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Clemens Meyer

Die Nacht, die Lichter

Männerwelten der Wortlosigkeit

Clemens Meyer | Die Nacht, die Lichter
Clemens Meyer
Die Nacht, die Lichter
Stories
S. Fischer 2008
Lichter der Nacht lassen an Kerzen in Kneipen, an Laternenflackern auf Straßen, an wohnlich erleuchtete Fenster denken. Noch heller als tags verbreiten die Lichter in der Nacht ihre künstlichen Strahlen, sie blenden und wärmen gleichzeitig. Eine besondere Bedeutung bekommen sie, wenn die Stromrechnung nicht bezahlt ist: Plötzlich hat die Nacht eine bedrohliche, eine unkontrollierbare Dimension. Nachts verspricht ein Gefängnisinsasse seinem Zellengenossen, dass er während seines Urlaubs dessen Tochter besuchen und ihm von ihren Augen berichten wird. Nachts schießt ein Drogenkranker auf Entzug erst auf die Laterne vor dem Fenster und dann auf seine Freundin. Nachts kommt Männern aufgrund übermäßigen Alkoholkonsums die Männlichkeit abhanden.

Clemens Meyers Erzählband Die Nacht, die Lichter spielt nicht immer nachts, aber er spielt hauptsächlich mit denen, die ihre Stromrechnung nicht zahlen und sich selbst manchmal nicht kontrollieren können. Es sind Männerwelten der Wortlosigkeit, in die Meyer eintaucht und mit denen er sich in die Nähe seines vielfach ausgezeichneten Debütromans Als wir träumten schreibt. Formal jedoch bietet Meyer Neues: Erstaunlich flexibel wechselt er zwischen den verschiedenen Erzählansätzen, ohne sich in poetologischer Beliebigkeit zu verlieren. Klassische amerikanische Short Storys wie die Schilderung des Arbeitsmikrokosmos' im Metro-Markt inklusive Romanze am Kaffeeautomaten stehen neben fast surreal anmutenden Traumwelten wie der Geschichte um einen desorientierten Weinhändler, der während einer Zugfahrt nach Bitterfeld aufwacht, ohne sich an den Verlauf der letzten Stunden erinnern zu können.

Fast ausnahmslos männliche Protagonisten haben Hunde, keine Arbeit oder Gefängnisstrafen abzusitzen. Da wartet einer auf Post aus Südamerika und findet im Briefkasten doch nur Briefe vom Amt und Absagen von Firmen, bei denen er sich beworben hat. Da ist ein anderer Aufbaugegner beim Boxen: Er wird nur engagiert, damit seine Gegner gewinnen und ihre Statistiken verbessern können. Wieder ein anderer verkauft Kopfschmerztabletten als Ecstasy und ist sich sicher, damit den ganz großen Gewinn zu machen. Meyers Protagonisten versuchen viel und erreichen wenig: „Er versuchte, so mit dem Schlüsselbund zu klappern, dass es irgendwie südamerikanisch klang.“ Nur sehr selten, wenn Meyer seine Männerwelten verlässt, bekommen seine Geschichten etwas Schwerfälliges. Dann klingt die aus der Hydraulikanlage austretende Luft beim Senken der Gabel des Gabelstaplers nicht mehr leicht wie das Rauschen des Meeres.

Wie um ein zu gleichmäßiges Rauschen zu zerstören, lässt Meyer in seinen Erzählungen poetische Fremdkörper auftauchen, die zu Bier und Boxen nicht passen wollen: den dunkelroten Cocktail zum Beispiel, den das Mädchen aus der Titelerzählung trinkt, während sie und der Ich-Erzähler versuchen, eine Entfremdung rückgängig zu machen, oder die Monroe, die sich als Schönheits-Vergleich in eine Geschichte geschlichen hat. Und auch wenn es in Meyers Erzählungen statt wohnlich erleuchteten Fenstern harte Gepflogenheiten gibt, empfinden seine Figuren ebenfalls häufig so etwas wie einen Gefühlsfremdkörper: eine starke Hoffnung, manchmal ein großes Vertrauen in sich selbst, Gefühle, die Meyer zwischen der Wortlosigkeit aufscheinen lässt.
Clemens Meyer, geb. 1977 in Halle/Saale, lebt in Leipzig. Nach dem Abitur arbeitete er als Bauhelfer, Möbelträger und Wachmann. Von 1998 bis 2003 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für seinen Roman Als wir träumten wurde er mit dem Rheingau-Literatur-Preis, dem Märkischen Stipendium für Literatur, dem Förderpreis zum Lessing-Preis sowie dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet.

Katharina Bendixen     12.02.2008

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch