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Kurt Drawert

Walter Fabian Schmid stelle dem Autor Fragen zum Thema „Literatur und Zeit“
»Es gibt keine geschichtslose Zeit«
  Gespräch        Literatur und Zeit
  Foto: Ute Döring.
Kurt Drawert, geboren 1956 in Hennigsdorf (Brandenburg), wuchs in Hohen Neuendorf bei Berlin und ab 1967 in Dresden auf. Von 1982 bis 1985 studierte er am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig und ist seit Abschluss seines Studiums als freier Schrift­steller tätig. Heute lebt Kurt Drawert in Darmstadt, wo er seit 2004 das »Zentrum für junge Literatur« leitet. Kurt Drawert erhielt unter anderem den Leonce-und-Lena-Preis und den Ingeborg-Bach­mann-Preis. Er publizierte viel beachtete Romane und Gedicht­bände. Zuletzt erschien von ihm »Idylle, rückwärts. Gedichte aus drei Jahrzehnten« (C. H. Beck).


Walter Fabian Schmid: Lieber Herr Drawert, zu welcher Tageszeit schreiben Sie?

Kurt Drawert: Danke, sehr gute Frage. Also das Erste, das ich schreibe, täglich, so zwischen 10.00 und 13.00 Uhr, sind E-Mails. Aber nur, wenn sie über eine Dring­lichkeits­mar­kierung am linken Seitenrand verfügen. Meistens sind es kleine, recht hübsche Fähnchen, oder, was mir nicht so gut gefällt, rote Ausrufungszeichen, etwas unangenehm für meinen Geschmack, fordernd, da kann ich auch schon einmal abweisend werden und erst einmal gar nicht reagieren. Dann gibt es die Post mit den Mahn­bescheiden, Rechnungen, Ent­schul­digungen bei der Stadt­sparkasse, äußerst sensibel. Hier müssen die richtigen Worte noch gefunden werden. Die Steuer­erklä­rungen sind eine besonders harte Nuss. Ein wahrer Künstler, aus meiner Sicht, wer diese Vordrucke ausfüllt wie andere ein Kreuz­wort­rätsel. Und dann bin ich schon das erste Mal so ziemlich fix und alle vom Schreiben und wünschte, ich wäre Briefträger geworden, wegen der Schaden­freude während der Arbeit. Kommt jetzt: »kann man denn vom Schreiben leben?«, bitte?

W.F. Schmid: Nee, den Gefallen gibt's nicht. Und wenn, dann würd ich zum Thema Zeit fragen, wie lange man davon leben kann. Da ich mich aber vorerst mal lieber im Prämortalen aufhalt, frag ich mich und Sie, ob wir für die Zeit, so wie es sich für ein Luxusgut gehört, nicht doch noch einen Genuss kulti­vieren können.

K. Drawert: Sie haben sich gerade um eine doch recht erfreuliche Antwort gebracht. Schade. Und wieso eigentlich halten Sie sich lieber im »Prämor­talen« auf? Ist das nicht ungesund? So kurz, ehe die letzte Klap­pe fällt, noch Fragen zu stellen? Wir sind doch noch keine achtzig, dachte ich. Oder habe ich falsch mitgezählt?

W.F. Schmid: Ich befürchte, das haben Sie, leider, Wir ist gerade 82. Darf ich nun erst recht keine Fragen mehr stellen? (Das wäre fast ein bisschen suboptimal als Inter­viewer.) Oder erst recht wieder? Jedenfalls scheint mir das doch jetzt ein guter Standpunkt zu sein, von dem aus man zurück­schauen kann; und ich trau mich die Frage, inwiefern Sie – als jemand, der gerade gemeinsam mit jemand anderem aus der Zeit gepurzelt ist – sich geprägt fühlen von der eigenen erlebten Zeit­geschichte?

K. Drawert: Ich beziehe mich jetzt nur auf Ihren letzten Satz – alle anderen verstehe ich gerade nicht. Ich denke, ich bin, wie jeder, die Summe aller Texte, die ich gelesen habe, frei­willig oder zwangs­ver­ordnet. Dann kommen ein paar kon­stitu­tionelle Fak­toren hinzu, für die man ja nicht soviel kann. Und dann bin ich natürlich auch das, was ich selber der Welt an Texten bereits hinzugefügt habe und auch weiter­hin zufügen werde. Das ist vielleicht, was ich mein Subjekt nennen kann. Und das alles ist Geschichte, was soll es sonst sein. Private Geschichte und historische, wenn das Private eine Allge­meinheit repräsentiert, subjektiv objektiv ist. Oder, wie Sartre es sagte: Große Literatur entsteht, wenn subjektive und objektive Neurose koinzident sind. Lassen wir jetzt mal den schon etwas in die Jahre gekommenen Neu­rose­begriff aus der exis­ten­tialis­tischen Psycho­analyse beiseite, der für die Rezeption von Kunst ja gar nicht viel taugt, weil er das Ästhe­tische nicht fassen kann, so meint er doch aber, was Fräulein Müller bei Hugen­dubel mit einer Tasse Trink­schokolade und einem Buch vor sich »das Zeitgemäße« nennt.
  Aber was soll das Zeitgemäße denn anderes sein, als die Entdeckung des Anderen im eigenen Selbst? Das zeigte Sartre in seiner Flaubert-Analyse Der Idiot der Familie in fünf Bänden auf 4000 Seiten, wie sich innere Verfasstheit und gesell­schaft­liche Realität einander bedingen. Die ebenso hyste­rische wie hoffnungs­los in ihrem Unglück ver­strickte Emma Bovary war das zwischen Roman­tik und Szien­tismus hin- und her­ge­rissene franzö­sische Bürger­tum zur Mitte des 19. Jahr­hunderts. Ihre Neurose war die Neurose der Zeit, und das hat den Roman so erfolg­reich gemacht. Und Flaubert konnte ihn schreiben, weil er diese kulturelle Ambiguität in sich trug und natürlich auch begabt genug war, ihr eine Form und einen damals sehr neuen literarischen Stil zu geben, der die Roman­theorie bis heute beeinflusst hat. Dann kam noch das Glück des Skandals und eines poli­tischen Verfahrens hinzu – der erste Fall in der Lite­ratur­geschichte, in dem die Zensur das Gegenteil ihrer Absicht erzeugt hat –, und der Mann war für das Jahrhundert gemacht.
  Aber jetzt habe ich wohl Ihre Frage vergessen ... Ach ja, natürlich fühle ich mich von der Zeit­geschichte geprägt und präge sie nach besten Kräften und sehr herzlich gerne zurück. Und Ihren ersten Satz mit der Zahl 82 habe ich unter­dessen auch verstanden. Sie sind also wunderbare 27 Jahre jung. Meinen Glückwunsch, auch wenn es leider gar nicht so bleibt.

W.F. Schmid: Da überkommt sie mich wohl leider, die Zeit, da haben Sie recht. Aber wo soll ich denn sonst hin? Ich komm doch hier nicht raus, aus meinem zeit­lichen Rahmen. Ich kann die Zeit ja nicht steuern. Sie als Schriftsteller können das, Sie sind Herr über die Zeit und können sie in Romanen frei bestimmen. Sie können einen Text vor 100 Jahren leben lassen, in 100 Jahren, oder gelebte und noch zu lebende Epochen miteinander kreuzen, wie Sie wollen. Aber das reizt Sie wohl weniger, damit kann ich Sie nicht hinter dem Ofen hervor­locken, oder?

K. Drawert: Den letzten Ofen, hinter dem Sie mich hätten hervorlocken können, hatte ich in der DDR. Das sind so die Nachteile im Fortschritt allgemein betrachtet. Aber Sie meinen hier natürlich den berühmten symbolischen Ofen und die erfundene Zeit, die Simulation. Gewiss, das ist eine grandiose Möglichkeit, der Chronologie von Ereignissen zu entkommen, und den finalen Verfall, wie er in allen Dingen steckt, ein wenig aufzuhalten. Die erzählte Zeit in einem Text bringt hervor, was schon lange verschwunden ist, hält fest, archiviert, während die Zeit des Erzählens wie unsere Lebens­zeit vergeht. Diese Ausdeh­nungen von Zeit sind ein Kapital, das einzige, das wir wirklich besitzen, in der Kunst zumindest, und im Leben eben gerade nicht. In Wahrheit dreht sich alles nur um die Zeit, über sie zu verfügen als ein privates und von einem selbst ver­waltetes Eigentum. Die Enteig­nung von Zeit findet in dem Moment statt, in dem ich mich ausbeuten lasse oder ausgebeutet werde – also an­nähernd ständig. Was Marx über das Kapital des Geldes schrieb, gilt heute und uneingeschränkt für das Kapital von Zeit, denn in ihr ist alles codiert, was auch zu Geld werden kann.
  »Remember that time is money«, sagte Benjamin Franklin zu einem jungen Geschäftsmann und hatte damit schon im 18. Jahr­hundert die kürzeste ökono­mi­sche Formel gefunden, die es dazu gibt. Jetzt stellen Sie sich doch bitte einmal vor, was ein Gedicht für eine grandiose Geldmaschine ist, wenn eine maximale Erfah­rungs­dichte auf einer minimalen Zeichen­fläche erscheint. Ganze Enzyklopädien können das nicht ersetzen, was an sinnlicher, körperlicher, unbewusster Wissens­energie in einem Gedicht erzeugt wird. Und wie lange liest man an einem Gedicht? Sehen Sie, wieviel Zeit, äußere Zeit, gespart wird, um innere Zeit, substantielle Zeit, dafür zu erhalten? Und sind schon jemals die Betriebswirte und Finanz­experten, die Geld­hersteller und Geldverwalter darauf gekommen, dass sie von der Literatur – und von der Lyrik im besonderen – einen schier unermesslichen Reichtum erben, quasi geschenkt? Und danken sie es? Etwa mit einer Mehr­wertaus­gleichs­zahlung in Höhe der Rendite für einen Banker? Gedichte sind Bankomaten der Sprache, ganz klar. Vielleicht sollten wir jetzt einmal unsere Forderungen an die Gesell­schaft über­denken und neu definieren. Denn nicht wir bekommen etwas geschenkt, wenn wir irgendwo im Anblick tobender Kühe ein Stipendium mit Präsenz­pflicht absitzen, sondern die Gesellschaft, der wir kostenlos produzierte Zeit überlassen. Und das für einen Stundenlohn von vielleicht eins­fünf­und­zwanzig bei Prosa und null­fünfund­zwanzig bei Lyrik. Brutto, versteht sich.

W.F. Schmid: Ich glaub, das versteh ich grad nicht ganz. Ist der Überschuss an Zeit, den ein Gedicht produziert, denn nicht gerade der zeitliche Mehraufwand, den die Lektüre verlangt und somit dem Leser eigentlich Zeit raubt? Zumindest, wenn man die »maximale Erfah­rungs­dichte« auskosten will, dann ist es doch eine Frechheit, was sich so ein kurzer Text an zeitlichem Aufwand heraus­nimmt. Mit ihrem zeitkapitalen Ansatz könnten sich also nur reiche und besser­verdie­nende Menschen mit Dichtung beschäftigen. Doof, wenn die für die Lektüre dann so viel Geld lassen müssen, weil ihre Zeit noch dazu teurer ist …

K. Drawert: Sie gehen jetzt davon aus, dass für die Rezeption von Lyrik unbegabte Leute einen Übersetzungsaufwand betreiben, der ein Vielfaches der Zeit umfasst, die für die Entstehung notwendig war. Leider falsch. Wer einen Satz wie Der Anzug hält sich aufrecht für die schöne Blume im Knopfloch nicht sofort versteht, versteht ihn nie, und wer ihn nicht verstehen will, gibt sich auch gar nicht erst damit ab. Wir reden hier nämlich nicht vom diskur­siven Wissen, das man irgendwann einmal kapiert haben kann, wenn man nur gründlich aufpasst, sondern vom intentionalen. Ich spreche hier auch gern vom körperlichen Wissen, das größer und tiefer ist als unser Bewusstsein es zu fassen vermag. Haben Sie die Vorle­sungen von Lacan gelesen? Was er zur Psychoanalyse sagt, trifft sich komplett mit meinen poetologischen Vorstellungen. Texte stellen mit uns etwas an, kondi­tionieren uns, dringen in uns ein, breiten sich aus, vergiften oder heilen, struktu­rieren uns. Die Tiefenwirkung von Literatur ist auf narrativer Ebene nicht zu ermessen. Also kann auch ein Gedicht nicht in der Ent­hüllung eines selbst­produzierten Geheimnisses seinen Anlass haben. Von daher gibt es also auch keine Zumu­tungen der Literatur, dass sie Zeit nimmt anstatt gibt. Recht haben Sie dort, wo wir Quark in den Händen halten, der Literatur zu sein vorgibt und zwischen zwei Buchdeckel gebracht die armen Leser traktiert. O ja, da will man schnell raus aus so einem Schmöker und die Stunden zurück, die man hier schon verloren hat. Aber die unend­lichen Texte, mit denen man nie wirklich fertig werden kann, weil sie sich mit uns ständig verändern – ich bitte Sie, diese Zeit, diese Arbeit, die immer auch eine Arbeit am eigenen Selbst ist, als einen immensen Gewinn zu verbuchen.

W.F. Schmid: Kann Zeitproduktion auch anders geleistet werden, oder kann das nur die Kunst?

K. Drawert: Zeit kann jede Maschine produzieren, und das um so mehr, je effektiver sie ist. Die Roth­schilds hatten auf diese Art ihren Reichtum begründet, weil ihre Kuriere schneller in London als andere waren und englische Staats­anleihen kaufen konnten, während die Londoner upper class noch gar nichts über den Ausgang der Befrei­ungs­kriege in den Ver­einigten Staaten wusste. Oder nehmen Sie das Internet. In Sekunden bekommt man alles geliefert, was man gerade wissen will und wofür man früher Stunden und Tage in Bibliotheken verbracht hätte. Man spart also Zeit. Das Fatale ist nur, dass wir von dieser Zeit nichts haben, da sich im gleichen Maße, wie wir Zeit einsparen konnten, das Kommuni­kations­netz derart verdichtet, dass wir diese Zeit sofort wieder verlieren. Und ich meine, wir verlieren mehr, als wir gewinnen. Das ist unser moderner notorischer Stress. Ein Geschäfts­mann gleich welcher Branche kann es sich nicht leisten, einmal nicht am Netz zu hängen wie ein Süchtiger an der Nadel. Ständig piepst und tickert etwas im Hosen­schritt. Ich meine, wollen Sie tauschen? Sie machen gerade ihr natürlichstes aller Geschäfte und müssen zum Handy greifen, weil es in der Jacke klingelt? Und er muss ran, er muss einfach, weil sonst möglicherweise ein Deal platzt. Oh Herr, beschütze uns und die Schwachen. Was ich sagen will: Die Zeit, die eben gewonnen war, ist gleich wieder weg. Es ist wie mit dem Geld. Man hat es und gibt es sofort wieder aus.
  Das alles sind grandiose Täuschungen der Moderne, an denen ein paar Leute sehr viel verdienen. Die einzige Lösung des Dilemmas wäre eine Akkumu­lation der Äqui­valenzwerte, wie sie der Kapitalismus ja auch produziert. Wenn Sie zum Beispiel so viel Geld haben, dass es sich selbst vermehrt, und das heißt dann eben auch, soviel Zeit zu haben, dass ich Zeit im eigentlichen, positiven Sinne besitze. Da wuseln und wischen dann eine Menge Billiglohnjobber durch Ihren Haushalt, wie in Dubai etwa, wo im Durch­schnitt auf jeden Einhei­mischen zehn Gastarbeiter kommen, die dann schon auch einmal saubere Wäsche zur Wäscherei fahren oder leere Kisten bewegen, weil es wirklich zu tun gar nichts mehr gibt. Die positive Zeit für den einen ist negative Zeit für den anderen, weil der eine sie von dem anderen ganz einfach abkauft. Diese Zeit nun, diese prak­tische, durch Tech­nologien beschleu­nigte Zeit steht in einem reinen Verhältnis zum Realen und löscht sich im Realen auch wieder aus. Unsere Zeit aber, von der ich im Zusammen­hang mit Kunst und Literatur rede, steht in Beziehung zum Imaginären. Sie ist unendlich und wir parti­zipieren von dieser unendlichen Energie. Die Zeit in einem Gedicht bei­spiels­weise, weil ich vorhin davon sprach, produ­ziert ein zeit­liches Volumen, das es nicht wieder zurück haben will. Alles andere sind Leihgaben oder sehr schlechte Tauschgeschäfte, auch wenn »Geschenk« auf der Verpackung steht.

W.F. Schmid: Da würde mich aber interessieren, wie Sie zum Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates stehen. Vielleicht kann der uns ja Zeit schenken. Auf seiner 19. Tagung (26.–28. Oktober 2010) forderte er jedenfalls die Einrichtung von »Zeitbüros«. Die Ressource Zeit solle durch neue Stadt- und Raumverwaltung besser auf die geänderten Lebens­stile – die ja auf veränderte Arbeits­muster und soziale Ver­haltens­weisen zurück­zuführen sind –, abges­timmt werden. Wenn also die tägliche Lebens­organi­sation stärker an den Zeitpolstern nagt, dann solle die städtische Zeit besser an die soziale Zeit angepasst werden. Wär das denn eine Hilfe? Braucht es staatliche Eingriffe zur Verbes­serung des pri­vaten Zeit­ma­nage­ments oder ist das bedroh­lich für die Selbst­bestimmung? Viel­leicht mangelt's auch an indivi­dueller Zeit­kompetenz?

K. Drawert: Ich weiß von diesem Kongress nichts, aber klingt er nicht nach einer letzten großen Ausbeutung unserer Innerlichkeit, die sich in der Zeit als freigewordene Zeit materialisiert? Wir bewegen uns hier jetzt wirklich nur auf der Ebene des Realen mit all ihren utili­taris­tischen Scheuß­lichkeiten. »Zeit­manage­ment« heißt doch nichts anderes, als noch mehr Saft aus der Zitrone zu pressen, quasi den letzten Tropfen Sub­jek­tivität auch noch zu verwerten. Das geht dann zu wie bei dem Stall­knecht Hippolyte in Flauberts Madame Bovary, der erst durch eine falsche Behand­lung sein Bein verliert, weil man ihm seinen Klumpfuß richten wollte, an dem er gar nicht gelitten hat, und dem man dann die beste Prothese aus Paris kommen lässt, in der Zeitung kommen­tiert mit den Worten: »Was für ein Fortschritt! Was für ein Humanismus!«

Idylle, rückwärts
Kurt Drawert
Idylle, rückwärts
Gedichte
C.H.Beck 2011
W.F. Schmid: Ihr neues Buch Idylle, rückwärts zeigt auf dem Rück­um­schlag ein halb ver­decktes Ziffern­blatt einer Uhr, auf dem Über­zug ist das Ziffern­blatt ganz verdeckt. Das sieht aus wie eine Sonnen­finsternis. Will das Buch denn damit eine Zeit­finsternis ab­bilden? Und – weil das Buch Gedichte aus 30 Jahren ver­sammelt – will ihr Werk im Gesamten eine Zeit­fins­ternis oder geschluckte Zeit vertext­lichen?

K. Drawert: Oh, das wird jetzt aber schwer für mich. Erst einmal: Was ist denn ein »Überzug«? Ist das ein Fach­begriff? Ich denke da eher an Gummis für den Mann oder an Schon­bezüge im neuen Lamborghini. Ich habe ja auch die Gestaltung des Buches selbst nicht gemacht. Aber ich finde sie sehr gut, von einem exzel­lenten Buch­gestalter in Zürich entworfen, Leander Eisenmann, der auch für meinen Roman zwei Jahre vorher eine wun­derbare, intel­ligente Bild­idee fand. Die beiden Bücher korres­pon­dieren gestal­terisch mit­einander, das finde ich her­vor­ragend und auch wichtig für den Markt. Schlecht gemachte Bücher haben es so schwer wie häss­liche Mädchen am Lauf­steg – es will sie keiner. Und in einer Zeit, in der die Ver­packung, was die Bedeu­tung betrifft, den Inhalt fast schon voll­ständig abgelöst hat, ist das geradezu zwingend.
 Aber ich verlaufe mich gerade und finde Ihre Frage nicht. Nun, Zeit und die Zerstörung von Zeit, nicht im Sinne einer biolo­gischen Vergänglichkeit, sondern in dem der Okku­pation durch eine über uns verfügende Macht, das ist schon eins meiner Themen, die immer wieder durchdacht und ins Bild gebracht werden. Auf der Vorder­seite des Umschlags, U2 genannt, ist es eine Art Riesenrad, das in seinen Abgrund rauscht, in seine ontologische Negativität. Idylle, rückwärts eben. Sie finden es nicht gut? Innen ist dann, auf dem Cover, das Sie Überzug nennen, eine erloschene Sonne, und auf U4 jene halbverdeckte Uhr, die auf dem Cover dann schwarz ist. Ich würde so ein Buch kaufen, ganz klar.

W.F. Schmid: So viel mehr über das Verhältnis ihres Werkes zur Zeit und deren Verarbeitung im Werk weiß ich jetzt noch immer nicht. Vielleicht noch mal was Allge­meines: Wie würden Sie sagen, hat sich ihre Schreibweise in den letzten 30 Jahren verändert, aus denen das neue Buch Gedichte versammelt?

K. Drawert: Was für eine Zeit, in Gottes Namen, meinen Sie denn? Die historische? Die biografische? Die reale? Die imaginäre? Die symbolische? Die empfundene oder mit der Taschenuhr gemessene? Die Zeit im Text oder die Zeit, die der Text braucht, um gelesen zu werden? Das müssen wir jetzt wirklich einmal festlegen, wenn wir uns auf die poetische Zeit, von der ich ständig zu sprechen versuche, und die Sie aus mir verbor­genen Gründen nicht anerkennen können, nicht einig werden. Und in der poetischen Zeit, in der Zeit eines Gedichtes oder einer Erzählung, fließen alle Zeit­formen zusammen und ergeben das Werk, das seinen eigenen Gesetzen folgt und seine eigene Wirklichkeit herstellt, die in Referenz steht zur objektiven Wirklich­keit der Welt. Oder wollen Sie jetzt tatsächlich hören: Ja, die Zeit nagt uns am Fleisch und leider auch an meinem? Aus was sonst soll Literatur denn gemacht sein, wenn nicht aus all dem, was in der Zeit und in der Geschichte der Zeit passiert? Natürlich habe ich auf Ereignisse meiner Zeit, meiner Lebens­zeit, um es jetzt genau zu sagen, reagiert, habe sie im Essay reflektiert oder poetisch im Gedicht oder erzählend im Roman oder dramatisch im Theaterstück. Aber ich bilde sie doch nicht ab, und ich verfüge auch nicht darüber, was wie und überhaupt in den Texten erscheint.
  Die Entstehung von Literatur ist eine höchst komplexe, unselbstverständliche Angelegenheit, die von vielen inneren und äußeren Bedingungen abhängig ist und auch mit einem Unterbewusstsein korrespondiert, für das es sowieso keine Evidenz gibt – wie also könnte ich darüber verfügen? Natürlich bin ich Zeitzeuge, betroffen oder unbetroffen, wütend oder enttäuscht oder traurig wie jeder, und natür­lich habe ich ein politisches und ein moralisches und ein soziales und ein ästhe­tisches Bewusst­sein, das sich zu diesen Dingen verhält. Aber das alles hat mit Literatur erst einmal noch gar nichts zu tun, sondern mit dem Leben, aus dem Literatur geformt wird. Es ist der blanke, bedeutungs­lose Stoff, der erst noch zu einer Form und zu einer Aussage gebracht werden muss, die relevanter ist als diese oft sinnlos vor sich hindösende Realität, von der Sie so emphatisch andauernd reden, und die mich, offen gesagt, fast nur depri­miert oder langweilt, jedenfalls für mich kaum der Rede wert vergeht.
  Darum vielleicht bin ich auch etwas gereizt einer Lite­ratur gegenüber, die einen Realismus simuliert, der vorgibt, real zu sein. Das habe ich schon am DDR-Realis­mus, so­zialis­tischer Realismus genannt, so abscheu­lich gefunden und so arrogant und so schließlich dumm, diese Vor­stellung, dass ich vom Leben eine Kopie ziehen kann. Anmaßend auch den Dingen gegenüber, die sich naturgemäß der Sprache verweigern. Das alles steht mit dem Begriff vom Engagement, den ich, mit einem Satz Jean Paul Sartres aus dem Jahre 1960: »Wenn die Lite­ratur nicht alles ist, ist sie der Mühe nicht wert. Das will ich mit Engage­ment sagen«, immer verteidigt habe, überhaupt in keinem Konflikt. Im Gegenteil. Erst in der Form beglaubigt sich der Inhalt. Und das beste Anliegen ist nichts wert, wenn es an seiner eigenen Rheto­rik scheitert. Etwas anderes ist Ihre zweite Frage nach dem Stil, ob er sich in den dreißig Jahren, die meine Gedicht­sammlung umfassen, verändert hat. Über den Stil zu sprechen führt hier nun wirklich sehr weit. Was ist »Stil« und gibt es ihn überhaupt? Auf keinen Fall ist er eine Konstante, weil er ein Verhältnis ausdrückt, das sich permanent verschiebt: das Verhältnis einer Sache zu einem Satz. Dieses Verhältnis wiederum zeigt uns den Autor, so dass man schlicht­weg auch sagen kann: Der Stil ist die Persön­lichkeit desjenigen, der ihn gebraucht. Ich selbst rede lieber vom »Ton« als vom »Stil«. Der »richtige Ton« heißt dann, ein adäquates Verhältnis zu einem Gegenstand, über den man schreiben will, gefunden zu haben. Davon hängt jede Ökonomie eines Textes ab, verkürzt gesagt.
  Aber ich weiche jetzt aus, weil es mir schwerfällt, über mich selbst zu schreiben. Ich denke aber schon, dass sich ein wesentlicher Grundton über alle Zeiten und Verhältnisse hinweg durchgesetzt und erhalten hat: die Skepsis. Einmal ironisch, einmal elegisch, einmal im Rhythmus der metrischen Bindung und einmal im Parlando der freien Rede dargestellt. Die Stoffe ändern sich, die Haltungen nicht, und das verschafft mir, nun, wenn ich es einmal so sagen darf, auch etwas Genugtuung innerhalb aller Zweifel, von denen es wahrlich genug gibt. Gerade die Wende­jahre der 1990er mit ihren grandiosen Paradig­men­wechseln hat für mich ästhetisch gar nichts bedeutet. Ich konnte mit demselben Blick auf die Dinge fortfahren, desil­lusio­niert von Geschichte, wie ich es von Anbeginn war. Das lässt sich in den Gedichten nachlesen, diese sehr feste, konstante und auch kom­pro­miss­lose Haltung zur Welt. Bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch: Ich lobe mich selbst überhaupt nicht; aber ich lobe den Dichter, der in einer Person verborgen ist, die ich bin, mir selber sehr uninte­res­sant. Wenn es um meine Person geht, zucke ich immer zusammen und ziehe mich zurück. Mein Schutz sind meine Bücher, in ihnen habe ich alles für mich Wichtige gesagt – der Rest sind Irri­tationen und halbe Wahrheiten, die allenfalls für die Psycho­analyse von Bedeu­tung sind, aber nicht für das öffentliche Leben. Ich bin immer wieder erstaunt, wie offensicht­lich gern sich einige in ihre körperlichen Öff­nungen blicken lassen, ihre banalen Verwerfungen voyeuristischen TV-Skandalen zur Verfügung stellen und ihre platten Empfin­dungen in die Kameras nuscheln, als gehörten sie zum Welt­kulturerbe an und für sich. Das ist natürlich Ausdruck einer restlos verkommenen und exhibi­tionis­tisch ausgerichteten Massen­kultur, aber leider auch mehr: die medialisierte Pathogenese einer verlorenen Beziehung des einzelnen zu sich selbst. Für einen Moment der Anerkennung würde man so vermutlich alles tun.

W.F. Schmid: Wenn sie die Möglichkeit hätten, die Sie langweilende und depri­mie­rende Realität für einen Tag zu verlassen und in eine andere Zeit zu wechseln, welche Zeit wäre das dann?

K. Drawert: Gute Frage. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich keine. Überall und immer wäre ich wohl auf der Flucht vor den Dingen, die so sind, wie sie sind. Deshalb gehe ich ja wohl auch mit der Vorstellung fremd, ich könnte »verschwinden im Körper der Texte«. So heißt auch ein Essay von mir, den ich mit in meinen Auswahl­band genommen habe (Die Lust zu verschwinden im Körper der Texte). Aber das ist keine romantische Flucht, denke ich, sondern nur eine besondere Art der Bewältigung von Realität, die Realität doch sehr genau benennt. Jedoch über diesen poetischen Umweg, der in Wahrheit eine Verkürzung ist.

W.F. Schmid: So ist ja auch der Protagonist in ihrem Roman Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte angelegt; er will ja auch aus »Lust am Verschwinden« in der »Sprache versinken«. Er ist »als Staub der Geschichte mit Sprache vollgesudelt« – und wenn ich das richtig auslege, gehört das auch zu ihrer Aussage über die Okkupation von Zeit. Der Prota­gonist macht sich so zur Aufgabe »nach einer Sprache zu suchen für die Geschichte am anderen Ende der Wirklichkeit.« Wie sieht für Sie eine Sprache aus, von der die Geschichts­last gekratzt wurde?

K. Drawert: Mein Roman ist so unendlich, dass ich ihn selbst nur teil­weise verstehe. Mir ist da etwas sehr schwer Dar­stell­bares passiert. Und es passiert mir weiter, in der Fortsetzung, an der ich schreibe. Vielleicht ist es die psycho­analy­tische Schreib­konstel­lation, der radikale Monolog, die Projektions­fläche, auf der sich eine tief verborgene, innere Welt bricht; den Begriff vom Unter­bewusst­sein möchte ich jetzt mit Absicht nicht gebrauchen, weil Literatur immer mit Form zu tun hat, also im Bewusst­sein erscheint. Das Grundmotiv, die Intention des Textes, ist gewiss diese Ambiguität in der Sprache. Einerseits ist sie geschaffen, um uns zu beschriften und fremdzu­ver­walten, anderer­seits birgt sie die Freiheit in sich, dieser Fremd­verwaltung zu entkommen durch die eigene, subjektive Schrift. Es ist die Aktuali­sierung der Sprache im Akt des Sprechens. Jene parole, die der langue entgegensteht, oder wie Barthes es sagt: Langue ist langage minus parole. Der Kaspar-Hauser-Mythos ist ja, wenn man so will, ganz und gar parole, also eine extreme Form der Aktuali­sierung des Sprechens. Die extremste Form, die es überhaupt gibt, ist die Selbst­referenz in der Psychose. Die Sprache zerfällt, aber das ist schon Macht­diskurs und medizi­nischer Blick. Man kann auch sagen: Die Sprache verweigert sich zu kommuni­zieren, dann haftet dieser unheim­lichen Krankheit eine Rebellion an, ein Versuch zum Umsturz der Werte und Bedeu­tungen. Das auch macht Sprach­störun­gen so interessant: Sie unterbrechen die Kontinuität, weil sie ihr unbewusst miss­trauen. Ein Stot­terer bewahrt ein Geheimnis für sich, mit dem er auf die selbst­verständ­liche Transparenz um sich herum antwortet. Dieses Ge­heimnis ist die – in diesem Fall gegen sich selbst gerichtete Rebellion, denn er verweigert sich immer dort der Stimme, wo seine Antwort diese semio­logische Rebel­lion verrät. Kurz: Er kann nicht lügen. Kaspar Hauser konnte auch nicht lügen, er hatte es in seiner Iso­lation einfach nicht gelernt, und deshalb musste er getötet werden.
 Bei mir wird das in einem Satz erwähnt: »Man muß nur lernen zu lügen, ohne zu schielen, Mutter1, und schon geht es weiter.« Nun, das Wesent­liche oder Moderne bei meinem C. H. ist aber die Umkeh­rung des Gedan­kens der Störung, jenes »als Staub der Geschich­te mit Sprache vollgesudelt«, das Sie zitie­ren. Er spricht ohne Unter­bre­chungen, exzessiv, monomanisch, um sich gewisser­maßen das Sprachgift aus dem vergif­teten Körper zu reden. Allein deshalb konnte ich auch keine Absätze in den Text bringen, der dadurch natürlich ein Stück weit unleserlich wird. Eine doch sehr gescheite Rezen­sentin in einem großen Feuilleton hat das erkannt, aber leider nicht recht verstanden und gefragt, ob der Verlag Papier sparen wollte. Aber wie kann man denn das Unzu­mut­bare zu einer guten Lesbar­keit bringen? Das wäre doch nun wirklich des Opportunismus zu viel.
  In einem Text über Auschwitz, an dem ich mehrere Jahre geschrieben habe wie an einem Palimpsest, immer von neuem, wie ein Erzähler, der ich bin, der als »Tourist«, schreck­liches Wort, durch die museali­sierte Gaskammer geht und sich einbildet, in der falschen Zeit zu sein, da habe ich zum ersten Mal verstanden, dass es eine syntak­tische Ent­spre­chung geben muss für ein Grauen, das sich jeder Sprache verweigert. Und wenn meine tragische, komische, in jeder Hinsicht insuf­fiziente Figur sich im zweiten Teil des Romans in New York einer Lobo­tomie unterzieht, um nichts mehr fühlen (und auch nicht mehr sprechen) zu müssen, dann können Sie sich ja vor­stellen, wie inkohärent es weitergeht. Ein Text, der nicht irritiert oder schmerzt und zu neuen Sicht­weisen zwingt, ist sinnlos für mich, für mein Verständ­nis von Lite­ratur, ein bisschen alt­modisch vielleicht, heute, wo es um Ver­kaufs­zahlen geht und dann lange erst einmal um gar nichts. Egal. Wir kommen nicht aus unserer Haut, die beschriftet ist, da haben wir es ja wieder. Jeden­falls ist meine Hauser-Figur geradezu die Negation des Ori­ginals, eine Art Michael Heizer der Literatur, das wollte ich sagen. In Buch zwei, so der Titel, wird auch er die Sprache wieder erlernen, aber im Schatten musste er sie gera­dezu erbrechen, um frei zu werden. Und in Buch zwei gibt es dann diesen chirurgischen Schnitt ins Gehirn. Ihre zweite Frage, wie eine Sprache aussehen könnte, an der sich die Geschichte nicht vergangen hat, so oder so ähnlich, kurz: Eine solche Sprache gibt es nicht, weil es keine ge­schichts­lose Zeit gibt. Es ist die roman­tische Trans­zendenz­erfah­rung, die meine Figur natürlich im Sinn hat, das sich ver­strömende Selbst bei Novalis zum Beispiel. Und vielleicht brauchen wir diese Utopie einer reinen (das heißt geschichts­freien) Sprache, um uns überhaupt durch die Sümpfe eines zweck­bestimmten Sprechens bewegen zu können. Irgend­wie müssen wir ja aus den Gefängnissen der Aktualität entlas­sen werden können, uns selber entlassen können, hoffe ich inständig, manchmal.

W.F. Schmid: Und dann nämlich »geht auch dieses Licht aus, / und ich weiß nichts mehr.« (Tagende) Danke.


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1    Hier nur als Füllwort zu verstehen (da uneigentlich)
 

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Walter Fabian Schmid    24.12.2011   

 

 
Kurt Drawert
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