poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Katharina Bendixen
Ans Meer
Seit zwei Wochen ist jeder Tag gleich. Ich stehe gegen sieben auf, schlüpfe in meine Hose und den winddichten Pulli meines Freunds, gehe die Treppen leise nach unten, laufe die leere Dorfstraße entlang bis zur Düne, dann jogge ich zum Hundestrand und zurück. Normalerweise schwimme ich, aber das hat der Arzt mir nicht erlaubt, und das Meer ist ohnehin noch zu kalt. Nur die Schwiegermutter meiner Wirtin schwimmt seit Pfingsten jeden Morgen. Das macht sie, seitdem sie siebzehn ist, und erst wenn sie im Rollstuhl sitzt, hört sie damit auf, hat sie gesagt. Manchmal sehe ich ihren grauen Schopf draußen im Meer. Wenn ich über die Düne zurückkomme, laufen die ersten Urlauber zum Bäcker. Manche von ihnen kenne ich, manche erkennen auch mich und grüßen, aber auf so etwas habe ich früh am Morgen keine Lust. Ich hänge die Sportsachen auf die Leine, dusche heiß und lange, bürste mir den Sand aus den Haaren. Bis ich gefrühstückt habe, ist es halb zehn. Um diese Uhrzeit macht schon der Laden auf, und ich binde die Servierschürze um und schalte die Kaffeemaschine ein.
  Das Leben basiert auf einer einzigen Regel: ans Meer. Ist man durch eine Prüfung gefallen: ans Meer. Hat man seine Arbeit verloren: ans Meer. Ist der Freund weggelaufen: ans Meer. Ist nach langer Krankheit die Mutter gestorben: ans Meer. Möchte man endlich schwanger werden: auch ans Meer. Nach einer Abtreibung: immer ans Meer. Hat man kein Geld fürs Meer: trotzdem ans Meer. Einen Ferienjob suchen. Kann man schwimmen: Bademeister. Kann man tragen: Erntehelfer. Kann man gar nichts: Kellnerin.
  Ich habe Glück, meine Wirtin ist nett. Sie betreibt den einzigen Bioladen der Insel und hat mir noch keine blöde Frage gestellt. „Dafür, dass du noch nie gekellnert hast“, ruft sie aus der Küche, „bist du wirklich gut.“ Ich bücke mich nach einer neuen Packung Kaffee. „Ich hatte noch nie so eine gute Saisonkraft, was machst du eigentlich nächsten Sommer?“ Wenn es mir nicht gut geht, schmiede ich keine Pläne. Ich ziehe die Tassen unter der Maschine hervor und trage sie nach draußen. Seitdem ich hier bin, ist es heiß, und schon ehe wir öffnen, ist die Terrasse über­füllt. Die Leute tragen ihre Badesachen unter den kurzen Hosen und lehnen ihre Sonnen­schirme gegen die Stühle. Wenn sie umfallen, stolpere ich darüber. Oder ich stol­pere über die Kinder, die sich unter den Tischen verkriechen. Am ersten Tag bin ich ver­sehent­lich auf die Hand eines Mädchens getreten. Ich weiß nicht, was lauter war, sein Gebrüll oder das Geschrei seiner Mutter. Ohne zu zahlen, ist die Familie gegangen. Ich habe damit gerechnet, dass meine Wirtin mich raus­schmeißt, aber sie lachte bloß. Nur wenn ihre Schwiegermutter den Raum betritt, verliert sie die Ruhe, dann geht ihr manchmal ein Teller zu Bruch. In der Mittagspause setze ich mich auf die Bank im Garten. Die Schwiegermutter setzt sich dazu und sagt: „Als ich den Laden noch führte, standen Kar­toffel­salat und Erbsen­ein­topf auf der Speisekarte, das haben die Leute geliebt!“
  Am späten Vormittag wird es langsam leer. Während meine Wirtin die Tages­sup­pen kocht, fülle ich den Kühlschrank und die Regale auf. Der Mann meiner Wirtin hat die Vorräte hinter der Kellertür bereit­ge­stellt, er fährt tagsüber von einem Bauernhof der Insel zum nächsten. Seine Mutter schleicht solange durch den Garten, prüft die Markise, kon­trolliert in den Tonnen, ob wir den Müll richtig trennen. Dass sie den Müll kontrolliert, gefällt mir, ich werfe nie etwas in die falsche Tonne. Das ist eine Regel, die ich mag, sie ist einfach zu befolgen: Plastikmüll, Papiermüll, Biomüll, Rest. „Kann ich die Kürbiscremesuppe auch ohne Sahne bekommen“, fragt mittags eine Dame mit geschminkten Lippen, „ist die laktose­frei, bittschön?“ Damen mit geschmink­ten Lippen sind hier selten, und sie kommen immer am Mittag. „Keine Ahnung“, sage ich, „da muss ich fragen.“ – „Dass Sie das nicht wissen“, sagt die Dame, „heutzutage hat doch jeder zweite eine Laktose­intole­ranz.“ Mir ist noch niemand begegnet, denke ich, aber vielleicht hätte mein Kind ja eine bekommen.
  Erst gegen siebzehn Uhr kommen die Leute vom Strand, sie sind struppig und ausgehungert, als hätten sie riesige Wanderungen absolviert. Die besten Tage sind die, an denen eine Suppe nach der anderen ausgeht. Die Leute schieben die Stühle nach hinten und klemmen ihre Strandmatten unter die Arme. „Kommt“, sagt ein Vater zu seinen Kindern, „wir gehen woanders hin, die haben hier die Marktwirtschaft noch nicht begriffen.“ Als ich das der Wirtin erzähle, lacht sie, und ihre Schwiegermutter im Hintergrund zieht ein Gesicht. Die letzten Gäste bestellen Aperol-Sprizz. „Gern“, sage ich, „aber zwanzig Uhr schließen wir, und Aperol-Sprizz gibt es nur in der Stadt. Ich könnte Ihnen eine Runde Sand­dorn­schnaps anbieten.“ Sie bestellen ein fünftes Glas für mich. Aber das kommt nicht in Frage, auch diese Regel ist einfach: Wenn Männer spendabel sind, wollen sie das eine. Wenn sie zu viert sind, wollen sie sich gegen­seitig etwas beweisen. Aber für einen solchen Beweis stehe ich nicht zur Ver­fügung, nicht jetzt.
  Bevor meine Wirtin zusperrt, fege ich aus. Meistens kommt eine ganze Kehrschaufel Sand zusammen, an zwei von drei Tagen liegt eine Spielzeugfigur oder eine Haarspange darin. Danach gehe ich am Strand spazieren. Um diese Zeit ist das Wasser ruhig, die Maschine hat den Sand schon glattgefahren. Ich laufe unten, damit ich das Muster nicht zerstöre. Auch auf Grünflächen gibt es Muster, auf Fußwegen, selbst in manchen Wohnungen. Wer diese Muster zerstört, verliert den Halt, und das ist eine Regel, die ich gerade keinesfalls verletzen darf. Es dauert nicht lange, bis die Mücken kommen. Auf dem Rückweg durch die Dorf­straße klingelt mein Handy. „Wie geht es dir“, fragt mein Freund, „hast du mittlerweile einen Arbeitsvertrag, darfst du die Trink­gelder eigentlich behalten?“ – „Die Blutung hat aufgehört“, sage ic­h, „morgen kann ich endlich wieder schwimmen.“ – „Ich habe nächstes Wochenende frei“, sagt er, „ich könnte dich besuchen, weißt du schon, wie lange du bleibst?“ – „Man denkt immer“, sage ich, „im Urlaub sitzt das Geld locker. Aber das stimmt nicht, die Leute sind knauseriger als zu Hause. Die meisten geben einen Euro, mehr nicht.“ Am Morgen schwimmen wieder Blutfetzen in der Kloschüssel, und ich lege eine neue Binde in meine Unter­hose und schnüre die Turnschuhe fest. Eigent­lich joggt es sich am Strand nicht gut. Oben sinkt man tief in den Sand, unten ist der Sand zwar fest, aber man muss über die Buhnen springen. Manche Buhnen sind richtig breit, große Zement­klötze, die seit Jahrzehnten hier liegen. Sicher wäre ich nicht die erste, die sich beim Joggen am Strand den Fuß verknackst.
  Es gibt Regeln, mit denen selbst ich nicht gerechnet habe, Regeln, die alles andere als einfach sind. Erst am Hunde­strand umdrehen, lautet eine Regel, auch wenn die Beine schon auf halber Strecke zittern, auch wenn man den Wind im Rücken hat und weiß, dass der Weg zurück doppelt anstrengend wird. Sich nichts anmerken lassen, lautet eine andere Regel, auch wenn Damen mit geschminkten Lippen blöde Fragen stellen. Vernünftig sein, lautet eine dritte Regel, verant­wortungs­bewuss­te Ent­scheidungen fällen, auch wenn der Bauch etwas anderes sagt. Der Bauch ist keine verlässliche Quelle, auch das ist für mich eine neue Regel. Eine andere neue Regel lautet: Mit dem Kopf durch die Wand, das ist noch keinem gelungen, und keiner hat ein Kind ohne Geld groß­gezogen, zumindest hat mein Freund das noch nie gehört, und seinen Willen setzt er durch. Bisher hat mir das eigentlich gefallen.

Ich möchte nichts wissen über die Streitigkeiten der Wirtsleute. Aber in der Mittagspause, wenn ich auf der Bank meine Tagessuppe löffle, höre ich ihnen zu. Manchmal geht es um die Bio­lebensmittel, der Wirt will wenigstens Kartoffeln und Fleisch bei einem normalen Bauern kaufen. „Für das Zeug muss ich bis zum Festland fahren“, sagt er, „ich kann mir nicht vorstellen, dass das besser für die Umwelt ist.“ Andere Leute haben ebenfalls Regeln, die wichtigste Regel der Wirtin lautet: „Nichts da, ich liebe die Natur.“ Meistens aber streiten die beiden sich über die Schwieger­mutter, die zwar ein eigenes Häuschen auf dem Grundstück besitzt, die Mahlzeiten aber immer bei den Wirtsleuten einnimmt. Die von den Tagessuppen meiner Wirtin probiert und danach ohne ein Wort die Küche verlässt. Die den Restmüll nach Tetrapacks durchwühlt und die leeren Gemüsekartons aus der Papiertonne nimmt, um sie mit ihrem Cuttermesser in Streifen zu schneiden. „Aber das ist die Abmachung“, sagt der Wirt, „wir haben vereinbart, dass sie den Papiermüll klein schneiden darf.“ Ich glaube, die Wirtsleute wünschen sich ein Kind, aber streiten sich lieber, als ehrlich zueinander zu sein.
  An meinem freien Tag könnte ich ein Fahrrad leihen, Fahrradfahren darf ich längst, der Arzt hat es nur für einen Tag verboten. Aber ich gehe lieber zum Strand. Ich lege mich auf mein Badetuch, das Gesicht zum Meer, stütze mich auf den Ellbogen ab und senke den Blick in mein Buch. Sobald ich aufschaue, grüßt mich jemand: der junge Mann, der allein gekommen ist und jeden Morgen das Fitness­früh­stück nimmt, oder das junge Paar mit dem sechs­jährigen Sohn, der einen Micky-Maus-Teller bestellte, obwohl in unserer Karte gar kein Micky-Maus-Teller steht. Der Krimi ist längst nicht so spannend, wie der Wirt das versprochen hat. Ich glaube, ich kenne den Mörder bereits. In solchen Büchern gibt es besonders viele Regeln, und es sind immer dieselben. Vorn am Wasser läuft eine fünfköpfige Familie mit weißen Gesichtern, wahrscheinlich ist sie gerade angereist. Der Vater hat Locken und trägt eine Leinenhose, die Mutter ist etwas größer und deutlich jünger als er. Hinter ihnen laufen drei Kinder im Alter von zwei bis fünf Jahren, zwischen dem Vater und dem Kleinsten ist ein Abstand von mehreren Metern. Weder Mutter noch Vater drehen sich um, als würde es sie nicht stören, wenn das Meer eines ihrer Kinder verschluckte. Nur die Kinder achten aufeinander, das Größte schaut immer wieder nach dem Kleinsten. So hat sich mein Freund unsere Zukunft vorgestellt, er hat gesagt: „Und dann ziehen wir als Karawane durch die Stadt, oder wie hast du dir das gedacht? Ich finde einkaufen zu zweit schon anstrengend genug.“ – „Andere schaffen es doch auch“, habe ich gesagt. Aber das hat er nicht akzeptiert, und da musste ich ihm Recht geben, die anderen sind für uns noch nie ein Argument gewesen.
  Morgens schwimme ich jetzt im Meer, es ist viel wärmer als vor zwei Wochen. Nur an den wenigen windstillen Tagen schwimmt es sich gut, meistens habe ich Mühe, mich über Wasser zu halten. Wenn eine Welle mich hochhebt, sehe ich den Schopf der Schwiegermutter. Ich spucke Salzwasser aus und überlege, in welcher Woche ich jetzt wäre. Ich wusste nicht, dass man die Wochen so schnell vergisst, ich dachte, man hört nie auf zu zählen, bis zum Geburtstermin und darüber hinaus. „Kann es sein, dass Elli ein Kind gekriegt hat“, fragt mein Freund, „ich habe sie in der Stadt gesehen, mit einem Kinderwagen.“ – „Keine Ahnung, was die jetzt macht“, sage ich. Ich liege wieder am Strand, heute lassen die Mücken auf sich warten. „Es ist merkwürdig“, sage ich, „die Urlaubs­kinder hier pral­len an mir ab. Aber Ellis Kind, das macht mich richtig fertig.“ – „Vielleicht war es gar nicht ihr Kind“, sagt mein Freund, „ihre Schwester war auch dabei, glaube ich.“ Er fragt: „Das macht dich immer noch fertig?“ Jetzt kommt die erste Mücke, sie sucht nach der passenden Stelle auf meinem Unterarm. Ich beobachte, wie sie landet, ihre Beine sind nicht zu spüren. Ich sage: „Du Arsch“, dann lege ich auf. Eine Regel besagt, dass man in schlimmen Momenten grob sein darf, aber war das jetzt ein schlimmer Moment?
  Das Schwierigste ist zu wissen, wann welche Regel gilt, und man muss die Ausnahmen kennen. Für jede Regel, schätze ich, gibt es drei bis vier wichtige Ausnahmen. Drei- bis viermal muss man nicht vernünftig sein, drei- bis viermal darf man mit dem Kopf durch die Wand, egal, was der Freund sagt, egal, was er will. Und das schafft man dann auch, dann kommt man tatsächlich mit dem Kopf durch die Wand, und man zieht ein Kind ohne den Vater und ohne Geld groß, und sei es als Kellnerin am Meer.

Ich trage gerade Geschirr in den Laden, als der Wind die Schreie über die Düne trägt. Meine Wirtin kommt aus der Küche gelaufen, ihre Schwiegermutter kommt aus dem Garten ums Haus. Zu dritt stehen wir nebeneinander, als eine Frau über die Düne rennt. Das erste, was ich sehe, sind ihre hüpfenden Brüste. Sie ist braun gebrannt und trägt ein gestreiftes Bikini­höschen, und darüber hüpfen ihre Brüste auf und ab, und sie rennt so schnell, dass der Sand gegen ihre Waden stiebt. Mit Daumen und kleinem Finger macht sie das Zeichen für ein Telefon, aber ich verstehe nicht, was sie meint, wen sollen wir anrufen? Außer uns sind zwei Damen mit geschminkten Lippen auf der Terrasse, sie rühren in ihren Suppen. Es ist merkwürdig, denke ich, dass sich innerhalb von zehn Metern die Kleider­ordnung grundsätzlich ändern kann: Was am Strand keinerlei Auf­sehen erregt, ist hier anstößig. „Schnell“, ruft die Frau, „holen Sie einen Kranken­wagen!“ – „Was ist mit der Wasser­rettung“, fragt meine Wirtin, „haben die nicht in die Stadt gefunkt?“ – „Weg“, ruft die Frau, „alle weg.“
  Am Abend ist die Dorfstraße leer, ich fege eine Stunde eher aus als sonst. Es kommt nicht einmal eine halbe Kehrschaufel Sand zusammen, darin liegt ein weinroter Haar­reifen. Ich werfe ihn in den Plastikmüll, der Sand kommt in den Restmüll. Es ist einiges übrig geblieben, meine Wirtin serviert ihrer Schwie­ger­mutter und ihrem Mann eine große Portion Tages­suppe, mir gibt sie eine Schale mit auf mein Zimmer. Als der Mann meiner Wirtin vorhin vom Festland zurückgekehrt ist, wusste er Bescheid, im Radio wurde nichts anderes gemeldet. Mindestens fünfzehn Leute sind in dem Strudel ertrunken, eine Frau wird vermisst. Alle hoffen, dass sie irgendwo im Meer treibt, verbrannt von der Sonne und durstig, aber am Leben. Sobald es hell ist, geht die Suche weiter. Ich sitze in meinem Zimmer und löffle die Suppe, als mein Telefon klingelt. „Wann kommst du zurück“, fragt mein Freund, „das passt doch gar nicht zu dir, dass du dich verkriechst.“ Und ich gebe ihm recht, in meinem Leben ist verkriechen nicht die Regel. Vielleicht darf ich es jedoch für den Moment, vielleicht gilt gerade jetzt eine Ausnahme.

Aus: Gern, wenn du willst. Erzählungen. poetenladen 2012

 

 
Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch