werden für Einzeller, wie sie es sind. Mittlerweile bin ich die Einzige, die diesen Namen noch ab und zu benutzt. Ich habe sogar einen kleinen Stempel mit einem Mammut, damit markiere ich meine Bücher und die Leihbücher aus der Schule auch.

Die Lehrer wundern sich, dass ich jetzt mündlich auf eins stehe und schriftlich nur auf vier, und nehmen mich immer wieder zur Seite, um mir zu sagen, ich müsste nur etwas fleißiger sein, dann wäre ich eine sehr gute Schülerin, aber ich halte mich damit nicht auf. Ich habe Wichtigeres vor, deshalb komme ich auch nicht dazu, meiner Tante zu schreiben und ihr zu erklären, dass ich für das Handtäschchen zu groß geworden bin.

Meine Mutter und ich verstehen uns wieder besser, ab und zu gehen wir sogar wieder ins Kino. Eigentlich ist alles gut, nur neulich stand ein fremder Mann vor der Schule. Er hatte weiße Haare und trug einen dunklen Mantel und sagte, erkennst du mich nicht, und dass er endlich raus ist, und warum ich denn nie geantwortet habe.
Er sah unheimlich aus und ein bisschen verrückt. Ich habe nur den Kopf geschüttelt und gesagt, dass ich nicht mit Fremden spreche. Dann habe ich mich umgedreht und bin weggegangen. Zuhause habe ich das zusammengeklebte Passfoto aus meiner Truhe geholt, und zum ersten Mal ist mir aufgefallen, dass ich meine Nase von ihm habe.

Ich weiß nicht, wie mein Vater ist, aber ich weiß, was meine Mutter uns vorwirft. Sie sagt, ich denke nur an mich und nicht an die anderen. Sie hat Recht. Alles zu tun, bloß um die anderen nicht zu stören, das ist etwas für die kleinen Tiere.

Johanna Straub

Johanna Straub
Prosa