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Maria Jansen
Wassily Pattko


Annki setzt die Pistole an mein linkes Ohr. Ich fühle mich zunehmend unwohl. „Ich, ich weiß nicht“, stammle ich. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Vielleicht, vielleicht lassen wir das.“
Annki seufzt ent­nervt: „Jetzt sei keine Pussy und halt still.“
Ich kriege wirklich Panik. „Hast du das Ding auch desinfiziert? Ich meine, ich will keine Hepatitis kriegen wegen einer saublöden Scheißidee.“
„Willst jetzt doch den Grünen?“
„Nein, Scheiße, ich will einfach keine Hepatitis!“
„Verdammt, Förster, willst jetzt 'nen Ohrring oder nich'?“
Verkackte Scheiß­dreckskacke! Das war typisch Förster, werden die Leute in der Zukunft sagen, da ist der Typ endlich allein mit einem Mädchen, das schöne Haare hat und einen lustigen Eckzahn und ein T-Shirt mit Leonard Nimoy drauf, allein im Zimmer der Schwester, die ein Doppelbett hat, ein Doppel­bett, und da sitzen sie, und er weiß nichts besseres zu sagen als „Cool, deine Schwester sticht Ohrringe, ich will auch eins“.
„Ich zähl' bis drei“, verkündet Annki.
Ich spüre den Bass zwei Zimmer weiter. Wo ist Chuck? Wo ist Wassily Pattko? Wassily Pattko liegt wahrscheinlich auf einer drauf. So stelle ich mir das vor. Wassily Pattko hat bestimmt einen wunderbaren Abend. Mir ist schlecht, vom Bier, von der Aufregung. Ich fange an zu schwafeln, das kann ich wirklich gut, wenn ich völlig verängstigt bin: „Wusstest du schon, dass jährlich mehr Menschen durch herabfallende Kokosnüsse getötet werden als durch Haiangriffe?“
Die Pistole knackt. Ich lasse einen erstickten Schrei entweichen und springe empört auf. „Du hast nicht gezählt!“, kreische ich und betaste den Ohrstecker vorsichtig mit den Finger­spitzen. Ich spüre den Fremd­kör­per brennen, mein Ohr wird heiß. Annki lacht, noch mit der Pistole in der Hand. So schöne Haare hat sie auch wieder nicht. Ich laufe zum Spiegel an der Wand. Der Stecker glitzert im Halb­dunkel. Das Bier kommt mir hoch. „Soll das bluten?“, frage ich, bevor ich mich auf den Teppich erbreche.
Mutter sagt immer, ihr Leben wäre viel einfacher, wenn ich nicht so viel Scheiße zwischen den Ohren hätte. Jetzt habe ich auch Scheiße in den Ohren. Sie ist eine sehr religiöse Frau, und obwohl sie nie die Bibel gelesen hat und sich nie in der Kirche blicken lässt, weiß sie, was richtig und was falsch ist.
Gestern fragte ich: „Mutter, kann ich mir hier ein Piercing stechen lassen?“
Sie: „Auf gar keinen verfickten Fall.“
Wieder ich: „Und hier?“
Sie: „Verdammte Scheiße, Jeremias!“
Wassily Pattko zum Beispiel hat vier Piercings und einen Tunnel. Hätte Wassily Pattko eine Mutter wie meine, wäre er nicht Wassily Pattko. Einmal erwischte mich Mutter beim Wichsen. Ein paar Tage später kam ein Mann in einem langen schwarzen Kleid. Er räucherte die Wohnung aus, sang und bespritzte meine heiß­geliebten Bravo­poster mit Weih­wasser. Britney Spears' Brüste schlugen Wellen.
So ist das im Bahnhofsviertel. Relativ rück­ständig, bisschen wie in einem Dorf. Nettes hausgemachtes Essen und kleine Leute, die sich auf der Straße nach deiner Mutter erkun­digen, Hunde jagen Katzen, Omas sitzen am Fenster, Kinder werfen mit Dreck, die Sonne scheint, es regnet, dann ist es warm und dann ist es kalt – so stelle ich mir das jedenfalls vor. Wir haben nur weniger Bäume hier. Da ist ein einziger Baum auf unserer Straße und der steht genau vor unserem Wohn­zimmer­fenster, das ist das wahre Glück.
Übrigens nennen mich deshalb alle Förster. Chuck hat das eingeführt. Er hält sich für den größten Komiker. Mutter nennt ihr Scheiß­haus­fliegen­brut. Schließlich hängt er die ganze Zeit an unserem Küchen­fenster, um die Nutten auf der Stra­ßen­ecke zu be­glotzen.
„Ich verstehe nicht, wie die Fratzen dazu kommen sich zu pros­ti­tuieren“, sagte er heute. „Als gäbe er in dieser Branche keine Quali­fikation.“ Auf seiner Stirn war ein runder Ab#-druck vom Glas, so rosafarben wie seine Wangen.
„Kein gutes Wetter für Nutten­gucken“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „In einer Daunenjacke sieht nicht mal Juliane König gut aus.“
„Die Nutte sieht aus wie Herr Pfeife“, entgegnete Chuck, „und das liegt nicht an der Scheiß­daunen­jacke.“ Er seufzte tief. Dann plötzlich kehrte wieder das Glitzern in seine Augen zurück und das Grinsen eines hoff­nungs­losen Optimis­ten breitete sich aus: „Aber heute Abend. Heute werde ich irgendwas stopfen. Wenn nicht Juliane König, dann ein' Scheißbaum!“ Er lachte, um zu signali­sieren, dass er scherzte, und ich lachte mit ihm, obwohl ich wusste, dass er nicht scherzte.
Ach, wären wir nur am Fenster sitzen geblieben.
Annki rennt aus dem Zimmer. Die Musik wird lauter. Jemand schleift mich raus, jemand tritt mich, vielleicht stolpert er auch nur über mich. Irgend­wann stehe ich auf, hole meine Jacke und gehe. Draußen schneit es. Unsere Fahrräder sind aneinander geschlos­sen, keine Lust nach Chuck zu suchen, also zu Fuß nach Hause. Wie lange kann das dauern? Es ist ja nicht un­mög­lich. Dass ich jemals ein Mädchen küsse, dass ich jemals Sex habe, das ist unmög­lich. Genau­so unmöglich wie den eigenen Ellbogen mit dem Mund zu berühren. Oh Gott, Wassily Pattko kann ganz sicher seinen Ell­bogen lecken. Er zeigt uns jeden Tag, dass wir mit­tel­mäßige Jungs sind, mit mit­tel­mäßi­gen Noten und mit­tel­mäßigem Aus­sehen. Nicht mal unsere Träume sind der Rede wert. Chuck zum Bei­spiel spart sein Geld für eine Edel­nutte und ich zum Beispiel will so sein wie Wassily Pattko. Der Typ ist ein hirnloser Narzisst. Aber er hat Juliane König gefickt. Er hat einen Führer­schein. Er hat ein Tattoo auf seinem Rücken, einen flie­genden roten Drachen. Er kann sein T-Shirt im Freibad voller Stolz aus­ziehen. Er kann einen 360-Grad-Dunk. Und jeder Junge aus dem Bahn­hofs­vier­tel folgt ihm wie ein braver Pfad­finder. Selbst Chuck. Selbst ich.
Wassily Pattko ver­kündet eine geile Party in der Neu­bau­siedlung, also stei­gen wir auf unsere Fahr­räder. Mutter schreibe ich einen Zettel: Habe ge­gessen, treffe mich mit Freunden. Wir radeln eine halbe Stunde um die Wette, während Chuck seine Spezia­li­tät probt: „Chuck Norris geht gerne Blut spen­den. Aber nie sein eigenes.“ „Chuck Norris hat das tote Meer erschos­sen.“ „Chuck Norris benutzt eine lebende Klapper­schlange als Kondom.“
Gegen den eisigen Wind zu radeln, immer weiter vom Bahnhof weg, fühlte sich nach Flucht an, nach Aben­teuer, end­lich pas­sierte was. Aber in Wirk­lich­keit passierte nichts. Es passiert nie irgend­was. Die Zeit verstreicht, man wechselt den Raum. Fertig.
Ein weißer Laster hält neben mir. Das Fenster wird run­terge­kurbelt. Da sitzt ein Mann, vielleicht Türke, der fragt, ob er mich mit­nehmen kann. Ich steige ein. Hier ist es warm, manch­mal habe ich auch Glück. Meine Hände kribbeln. Der Mann fährt los, fragt, woher ich komme, fragt, wohin ich will. Ich gebe zwei­silbige Ant­worten. Die Wärme macht mich schläfrig. Ich betaste mein ange­schwol­lenes Ohr, frage mich, ob Wassily Pattko wirklich mal einen Kugel­blitz überlebt hat. Wir halten an einer roten Ampel. Der Auto­fahrer greift mit der Hand in die Hosen­tasche und holt ein Bündel heraus. Er reicht es mir. „Hier, nimm, nimm.“ Er legt es mir in die ausge­brei­teten Hand­flächen und erst jetzt sehe ich, das sind Fünf­ziger und Zwan­ziger.
„Was soll ich damit“, sagte ich und will die Scheine zurückgeben, aber der Mann wehrt ab. „Nimm“, sagt er. „Du kannst Fahrrad kaufen. Du kannst dein Mädchen Eis kaufen.“
Ich lache bitter. Der Mann spricht weiter: „Du kannst mein Penis in dein Mund.“
Ich mache große Augen. „Wie bitte?“
„Du kannst mir blasen.“
Ich sage: „Was?“
„Bitte“, sagt der Mann. Er sieht traurig aus. Ich werde nervös. Ich denke, ich mache einfach die Tür auf und laufe bis ich nicht mehr laufen kann. Es ist nicht mehr weit bis zum Bahn­hof. Aber ich bleibe. Ich sehe das Geld und werde ganz aufgeregt. „Wussten Sie, dass Astro­nauten nicht rülpsen können, da Koh­len­dioxid im Weltall nicht aufsteigen kann?“ Ich gucke auf die ver­schneite Straße, höre wie der Mann seinen Reiß­ver­schluss öffnet.
Ich schließe meine Augen und beuge mich zur Seite. Mit meinen Händen greife ich den Penis und schließe meinen Mund darum. Es riecht nach Fisch. Ich muss an Mutters Leber­fleck denken. Der Mann legt seine Hand auf meinen Nacken und hechelt. Das Ganze dauert wirklich keine Minute. Er kommt ganz schnell und ich schlucke.
Ich steige aus dem Laster und merke, ich hab einen Ständer. Ich hocke mich hin und esse Schnee, stehe auf, renne, rase, wie getrie­ben, bis ich meinen Baum sehe.
Ich versuche so leise wie möglich den Schlüssel im Schloss zu drehen, aber Mutter ist eh wach. Sie sitzt in der Küche. Als ich rein­komme, schreit sie: „Verdammte Scheiße, Jeremias!“
Ich sehe nicht auf die Uhr, ich weiß, es muss sehr spät sein, oder sehr früh. Mir fällt keine Ausrede ein, also sage ich: „Machst du mir ein Brot?“
„Auf gar keinen ver­fickten Fall!“
Sie sieht mein Ohr und wird röter im Gesicht, holt aus dem Gefrier­fach Wodka, gießt sich ein Glas ein und trinkt. Sie kommt mit der Flasche zu mir, macht vorsichtig den Ohr­stecker raus und des­infiziert die Wunde. Aua, aua! Mein Ohr brennt wie verrückt, aber ich spüre, dass es ein guter Schmerz ist.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also schwafle ich: „Es gibt diese Krankheit, die nennt sich Capgrass Syndrom, da glaubt man, dass seine Ver­wandten durch Doppel­gänger ersetzt wurden. Wie bei den Körperfressern. Die eine Frau dachte, ihr Ehemann ist durch einen identisch aus­sehen­den Mann ausgetauscht worden. Erst hat sie ihm den Sex verweigert, zum Schluss nach einer Waffe ge­griffen. Finde ich gar nicht so ver­rückt. Je näher man einem Menschen kommt, desto ferner wird er einem. Viel­leicht weil wir andere Men­schen mit einer bestimmten Mei­nung betrachten. Wir lernen nicht wirk­lich diesen einen Menschen kennen, sondern kleistern ihn zu mit unseren Erwar­tungen, so stelle ich mir das jeden­falls vor, und wenn dieser Mensch anders handelt, als wir gedacht haben, natürlich sind wir ent­täuscht, weil wir plötz­lich merken, dass wir unrecht hatten, dass dieser Mensch nicht wirklich so ist, wie wir dach­ten, wie können wir diesem Menschen, diesem Fremden, weiter trauen. Aber wenn dieser Mensch du selbst bist, was machst du dann, man kann doch nicht die Flucht er­greifen oder das Gewehr, oder doch?“
Mutter schnauft und verschwindet im Schlafzimmer. Ich fühle mich einsam, nahezu nostal­gisch, dabei fällt mir keine bestimmte Erin­nerung ein, nach der ich mich sehnen könnte. Ich lasse mich auf das Sofa fallen und schlafe gefühlt zehn Minuten. Ketten­sägen­lärm weckt mich. Mit zusammen­gekniffe­nen Augen schaue ich zum Fenster. Ein Mann mit einem Helm. Er steht in der Luft und sägt an meinem Baum. Ich bin verwirrt, will wieder ein­schla­fen, aber der Betrieb draußen lässt mich nicht. Gequält stehe ich auf und gehe zum Fenster. Unten steht ein Baufahrzeug, in das andere Männer mit Helmen die herabgefallenen Äste hineinlegen. Der Mann auf der Hebe­bühne sieht mich, winkt mir zu. Er sieht ein bisschen so aus wie der Mann im weißen Laster. Ich winke zurück und sehe dabei zu wie er meinen Baum fällt.

Zuerst erschienen in der poet | bewegt-Anthologie 13

Maria Jansen  2014   

 

 
Maria Jansen
Prosa