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Tim Parks

Stille

Die Allmacht der Medien und Menschen

Tim Parks | Stille
Tim Parks
Stille
Roman
Kunstmann 2006
Was für ein Glück, kurz vor Jahresende unverhofft auf einen der besten Romane des Jahres zu treffen, noch dazu, wenn er im winterlichen Südtirol spielt und ein wenig Schnee in die trübe deutsche Kälte bringt! Stille heißt das Meisterwerk des britischen Autors Tim Parks, und ein weiteres Mal beschäftigt sich Parks mit seinen Themen Politik, Familie und Liebe. In seiner Konzentration auf einen Protagonisten erinnert Stille ein wenig an Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic, in seinem Sujet, der Flucht vor der Zivilisation, an Pferde stehlen von Per Petterson.

Harold Cleaver ist ein erfolgreicher englischer Journalist, der gerade den amerikanischen Präsidenten in einem Interview auf politisch korrekte, menschlich unkorrekte Weise bloßgestellt hat. Er steht im Zenit seines Ruhmes, aber er möchte fliehen. Sein ältester Sohn Alex hat ein stark autobiografisches Buch namens Im Schatten des Allmächtigen veröffentlicht, das für den Pulitzer-Preis nominiert wurde. In diesem Buch rechnet Alex mit seinem Vater ab: Jahrelang hat Harold seine Kinder mit seiner tyrannischen, selbstgerechten und zynischen Art in ihrer Entwicklung gehemmt und angeblich sogar seine Tochter, Alex' Zwillingsschwester, in den Tod getrieben.

Harold fliegt nach Südtirol, fährt nach Luttach und mietet sich ein einsames Haus ohne Wasser und Strom auf dem Gipfel eines Bergs oberhalb der Lärmgrenze. Hier möchte er die vollkommene Stille erleben, aus der medialen Welt aussteigen und sich ganz auf sich selbst besinnen. Die Flucht gelingt aber nicht. Nur unter einer immensen Willensanstrengung kann er sich dazu zwingen, sein Handy nicht mehr anzustellen. Seine Gedanken kann er jedoch im Gegensatz zu den technischen Geräten nicht kontrollieren: Ständig zitiert er Stellen aus Alex' Buch, denkt darüber nach, wie seine Verwandten und Bekannten wohl auf seinen Gewichtsverlust reagieren werden, und reflektiert sein neues äußeres Erscheinungsbild mit Schneeschuhen und einem ländlich-rustikalen Hut. Als ein Wanderer in der Nähe seiner Hütte auftaucht, wartet Harold darauf, dass diesem sofort ein Kamerateam folgt. Die mediale Omnipräsenz kann er nicht verdrängen.

Parks charakterisiert seinen Protagonisten auf zwei Arten: einerseits durch den Filter der Wahrnehmung und Harolds Gedanken und Gefühle, andererseits durch die ständigen Zitate aus Alex' Buch: „Mein Vater, hatte Alex in Im Schatten des Allmächtigen geschrieben, ...“ heißt es an zahlreichen Stellen des Romans. Und auch wenn Harold seinen Sohn insgeheim dafür verdammt, das gesamte Familienleben der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben, muss er doch gleichzeitig zugeben, dass Alex mit vielen seiner Beschreibungen recht hat.

Harold verliert durch die Einsamkeit nicht nur die Kontrolle über seine Gedanken, sondern auch den Bezug zur Realität. Er spricht mit einer Puppe namens Olga und einem hölzernen Troll. Die entstehende Leere versucht er auszufüllen, indem er dem Familiengeheimnis seiner Vermieter auf die Spur kommen möchte, gleichzeitig beschäftigt er sich gedanklich mit seiner eigenen Familiengeschichte, dem Tod seiner Tochter und dem labilen Verhältnis zu seiner Frau. Parks konzentriert sich vollkommen auf seinen mächtigen, fast „allmächtigen“ Protagonisten und stellt dessen Familie und die Tiroler Dorfbewohner lediglich in Harolds Gedanken dar. Obwohl Stille keinen Spannungsbogen im üblichen Sinn besitzt und in seiner akkuraten Beschreibung zahlreicher Einzelheiten sprachlich eher anstrengend ist, bleibt es doch unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen. Ohne vordergründige Kritik stellt Parks die Allmacht der Medien und die Allmacht eines Familienvaters und Ehemanns in Frage, der durch die Medien zu einem funktionsfähigen und erfolgreichen, doch defizitären Menschen geworden ist.
Tim Parks, geboren 1954 in Manchester, lebt heute mit seiner Familie in Verona und lehrt an der Universität Mailand. Er schreibt regelmäßig für den New Yorker und die New York Times, ist ein profunder Kenner Italiens und hat bisher 14 Bücher veröffentlicht. Er gewann zahlreiche Literaturpreise, darunter den Somerset-Maugham-Award.

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Katharina Bendixen     30.12.2006    

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch