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Christoph Wilhelm Aigner

Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk

Eine Heldengeschichte

Christoph Wilhelm Aigner | Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk
Christoph Wilhelm Aigner
Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk
Roman
DVA 2006
Wie Johann Nepomuk Müller zu seinem ausgefallenen Namen gekommen ist, gibt Rätsel auf: Er ist ein 17-jähriger Junge im Österreich der beginnenden 70er Jahre aus einer Familie der untersten Bildungsschicht. Von seinen Eltern hat er immer gehört, dass aus ihm nichts anderes als ein Verbrecher werden kann. Für Nichtigkeiten wurde er mit Essensentzug und Schlägen bestraft. Durch die Einschulungs-Untersuchung ist er gefallen, weil er die Märchenfiguren auf den Bildern nicht erkannte: Von Märchen hat er nie etwas gehört. Sein Vater hat die Familie inzwischen verlassen, und seine Mutter erwartet von Johann, dass er den Lebensunterhalt auch für sie selbst mitverdient. Wenn seine Klassenkameraden in den Sommerferien in den Urlaub fahren, arbeitet Johann in einer Gurkenfabrik. Für den Aufsatz über das schönste Ferienerlebnis bekommt er dann ein Genügend: „Thema verfehlt“. In den Nachtstunden muss Johann das Geld in der Paketverteilung verdienen und wird von seinen Klassenkameraden gemieden, weil er verschwitzt riecht. Sein größtes Talent und seine Zukunft ist das Fußballspielen. Aber ehe er Profifußballer wird, möchte er das Gymnasium beenden.

Der Name Johann Nepomuk verweist jedoch schon darauf, dass es kein gewöhnlicher Junge aus dem unteren sozialen Milieu ist, von dem der Roman Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk von Christoph Wilhelm Aigner handelt. Johann interessiert sich für moderne Kunst, und er würde gerne lesen, wenn seine Eltern ihm Bücher nicht verbieten würden. Eine vollkommen neue Welt erschließt sich für ihn, als er eines Abends auf dem Nachhauseweg vom Training eine Vergewaltigung verhindert. Das Opfer ist Mariella, eine 24-jährige querschnittsgelähmte Frau, die zusammen mit ihrem alkoholkranken Vater ein ähnlich trauriges, jedoch nicht ganz so abgeschottetes Dasein fristet wie Johann. Er besucht Mariella und ihren Vater regelmäßig, und zum ersten Mal stellt er fest, dass es Menschen gibt, die an ihm interessiert sind und ihm sogar ein Geburtstagsgeschenk machen. Die wohltuende Veränderung in Johanns Leben ist jedoch getrübt: Mariella erhält Drohanrufe von den Tätern, dass der Retter bald nicht mehr leben wird.

Die unterschwellige Gewalt ist eines der Motive, die Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk zusammenhalten und ihm zu seiner Komplexität verhelfen. Nicht nur die Gewalt, die über Johann als Racheaktion der Täter droht, ist jederzeit präsent, es sind auch die Nachwirkungen des Krieges, der sich in den Köpfen der Menschen gehalten hat. Der extrem autoritäre Erziehungsstil im Elternhaus und in der Schule verweist darauf; die moderne Kunst, die Johann gefällt, ist „entartet“, und Mariellas Vater ist als Überlebender des Holocaust vor Beschimpfungen und Sprüchen an der Hauswand nicht sicher. „Weißt du“, sagt Mariella an einer Stelle des Romans zu Johann, „wenn sie die Sachen, die dir gefallen, entartet nennen, oder dich einen unnützen Fresser und so, da ist alles ja noch da, ist nicht weg.“

Der zweite Faktor, der dem Roman eine ungeheure Tiefe verleiht, ist die Figur des Johann selbst. In einer jugendlich-abgebrühten Sprache ist das Buch verfasst, und das wiegt schwer auf über 400 Seiten. Jedoch wirkt der mit Kraftausdrücken und englischen Wörtern gespickte Sprachstil an keiner Stelle angestrengt oder aufgesetzt, sondern immer authentisch. Johann erzählt von seinen Klassenkameraden und sich: „Nein, wir hatten keine Worte. Weder zu Hause noch auf der Straße […] Unser Reden bezog sich aufs Unmittelbare. Wir hatten keine Worte, weil es auch kein Recht gab für uns. Ohne Rechte keine Worte. Das Kind ist immer der Angeklagte.“ Die harte Realität der 70er Jahre, in die sich Aigner begibt, wird gleichzeitig aber aufgebrochen durch Dialoge wie diesen: „Es stimmt schon, fügte er hinzu, am besten wäre es überhaupt, gar nicht geboren worden zu sein. Ja, sagte ich, aber wem gelingt das schon, unter tausenden kaum einem, mathematisch ausgedrückt.“

Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk ist kein typischer Entwicklungsroman über einen Jugendlichen, denn Aigner beschreibt Johanns Leben im provinziellen Österreich nur über ein bis zwei Monate und fügt dem gezeichneten Charakterbild durch zahlreiche Rückblenden und Zeitensprünge lediglich die benötigten Erklärungen hinzu. Eine Entwicklung kann auch gar nicht stattfinden, denn Johanns Leben ist von seiner Geburt an vorgezeichnet. Es ist auch keine Sozial- oder Milieustudie, die moralisch mit erhobenem Zeigefinger daher kommt, oder die Liebesgeschichte zwischen Johann und Mariella. Es ist ein kleiner Weltausschnitt, ein kleiner, nicht alltäglicher Held, von dem Aigner berichtet, und während des Lesens bleibt das Gefühl nicht aus, dass genau von diesem Ausschnitt und diesem Helden erzählt werden muss, so fern das Milieu des Romans auch scheinen mag, weil Figuren wie Johann sonst vergessen würden. Und nicht nur erzählt werden muss die Geschichte, sondern sie muss auch gelesen werden. Denn Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk sperrt sich gegen sprachliche und inhaltliche Kategorien und ist dadurch genau wie sein Held nicht alltäglich.
Christoph Wilhelm Aigner, geboren 1954 in Wels/Oberösterreich, studierte in Salzburg, lebt in Italien. „World Literature Today“ zählt ihn zu den wichtigsten zeitgenössischen Dichtern. Seine Bücher erscheinen bei DVA, zuletzt die Übersetzung der Lyrik Giuseppe Ungarettis Zeitspüren (2003) und die Gedichtbände Logik der Wolken (2004) und Kurze Geschichte vom ersten Verliebtsein (2005).

Katharina Bendixen     21.11.2006

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch