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1 Kolumne

Bitte zehn deutsche Titel!
Christiane Geldmacher muss einen Literaturkanon schreiben

Letztens hat mich eine befreundete Autorin gefragt, was sie lesen soll. Sie würde in Urlaub fahren und ich möchte bitte eine Liste machen. "Das machst du doch gern (Listen), bitte zehn Titel, bitte deutsch." Ächzend mailte ich zurück, dass sie - erstens - noch nie auf Empfehlungen von mir gehört hat, dass wir - zweitens - einen völlig unterschiedlichen Geschmack haben und dass sie es - drittens - in Drei Gottes Namen mit Wilhelm Genazino und Arnold Stadler probieren soll. Mit den beiden kann sie nichts falsch machen, mehr deutsche Autoren fallen mir nicht ein. Jedenfalls nicht für sie.

Sie liest nämlich überhaupt nichts Zeitgenössisches. Hasst Popliteratur. Hasst junge Autoren. Hasst Gewalt. Hasst Sex.
Lieber was Historisches.

Ich lese nichts Historisches.
"Also gut, das mit diesen zwei Leutchen bringt ja nichts", mailt sie zurück, "ich erhöhe auf europäische Literatur!"
Ich verweise sie auf die Wochenzeitung in ihrem Briefkasten (Die Zeit) und betone, dass sie mit Ulrich Greiner und Iris Radisch eine ausgezeichnete Literaturredaktion hat, deren Urteil man vertrauen kann.
"Los, mach jetzt hin mit der Leseliste, ich habe mir schon wieder fünf historische Romane bestellt!" Also gebe ich auf und schreibe die verflixte Liste (Nicht deutsch, nicht zeitgenössisch, einfach zehn Bücher):

  1. Franz Kafka, Der Prozess
  2. Jane Austen, Emma
  3. Lawrence Durrell, Alexandria-Quartett
  4. Joan Aiken, Jane Fairfax
  5. Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht
  6. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
  7. Virginia Woolf, Mrs. Dalloway
  8. David Malouf, Verspieltes Land
  9. Bruce Chatwin, Traumpfade
  10. Heinrich von Kleist, Die Marquise von O...

Das war die brutalstmögliche Nichtnennungsliste, die mir einfiel. Dementsprechend schlecht war meine Laune, als ich sie abschickte. Nicht genannt waren James Baldwin und Blaise Cendrars, nicht Samuel Beckett und Edgar Allen Poe, nicht Thomas Bernhard oder Patricia Highsmith. Eigentlich war niemand genannt.
Die Betreffzeile der Antwort lautete: Das ist nicht dein Ernst, oder? Und weiter: "Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist 3000 Seiten lang! Das Alexandria-Quartett? Hast du nicht was Kleineres da?"
Doch! Die Marquise von O!
Die habe ich schon in der Schule gelesen. Ich glaube, ich halte mich lieber an deine Krimiliste!
Die hatte ich ihr vor einem Monat geschrieben.
Jetzt hat sie sich also erst mal für die Krimiliste entschieden. Mit den italienischen Autoren Fruttero & Lucentini und Andrea Camillieri.
Gut, das passt natürlich.
Aber ich sehe es schon wieder vor mir. Sie wird zurückkommen und sagen: "Deine Liste? Stimmt, die habe ich auf dem Küchentisch vergessen. Aber sag mal, hast du schon Dan Browns Sakrileg gelesen? Grauenhaft. Dass jemand so etwas schreibt! Also literarisch: Ganz schlecht!"

Christiane Geldmacher
Kolumne
Essay