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Mai 2007
VolltextOrt der AugenSchweizer Monatshefte
 
Zeitschriftenlese  –  Mai 2007
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk
Auf Umwegen bin ich in den Besitz von drei Nummern der seit 2002 in Wien erscheinenden Zeitschrift Volltext gelangt, die ich bisher nur vom Hörensagen kannte. Überrascht hat mich zunächst das handliche Zeitungsformat, in dem Volltext alle zwei Monate um die 40 Seiten stark herauskommt und billig über die Kioske verkauft wird, in einer für Literaturzeitschriften schwindelerregenden Auflage von 55 000 Exemplaren. Wobei mir allerdings gleich ein anderes, ebenfalls aus Österreich stammendes Organ im Zeitungsformat einfiel, das sich Gegenwart nannte und vor einigen Jahren eingestellt werden mußte.
Überraschend auch die Qualität einzelner Volltext-Beiträge, die Kompetenz der Redaktion (Thomas Keul), die meist gelungene Mischung aus belletristischen Arbeiten, Essays, Besprechungen und Gesprächen. Gegenstand ist die gesamte Gegenwartsliteratur, die man – ähnlich wie die konkurrierende, dem Zeitgeist unverhohlener huldigende Monatsschrift Literaturen – einem größeren Publikum durch eine verständliche Sprache und eine übersichtliche Gliederung zugänglich machen will.
Kennzeichnend für Volltext – und darin unterscheidet sich diese Zeitung deutlich von Literaturen, aber auch von den Feuilletons der Tages- und Wochenpresse – ist der Raum, den literarische Texte im engeren Sinn einnehmen, gleichsam als Titelgeschichten, worauf wohl auch der (eigentlich unschöne) Name anspielen soll. In der Nummer 3 aus dem Jahr 2006 füllt eine skurrile Poetik-Vorlesung von Andreas Maier, in welcher der junge Autor sich zu Gott, dem Evangelisten Matthäus und Dostojewski bekennt, mehrere Zeitungsseiten. In der Nummer 1 aus dem laufenden Jahr findet man lange Vorabdrucke aus neuen Romanen von Georg Klein und Peter Kurzeck. Und in der jüngst erschienenen Nummer 2 wird sogar ein ganzer Roman von Alban Nikolai Herbst vollständig abgedruckt. Das vier Jahre lang verbotene Buch Meere nimmt zwei Drittel der Zeitung ein, was nicht allen Lesern zusagen dürfte. Und wie nebenbei wird einem zugeraunt, daß der kraftmeierische Herbst, geboren 1955, ein Großneffe von Hitlers Außenminister sei und eigentlich Alexander von Ribbentrop heiße, als ob das literarisch bedeutsam wäre.
Volltext setzt Schwerpunkte, etwa auf „Biographik“. Neuerdings gibt es eine Rubrik „Die gefällige Kritik“, die mit dem Versteckspiel der „Freundschaftsbesprechung“ aufhört und hemmungsloses Lob gestattet, ja verlangt. Im Vorfeld des alljährlichen Bachmann-Wettlesens werden sämtliche Teilnehmer vorgestellt mit poetologischen Selbstkommentaren oder durch exemplarische Texte, fast ausschließlich Prosaarbeiten. Gedichte, also schwer Verkäufliches, findet man in dieser Zeitung für Literatur so gut wie keine.
In einer kleinen Zeitschrift aus Sachsen-Anhalt mit dem poetischen Namen Ort der Augen ist ein Aufsatz des Weimarer Lyrikers Wulf Kirsten über den vergessenen Schriftsteller Walter Bauer zu lesen, der vermutlich in einem so strikt auf die aktuelle Verlagsproduktion und deren Verkauf fokussierten Blatt wie Volltext keinen Platz gefunden hätte. Bauer, 1904 in Merseburg geboren und plebejischer Herkunft, sei – so Kirsten – „aus der Tiefe der Armut aufgestiegen“ und vor allem in seinem Frühwerk, das ihn rasch bekannt gemacht habe, „ein wortmächtiger Anwalt der Unterprivilegierten“ gewesen. „Genauigkeit bis ins kleinste Detail“ sei Bauers Stärke. Der Gedichtband Stimme aus dem Leunawerk (1930) und der Roman Ein Mann zog in die Stadt (1931) sind geprägt vom Pathos Walt Whitmans und vom Geist der Arbeiterdichtung der zwanziger Jahre. Bauer hing auch der Großstadtpoesie des belgischen Lyrikers Emile Verhaeren an. Enge Freundschaft verband ihn mit Stefan Zweig.
Das Jahr 1933 bedeutete für Walter Bauer einen jähen Bruch. Sein Frühwerk wurde verboten, doch er blieb im Land und konnte weiterhin Bücher mit unverfänglicher Thematik veröffentlichen. Nach dem Krieg geriet er in eine Krise und steigerte sich, so Kirsten, „in Scham- und Schuldgefühle“. 1952 wanderte der Dichter nach Kanada aus, wo er sich vom Tellerwäscher zum Germanistik-Professor hocharbeitete. Auch im „nachgeholten Exil“ kam er von der deutschen Sprache nicht los. 1954 erschien der Gedichtband Mein blaues Oktavheft, 1957 Die Nachtwachen des Tellerwäschers. Bauer starb 1976 in Toronto. Postum kam 1981 sein Erinnerungsbuch Geburt des Poeten heraus, ein Werk, das nach Kirstens Ansicht „in den Kanon der Prosa des 20. Jahrhunderts gehört.“
Wie können die Menschen aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ herausfinden? Die Stadt Zürich zählte im 18. Jahrhundert zu den europäischen Metropolen, die daran beteiligt waren, die Ideen der Aufklärung zu formulieren und umzusetzen. Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger waren die prägenden Persönlichkeiten, die als Lehrer, Übersetzer, Theaterdichter und Publizisten Impulse für eine sich emanzipierende Gesellschaft gaben. Sie förderten die Naturwissenschaften, beschnitten den Einfluß der Theologie, sorgten für eine Veränderung der Ausbildung an den höheren Schulen und gaben der Philosophie, der Ästhetik und der Literaturkritik maßgebliche Anstöße.
In der jüngsten Ausgabe der Schweizer Monatshefte sind einige Beiträge zu Leben und Wirken Bodmers und Breitingers versammelt (u.a. von Anett Lütteken und Detlef Döring). Bodmer war Professor für Vaterländische Geschichte, Breitinger für Theologie sowie für hebräische und griechische Philologie in Zürich. Zu den bedeutendsten Zeugnissen ihrer gemeinsamen Arbeit zählt die nach englischem Vorbild konzipierte moralische Wochenschrift Die Discourse der Mahlern (1721 bis 1723), an deren Darbietungsform sich auch der Leipziger Professor Johann Christoph Gottsched mit eigenen Zeitschriftenprojekten orientierte.
Mit Gottsched führten die beiden Schweizer, obwohl sie, wie er, Anhänger des Rationalismus und einer „Kritischen Dichtkunst“ waren, einen erbitterten Streit über die Frage, ob die Phantasie, „das Wunderbare“, in der Dichtung etwas zu suchen habe oder nicht. Gottsched beharrte auf der Kontrolle der Literatur durch die Vernunft, was etwa das Auftreten mythischer Figuren verbot. John Miltons Epos Paradise Lost mit all seinen Teufeln und Engeln, das Bodmer übersetzt hatte, galt Gottsched als Inbegriff vernunftwidrigen Phantasierens, so daß ihm die beiden Schweizer zu „Feinden der Aufklärung“ wurden. Bodmer gilt übrigens auch als Wiederentdecker des lange vergessenen Nibelungenlieds.
Es ist erfreulich, daß eine längst in die Literaturgeschichte eingegangene Fehde und deren Protagonisten, die heute nicht einmal mehr Germanistik-Studenten bekannt sind, wieder ins Licht treten und gar nicht so fremdartig wirken, wie man vermuten könnte. In der gleichen Ausgabe der Schweizer Monatshefte erinnert Holger Böning an den helvetischen Kleinbauern und Garnhausierer Ulrich Bräker, dessen 1789 erschienene Lebensgeschichte und Natürliche Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg von den aufgeklärten Zeitgenossen verschlungen wurde. Bräkers Buch ist ein Zeugnis der Freude, die das Lesen und Schreiben von Büchern in ein sonst wenig freudvolles Dasein brachten. Gleiches gilt für seine mehrere tausend Seiten umfassenden Tagebücher.
Im Märzheft des Merkur reflektiert der Schriftsteller Walter Klier über den österreichischen Klassiker Franz Grillparzer, der zur Biedermeier-Epoche gerechnet wird, mit der die Moderne angeblich begann mit ihrer Zerrissenheit und Ortlosigkeit. Grillparzer strebte laut Klier danach, die klassischen Verhältnisse auf dem Theater zu erhalten: „Er eiferte Goethe und Schiller nach, verehrte Shakespeare und die alten Spanier, und zugleich geriet ihm doch jedes seiner Stücke beinahe zu einer Parodie auf die großen Vorbilder.“ Absolut heutig erscheine „der schwankende Boden, auf dem die Grillparzerschen Helden zu stehen oder voranzukommen versuchen.“
Wer immer über Grillparzer schrieb, hat sich Gedanken gemacht über diese österreichische Art des Scheiterns, diese besondere Gabe zum Unglücklichsein. Nach dem Mißerfolg seines einzigen Lustspiels Weh dem, der lügt! (1838) zog sich Grillparzer vom Theater zurück und schrieb fortan, mit Ehrungen überhäuft, für die Schublade. Gegen Ende seines Lebens hat er gar nicht mehr geschrieben, sich nur noch selbst beobachtet beim Erkalten seiner poetischen Leidenschaft, so Klier. Sein „Scheitern“ habe er auch inszeniert, als erster in einer Reihe „genialer Jammerer“, die die österreichische Literatur bis hin zu Thomas Bernhard immer wieder hervorgebracht habe.
Heutzutage werden Grillparzers patriotische Dramen selten gespielt und nicht mehr gelesen. Es sei allerdings vorstellbar, meint Klier, daß sich mit einigen seiner Stücke, „wenn man sie nur in ihrem romantischen Überschwang und ihrer barocken Wucht wortwörtlich nähme“, die besten theatralischen Effekte erzielen ließen, wenn erst einmal das Regietheater abgeschafft sein wird.
Das Maiheft des Merkur stellt einen detailgenauen poetologischen Aufsatz wieder zur Debatte, den Helmut Heißenbüttel 1968 zu Stefan Georges 100. Geburtstag für das Radio geschrieben hat. Heißenbüttel erzählt darin von der Faszination, die Georges Gedichte seit der ersten Begegnung mit ihnen als Achtzehnjähriger auf ihn ausgeübt haben. Die Begeisterung war anhaltend und so groß, daß er noch 1943 den Stern des Bundes und Das Neue Reich mit der Hand abgeschrieben hat.
Was ihn derart fasziniert habe, sei etwas sehr Konkretes gewesen: „Wörter, Wortgruppen, bestimmte Zusammenstellungen, in bestimmter Perspektive ausgewählte Sprachkombinationen.“ Ihn interessierte „der Einklang der Vokale, Konsonanten und mehrwortigen Reimbindungen“, also die Wörter-Arbeit des Meisters, seine Formulierungen, das „durch vokabuläre Zusammenfügung hergestellte künstliche Bild.“ Denn stärker als alle seine Zeitgenossen, Rilke eingeschlossen, habe George „auf die Materialität der Sprache“ vertraut.
Freilich trennt Heißenbüttel das Gedicht Georges von der Person des „Sektierers“. Er habe den Kult der Georgeaner immer „etwas lächerlich“ gefunden und die persönliche Wirkung Georges für „unheilvoll und verderblich“ gehalten. George hatte seiner Ansicht nach „den bösen Blick und, was schlimmer ist, die böse Berührung. Wie ein echter Teufel der christlichen Mythologie tröstete er sich damit über die unüberbrückbare Einsamkeit, der er verfallen war.“

Volltext: Nr. 1 und Nr. 2, 2007  externer Link
Lothringerstraße 3, A-1010 Wien
jeweils 2,50 Euro

Ort der Augen: Nr. 1, 2007  externer Link
Forellenweg 5, 39291 Möser
4,90 Euro

Schweizer Monatshefte: Heft 3/4, März/April 2007  externer Link
Vogelsangstraße 52, CH-8006 Zürich
11 Euro

Merkur: Heft 3 und Heft 5, 2007   externer Link
Mommsenstraße 27, 10629 Berlin
jeweils 11 Euro

Michael Buselmeier       20.05.2007 

 

Michael Buselmeier
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