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Die Morgengrauen

Mit hochgezogenem Mantelkragen, die Zigarette im Mundwinkel, die Hände in den Manteltaschen - so geht er durch die Kälte.
Jetzt einen warmen Ort finden!
Er geht langsam; er achtet auf die Scheißhaufen, auf die wildgeparkten Autos.
Er schaut an den Häusern hoch, zu den wenigen erleuchteten Fenstern, dann wieder auf den Weg.
Das heiserharte Gekrächze der Krähen lockt ihn: Flieg mit uns aufs frostige Feld, leg dich in die Furche - Nebel und Frost sollen deine Heimat sein.
Überall Scheiße, denkt er.
In einer Souterrainwohnung sieht er eine alte Frau in einem dicken Fotoalbum hin und her blättern. Sie sucht. Sie zieht ihre Nase hoch, immer wieder.
Am schwarzen Firmament sucht er "seinen" Stern ... so fern, so einsam - die kalte Träne im Nichts ...
Im Schutz der ihn umfangenden Dunkelheit steht er, raucht, blickt in die Kneipe auf der anderen Straßenseite.
Kalte Wände, kein Bild. In den Regalen hinterm Tresen: Nichts.
Drei nackte, klare Glühbirnen erhellen den Raum - kaltkrank.
Er sieht, dass alle Tische besetzt sind. Männer in Mänteln sitzen vor Dosenbier.
Eine Kellnerin - ein nicht mehr so ganz junges Ding, irgendwie slawisch aussehend - bringt den Männern ständig Nachschub. Kein Lächeln auf keiner Seite. Kein Dankeschön, kein Bitteschön. Nur kurzes, quittierendes Nicken.
Die Männer am Tresen - auch sie trinkende Mantelträger. Dosenbier scheint das Einzige zu sein, was es gibt. Sie stoßen nicht miteinander an. Sie ziehen den Verschluss auf, setzen an, trinken, wischen sich die Lippen ab.
Das war's.
Sie starren.
Es gibt keinen Fernseher in dieser Kneipe. Nur die Bedienung - wenn man mal vom Heben der Dosen absieht, vom Mundabwischen der Trinkenden - bewegt sich.
Er weiß - er sieht es -, dass keine Musik zu hören ist. Er würde in so eine Kneipe niemals reingehen. Niemals ohne Musik, denkt er. Zu laut wäre das Rauschen des Bluts in den Ohren.
Plötzlich - dann doch: an einem Tisch ein Mann, der sein Butterbrot aus der Manteltasche zieht, es ruhig auspackt und einen schnellen, riesigen Bissen reißt ... und noch einen ... und noch einen ...
Dieser Mann - irgendwoher kennt er ihn, die Gesten, den Blick, die Bewegungen ...
Sein Vater! Gestern hatte er sich zum Sterben hingelegt - und jetzt hockt er hier und frisst gierig sein Brot - genauso, wie er früher das Leben gefickt hat.
Und ebenso plötzlich bleibt das Mädchen, die Frau, die Bedienung, die Kellnerin - die Göttin der Männer - stehen.
So sehen Menschen aus, die ein gefährliches - ein ihr Leben bedrohendes - Geräusch vernommen haben, denkt er.
Sie dreht sich um, dreht sich von allen weg, sie schaut nach draußen, geht an die Scheibe, ganz dicht, sie sucht das Geräusch, den Auslöser des Gehörten, sucht ihn in der Dunkelheit - ihn: Felix, den Glücklichen - ha!
Und sie sieht ihn. Sie erkennt ihn, und sie taucht in seine Augen.
Der Zigarettenrauch beißt - zwei-, dreimal muss er blinzeln.
Er nimmt seine Zigarette mit Zeige- und Mittelfinger, wirft sie schließlich auf den Boden.
Dann geht er auf die Tür - ihre Tür - zu.
Er hat plötzlich großen Durst.
Er weiß, was ihn erwartet.
Er weiß, was er finden wird.
Trotzdem geht er.
Die Kellnerin kommt auf ihn zu - wie, um ihn aufzuhalten.
Sie treffen in der Tür aufeinander; sehen sich an: fassungslos.
Der Krähen Chor schwillt an im kalten Nirgendwo.
Sie gibt ihm etwas, drückt es ihm in die Hand.
Dann dreht sie sich um, geht zurück in ihren Raum.
Er ist erstaunt, dass die Tür einfach so vor ihm zufällt. Einfach so.
Er sieht, wie sie weiter ihre Bierdosen verteilt, so, als wäre nichts geschehen.
Hatte sie ihn vorhin nicht angelächelt? War da nicht was?
Die Männer drinnen im Café - so dumpf. Sehen sie denn nicht?
Der kleine aufgerollte Zettel in seiner Hand, ganz klein und warm.
Er sieht einem Tombola-Los ähnlich - all diesen nichteingehaltenen Versprechen.
Er reißt ihn auf, hoffend - auf was?
"Freie Auswahl", liest er.
Aber er lacht nicht.
Er weiß, was er zu tun hat, morgen, morgen Nacht, wenn er wieder durch die Straßen läuft. Und die Krähen wieder versuchen, ihn aufzuhalten, zu locken.
Nein - er wird kommen.
Er wird.
Und dann
aber
ja
?
Dann holt er sich ab,
was er verdient hat
...

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Jürgen Cleffmann
Prosa