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6 Zu den Kolumnen

Das Mütterchen hat Krallen
Christiane Geldmacher sucht Bruce Chatwins Porzellansammlung

Ich bin in Prag. Sitze in einem Café und schreibe diese Kolumne, wie es sich in dieser Stadt gehört. Es ist im Museum der Dekorativen Künste. Möbel, Bücher, Kreuze, Glas, Zinn, Porzellan. Vor allem wegen Letzterem bin ich hier. Ich suche das Porzellan von Utz. Bruce Chatwin hat ein Buch über einen tschechischen Adligen geschrieben, der im Kommunismus enteignet wurde und seine Porzellansammlung in eine ihm zugewiesene Zwei-Zimmer-Wohnung retten konnte.

Natürlich habe ich lauter Prag-Bücher dabei: Kafka, Werfel, Kundera und Chatwin. Von Kafka kann das ganze Werk als Pragroman gelten, insbesondere das Schloss. Seit ich den Hradschin täglich vor mir habe, begreife ich nicht, wie es Zweifel daran geben konnte, dass der Hradschin nicht das Schloss gewesen sein soll. Es ist typisch Kafka, es ist sein Thema, er wendet sich in seinem Werk gegen die ganze Regierung und gräbt sie rhizomatisch von der Kleinseite aus an. Beziehungsweise vom Alchimistengässchen aus, unten links, das Gässchen führt direkt auf das Gefängnis zu.

Das nächste Buch, das ich las, war Franz Werfels Abituriententag. Der Hradschin, die Kleinseite, die Alt- und Neustadt, alles da. Kafka hat Werfel immer sehr bewundert. Man versteht, was er meint, wenn man den Abituriententag liest. Im Nu stehen die Hauptfiguren und der Grundkonflikt da. Ein Richter drangsalierte in seiner Gymnasiastenzeit einen hochbegabten, aber sensiblen Mitschüler, der schließlich nach Hamburg ausreiste. Ausgerechnet dieser Mitschüler sitzt 20 Jahre später vor ihm und hat eine Prostituierte umgebracht. Nachdem der Richter dem Leser mit schonungsloser Selbstkritik seine Schuld daran bekannt hat, stellt sich heraus, dass der Delinquent gar nicht der ehemalige Mitschüler war. Gut aufgelöst, eine Pointe am Schluss – und doch! Kafka hätte sich mit diesem Schluss nicht zufrieden gegeben und das ist wohl der Grund, warum man hier in Prag auf Schritt und Tritt Kafka begegnet – auf T-Shirts, Kaffeebechern, Plakaten – und nicht Werfel. Werfel begegnet man gar nicht.

Buch Nummer Drei war – klar! – Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Ich nehme gleich noch als Viertes Utz von Bruce Chatwin dazu. Beiden Bücher sind essayistisch geschrieben, haben offene Schlüsse. Der eine philosophiert über die Liebe, der andere über Sammelleidenschaft und Privateigentum zur Zeit der kommunistischen Herrschaft.

Kunderas Buch ist eine Liebesgeschichte mit vier Personen, zwei können die Liebe leben, zwei andere nicht. End of story. Kalifornien. Ein Dorf auf dem Land in Böhmen, ein schadhafter Lastkraftwagen und zwei sterben in der gleichen Sekunde. Wahre Liebe – eben.

In Utz ist viel die Rede von Dresden, das nur einen Steinwurf entfernt ist, von August, dem Starken und der Meißner Porzellanmanufukatur. Nach Utz' Tod ist die Porzellansammlung weg und Chatwin, seines Zeichens Kunsthändler, fängt an, sie zu suchen und landet unter anderem auf einer Müllkippe in Prag.

Chatwin, der Engländer, erzählt so realistisch, dass ich mich selbst frage, wo diese Porzellansammlung ist, obwohl ich mit Porzellan gar nichts anfangen kann. Ich finde es kitschig. Google diesem Utz hinterher, aber nichts kommt rein, nur Chatwin selbst erscheint daraufhin in zahlreichen Links.

Und deswegen sitze ich jetzt hier im Café des Museums der Dekorativen Künste. Hier war die Porzellansammlung nicht.

Es gibt übrigens auch zeitgenössische Pragromane. Liebe und Müll von Ivan Klima dreht sich um einen Schriftsteller während der kommunistischen Herrschaft mit Schreibverbot; Närrisches Prag der deutschsprachigen Lenka Reinerova erzählt von den Geheimnissen Prags und seinen Geschichten und Anekdoten; und Handbuch für russische Debütanten des Amerikaners Gary Shteingart schildert jene Expatriate-Generation, die in dem Prag der 1990er Jahre die Bohemiens spielten und in der tschechischen Hauptstadt das Paris der Jahrhundertwende von 1900 sahen.

Gelesen habe ich sie noch nicht. Auf meiner Liste für zu Hause stehen auch noch Egon Erwin Kisch, Bohumil Hrabal, Pavel Kohout und Václav Havel.

Aber: Wo ist die Porzellansammlung von Utz?

© Christiane Geldmacher         

 

Christiane Geldmacher
Kolumne
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