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José Saramago

Die Stadt der Sehenden

Politisch-menschliches Versagen

José Saramago | Die Stadt der Sehenden (Roman - Rowohlt 2006) Manche Bücher möchte man nicht rezensieren, sondern nach dem Lesen still beiseite legen. Einige davon sind so schlecht, dass es sich nicht lohnt, auch nur ein Wort über sie zu verlieren. Und für einen anderen Teil dieser Bücher scheint die Sprache nicht zu genügen, um sie gebührend zu würdigen. Ein solches Buch ist José Saramagos neuer Roman Die Stadt der Sehenden. Es ist nicht „grandios“, es ist kein „Meisterwerk“, es ist kein „grandioses Meisterwerk“, sondern viel mehr als das.

Saramago entwirft in Die Stadt der Sehenden den Alptraum des demokratischen Staates schlechthin: Bei der Kommunalwahl in einer namenlosen Hauptstadt geben achtzig Prozent der Bevölkerung einen weißen Stimmzettel ab. Eine Wiederholungswahl erzielt dasselbe Ergebnis. Die Regierung ist fassungslos, verlässt kurzerhand den Regierungssitz, ruft den Belagerungszustand aus und lässt eine bewachte Mauer um die Stadt ziehen. Die „Weißwähler“ sollen gebrandmarkt werden, indem die Regierung ihnen ein Bombenattentat auf einen stark frequentierten U-Bahnhof unterschiebt, das sie in Wirklichkeit selbst inszeniert hat. Spione werden in die Hauptstadt geschickt, um herauszufinden, wie es zu diesem katastrophalen Wahlergebnis kommen konnte. Willkürlich werden unschuldige Menschen eingesperrt und verhört, zu einer Klärung des Vorfalls kann es dabei jedoch nicht kommen. Schließlich erreicht das Ministerium ein Brief, in dem die sehende Frau aus Saramagos Roman Die Stadt der Blinden beschuldigt wird, Ursache des Debakels zu sein. Nun hat die Regierung einen Sündenbock, und eine polizeiliche Untersuchung beginnt, deren Ergebnisse bereits im Vorhinein feststehen.

Saramago schildert in Die Stadt der Sehenden einen möglichen, wenn auch unwahrscheinlichen politischen Vorfall und führt durch die Beschreibung der diktatorischen Maßnahmen, die die fiktive Regierung angesichts des Versagens der Demokratie ergreift, den demokratischen Staat ad absurdum. Der Titel des Buches ist eine Referenz an einen früheren Roman Saramagos, Die Stadt der Blinden, wobei der übersetzte Parallelismus im Deutschen eher eine Notlösung scheint und im Portugiesischen wesentlich schöner klingt: Ensaio sobre a Cegueira und Ensaio sobre a lucidez.

Die Stadt der Sehenden ist aber nicht nur ein politisches, sondern auch ein zutiefst menschliches Buch: Die Reaktionen der verschiedenen Minister, der Polizeikommissare und des Bürgermeisters reichen vom harten, undemokratischen Durchgreifen über das Niederlegen des Amtes bis hin zum versuchten Boykott der Regierungsmaßnahmen. Durch die detaillierte Beschreibung dieser Reaktionen zeichnet Saramago genaue Charakterstudien der überforderten Verantwortungsträger.

Mit seiner reflektierenden Sprache und dem oftmals künstlichen Satzbau macht Saramago es dem Leser wahrlich nicht leicht. Über die Beerdigung der bei dem Bombenattentat umgekommenen Menschen heißt es zum Beispiel: „Von irgendjemandem geschickt, keiner weiß, von wem, doch bestimmt nicht von der Stadtverwaltung, die, wie wir wissen, so lange ohne Befehligung bleiben wird, bis der Innenminister den erforderlichen Ablösebeschluss verfasst hat, von irgendjemandem geschickt, keiner weiß, von wem, sagten wir, tauchte in der Grünanlage plötzlich wie ein gigantischer Magier eine riesige, mehrarmige Maschine auf, eine dieser so genannten Multifunktionsmaschinen, die in einem Atemzug einen ganzen Baum ausreißen und die siebenundzwanzig Gräber in der für ein Stoßgebet benötigten Zeit hätten ausheben können, wären da nicht die ebenfalls der Tradition verpflichteten Friedhofstotengräber vorstellig geworden, um die Arbeit von Hand zu verrichten, sprich, mit Spaten und Schaufel.“

Solche Sätze sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel in Saramagos Sprache und führen in ihrer Wortgewalt das Ausmaß des Beschriebenen noch deutlicher vor Augen. Nein, kein „grandioses Meisterwerk“ hat Saramago geschrieben, sondern einen Roman, den man nicht mit einer Wortgruppe umreißen kann, der nur ohne Vergleiche auskommt, der unvergleichlich ist.

José Saramago      José Saramago
Die Stadt der Sehenden
Roman
Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006

José Saramago, geboren 1922 in Azinhaga, einem Dorf in der portugiesischen Provinz Ribatejo, entstammt einer Landarbeiterfamilie. Der Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt 1998 den Nobelpreis für Literatur. Saramago lebt auf Lanzarote.

© 19.04.2006  Katharina Bendixen            Print

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch