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Nils Mohl
Tauben stelzen
Aus: Kasse 53 (Roman)

Tauben stelzen, dabei kaum vernehmlich girrend, gurrend, rucksend, zwischen den Abfällen umher, zwischen Zigarettenkippen, Speiseresten, zwischen Folien- und anderen Kunststoffschnipseln. Picken in der Nähe der Mülltonnen, unter den von kleinen Zierahorn-Bäumchen beschatteten Bänken der Fußgängerzone in den Ritzen und Fugen des in regelmäßigen Rechteckverbänden verlegten, rötlich glimmernden Granit-Pflasters nach Krumen, Körnern, Essbarem. Straßentauben mit schieferblauem, eng anliegendem Gefieder, schwärzlichen Schnäbeln, mit violett bis grün schimmernden Hälsen. Es ist kurz vor elf am Vormittag. Ein Obdachloser hockt unweit des Eingangs eines Schuhgeschäfts hinter einer Pappschachtel, an seiner Seite döst ein Hund in der Sonne. Gegenüber, vor dem Schaufenster einer Parfümerie, spielt eine blasse, nicht mehr junge Frau mit halb geschlossenen Augen und gesenkter Stirn Akkordeon. Passantinnen, Passanten hasten, schlendern, trotten, schreiten, hetzen, bummeln vorbei, einzeln und doch auch miteinander, aber jede und jeder in einem anderen, ganz eigenen Tempo, von gemächlich bis presto, von andante bis Stechschritt. Die meisten kommen aus Richtung des in der Nähe gelegenen Bahnhofs, eines Durchgangsbahnhofs, der täglich von knapp achthundert Fern- und etwa eintausend S-Bahn-Zügen angefahren wird. Eine weithin sichtbare Bahnsteighalle, eine knapp vierzig Meter hohe, freitragende Stahl-Glas-Konstruktion, überspannt den im ehemaligen Stadtgraben eingesenkten Gleiskörper. Hier, am Hauptbahnhof dieser knapp zwei Millionen Einwohner zählenden, europäischen Hafenmetropole, treffen um diese Uhrzeit, kurz vor Beginn ihres Spätdienstes, noch eine ganze Reihe Angestellter der umliegenden Geschäfte, Gastronomiebetriebe und Warenhäuser ein, unter ihnen auch Mitarbeiter des größten technischen Kaufhauses der Stadt, die das Bahnhofsgebäude samt seiner Geräuschkulisse, eines hallenden Gewirrs aus Stimmenfetzen, Lautsprecheransagen, Signaltönen und dem pausenlosen Gelärme der an- und abfahrenden Züge, auf der Westseite verlassen. Ein böiger Wind weht über den Vorplatz. Die Luft ist mild, sommerlich warm. Über die den Bahnhof von der Innenstadt trennende, in beiden Richtungen zweispurige Straße schleppt sich immer wieder stockend der Autoverkehr. Die Mitarbeiter des großen technischen Kaufhauses queren die Straße an einem Ampelübergang, gelangen, als Teil eines in die City drängenden, schwärmenden, einfallenden Menschenpulks, in die Fußgängerzone: Hohe, auf massiven Sockeln ruhende Gebäude mit zumeist steinernen Fassaden links sowie verklinkerten Fassaden rechts dominieren den etwa zwanzig Meter breiten, korridorartigen Straßenzug, recken sich über fünf, zum Teil auch sechs, sieben Stockwerke in den nahezu wolkenlosen Augusthimmel. Farbige Markisen, Schilder, Banner, Leuchtreklamen, Schriftzüge prangen über den hohen, verglasten Erdgeschossen und offenen Eingangsbereichen. In einem fort strömen Neugierige in die Geschäfte hinein, Kunden aus den Geschäften heraus, mit Tüten, Jutebeuteln, Tragenetzen, Hand-, Unterarm- und Umhängetaschen, Köfferchen, Aktenmappen, Tüten und immer wieder Tüten in den Händen. Gelb-blau-weiß sind sie bei denen, die ihre Plastiktragetaschen nach dem Einkauf in dem großen technischen Kaufhaus bekommen haben: einem alten Familienunternehmen, das sich im Laufe der Jahre von einem kleinen, in einem Vorort der Stadt ansässigen Fahrrad- und Rundfunkgerätehandel zu einer Kaufhauskette mit über vierzig Filialen entwickelt hat. Geleitet wird dieser Einzelhandelskonzern inzwischen vom Enkel des vor zwanzig Jahren verstorbenen Firmengründers, und der heutige Sitz des Haupthauses, gelegen inmitten der längsten und bekanntesten Fußgängerzone der Stadt, einer Einkaufsmeile von internationalem Ruf, gilt als Topadresse, als einer der attraktivsten Standorte der City: Nirgends in der Innenstadt ist die Kundenfrequenz höher. Und das liegt nicht zuletzt auch an den Dimensionen des Hauses. Mit seiner sich über fünf Stockwerke vom Tiefparterre bis zur dritten Etage erstreckenden Gesamtverkaufsfläche von rund vierundzwanzigtausend Quadratmetern, was in etwa den Ausmaßen von drei bis vier Fußballfeldern entspricht, zählt es zu den größten seiner Art in Europa. Mehr als eintausendzweihundert Mitarbeiter sind hier beschäftigt.

Es ist kurz vor elf am Vormittag.

In der Kantine im vierten Stock werden Zigaretten in Glasaschenbechern ausgedrückt, schlicht-weiße Kaffeetassen auf orangefarbene Hartplastiktabletts gestellt. Es riecht nach Großküche. Der Raum ist sonnendurchflutet, die Luft trotz der geöffneten, in den Dachschrägen versenkten Kippfenster stickig. Man schaut auf Handgelenksuhren, gähnt, stöhnt, lächelt, schaut zur Wanduhr hoch, beendet Gespräche, streckt sich, reckt sich, nickt sich zu: vier Minuten vor elf. Allgemeines Stuhlgerücke setzt ein: Die letzten an den in parallelen Reihen aufgestellten Tischen verteilt, allein oder in Grüppchen beieinander sitzenden Spätschichtmitarbeiter erheben sich, nicht gleichzeitig, aber nach und nach, bringen das benutzte Geschirr zur Geschirrrückgabe. Dort, am Kopfende des Raumes, hängt, in rahmenloses Plexiglas gefasst, an der Wand direkt neben der Geschirrrückgabe, der tabellarische, auf DIN-A4 frisch ausgedruckte, Menü- und Speisenplan für die aktuelle Woche, die 31. Kalenderwoche 1999. Man wirft einen flüchtigen Blick auf die Spalten Suppe, Stammessen I, Stammessen II, liest Altbekanntes: von Geschnetzeltem Züricher- bis Fischfilet Müllerinart, keine Überraschungen. Die Tabletts werden auf ein leise vor sich hinbrummendes Laufband gestellt, man steuert den Kantinenausgang an: Ein abgetretener, graumelierter Spannteppich schluckt die Schrittgeräusche. Die ersten, von ihren Kollegen bereits zur Pause abgelösten Frühschichtler erscheinen, kommen den die Kantine verlassenden Spätschichtlern entgegen, man grüßt sich, kurz, beiläufig, im Vorübergehen: Hallo, hallo, guten Morgen, Mahlzeit, alles klar, na, wie geht's? Die Spätschichtler verlassen die Kantine durch eine Glastür, betreten einen kurzen Flur, gelangen in ein schmales, spärlich beleuchtetes Treppenhaus. Angenehm kühl ist es hier. Vor dem Fahrstuhl, den um diese Uhrzeit kaum jemand benutzt, geht es nach links, nach unten, in die dritte, zweite, erste Etage, ins Erdgeschoss, ins Tiefparterre. Man hört von oben die weiter unten durch den Schacht hallenden Schrittgeräusche, hört eine nicht zu bestimmende Anzahl Schuhpaare über die stumpfen, mattdunklen Quadrate, beige-grau marmorierte, schwarze Fliesen, tappen, treten, schlappen, quietschen, stöckeln. Der saure Geruch von äthylazetathaltigem Essigreiniger beißt in der Nase: Vor etwa einer halben Stunde hat die Putzkolonne den Boden Stufe für Stufe für Stufe, Treppenabsatz für Treppenabsatz, nass gewischt: Ein paar, inzwischen kaum mehr sichtbare, verschwindende Spuren, feucht schimmernde Stellen, filmige Putzwasserrückstände an den Fußleisten, in den Ecken, weisen noch darauf hin. Zwei Minuten vor elf. Die letzten Spätschichtler verlassen das Treppenhaus, den Personalbereich, betreten durch von außen eher unscheinbare, teils halb verdeckte Zugangstüren die Verkaufsräume, begeben sich zu ihren Abteilungen, ihren Arbeitsplätzen: Verkäuferinnen, Verkäufer, Kassiererinnen, Kassierer, die Servicekräfte der Warenausgaben. Und alle, ohne Ausnahme, tragen sie auf ausdrücklichen Wunsch der Geschäftsleitung blassblau-weiß gestreifte, langarmige Firmenhemden. An den aufgenähten Hemdbrusttaschen, direkt über dem eingestickten Firmenlogo, einem etwa daumennagelgroßen, schräg nach rechts geneigten Versal, einem B, klemmen Namensschilder, auf die in maschinenschriftlichen Druckbuchstaben der jeweilige Nachname mit der entsprechenden, vorangestellten Anrede, Herr, Frau, geschrieben ist. Neun Stunden inklusive einer halbstündigen Mittags-, zweier Fünfzehn- und einer inoffiziellen Fünf-Minuten-Pause werden ab jetzt bis zum Feierabend vergehen.

Blassblau-weiß gestreifte, langarmige Firmenhemden.

Wie alle anderen männlichen Mitarbeiter trägst du eine Krawatte deiner Wahl, in diesem Fall eine mit schwarz-lila-silberfarbenem Rhombenmuster. Du rückst im Gehen noch einmal an dem Windsor-Knoten herum, verlässt dann das Treppenhaus im ersten Stock, trittst durch die Tür, die zur Lampenabteilung führt: Es blinkt von Kunststoff, Aluminium, Licht. Du hältst dich links, nimmst die Rolltreppe ins Erdgeschoss: auf der Zunge dieses markante, parasynthetische Arom, ein unaufdringliches, halbsteriles Bukett aus Originalverpackung, Pheromonrudiment, gefilterter Luft. Die Klimaanlage rauscht: leise, kaum hörbar, allgegenwärtig. Surrt, überlagert von dem wabernden Mischmasch aus Stimmen, Sprachschall, Lauten, Klängen, Geräuschen, Hintergrundmusik, summt als Grundton der polyphonen, akustischen Kulisse des Kaufhauses, untermalt von gleichmäßig getaktetem Geratter der Rolltreppen. Du gehst nach rechts, vorbei an der Information, vorbei an der Foto- und der Installationsabteilung, vorbei an lückenlos gefüllten Regalen, gehst über matt glänzendes, graues Linoleum in Richtung Haupteingang. Menschen, neben-, vor-, hintereinander herlaufend, strömen, selbst im größten Gewühl dabei einander nicht berührend, kaum einmal streifend, durch breite, gläserne Schwingtüren in den Laden, schwärmen, gefolgt von den ihnen nachströmenden Menschen, einzeln, im Pulk, als Paar, andere überholend, von anderen überholt werdend, aus, dir entgegen, an dir vorbei: zehn, zwanzig Leben pro Sekunde, Teil keines Ganzen, keiner Ordnung, wie dir scheint, keiner für dich erkennbaren wenigstens. Teil einer undefinierbaren Masse vielleicht, die ihrerseits wieder Teil einer noch größeren Masse ist, Teil einfach eines augenscheinlich nicht abreißenden, nervös, scheinbar ziellos in das Kaufhaus hineinsprudelnden, hineinschwappenden Stroms. Eines Stroms endlos anonymen Daseins. Die Anderen des Kaufhauses: Gesichter, Pigmente, Pixel. Nichts, was sich bewegt, hinterlässt mehr als ein nur flüchtiges, unscharfes Bild auf deiner Netzhaut, trotz geradezu perfekter Lichtverhältnisse. Perfekt, weil das Licht der in parallelen Reihen, in einer Ebene mit der grau gesprenkelten, wabenartigen Kassettendecke angeordneten Lamellenrasterleuchten einfach alles, Einrichtung, Sortiment, Dekoration, in eine unaufdringliche, in eine sachliche Tageslichthelle taucht. Farben, Schrift, Preisetiketten, Schilder, Verpackungskartons, Ausstellware, Angestellte, Kunden, jede Ecke, jeder Winkel, jeder Tresen, jeder Gang, alles ist gleich ausgeleuchtet: gleich hell, gleich augenfreundlich, beinah schattenlos. Eine Minute vor elf. Kurz vor dem Eingang biegst du nach links ab, gelangst in die CD-Abteilung. Frau Kusch, deine Kollegin, die Ellbogen auf dem Tresen, das Kinn auf die Handrücken der ineinander gefalteten Hände abgestützt, lächelt dir entgegen. Du wünschst ihr einen guten Morgen. Guten Morgen, Frau Kusch. Frau Kusch grüßt zurück, schiebt einen Riegel auf der Rückseite der drei mal zwei Meter fünfzig großen, halb verglasten Box, in der sie sitzt, zurück. Die Tür schwingt auf.

Beinah schattenlos.

Die Kassen in diesem Kaufhaus sind keine dieser supermarkt-, fachmarkt-, discountkettentypischen Kassenschachteln: keine in Reihe aufgestellten und in Ausgangsnähe platzierten, an Legebatterien erinnernden, optisch völlig identischen Laufband-Kassenkästen. In diesem Kaufhaus sind die Kassen über alle Stockwerke, alle Abteilungen verteilt: insgesamt achtundzwanzig Stück, von denen an normalen Tagen, an Tagen wie diesem, aber nicht mehr als zwanzig besetzt sind. Ihr Design korrespondiert mit den jeweiligen Gegebenheiten der Abteilungen, und bei jedem Umbau werden sie neu gestaltet, erhalten bei Standortwechsel sogar eine neue Nummer, weshalb die Zählung, obwohl es keine entsprechende Anzahl Kassen im Haus gibt, mittlerweile bis zur Nummer dreiundfünfzig reicht. Kasse dreiundfünfzig, die Kasse, an der du arbeitest, gehört zu den schlicht, eckig, in erster Linie funktional, nicht zuletzt Platz sparend entworfenen Exemplaren: viele rechte Winkel auf wenig Raum. Mehr als der Drehstuhl, auf dem du sitzt, passt nicht hinein in die Box. Auf der schmaleren, der Abteilung zugewandten Längsseite, nach hinten und auch ein schmales Stück nach vorn, dort nämlich, wo die Kasse steht, schirmen ein Meter zwanzig hohe Plexiglasscheiben deinen Arbeitsplatz gegen den Verkaufsraum ab, der Tresenbereich ist offen und unverglast. Der Tresen selbst ist aus massivem, robustem Holz gefertigt, mit einem nebelgrauen, abwaschbaren Kunststoffbelag beschichtet, misst in der Tiefe exakt einen Meter und einen Meter fünfzig in der Breite. An den Kanten sind schmale Winkelleisten aus Aluminium verschraubt. Elf Uhr drei. Frau Kusch, die dich und die Kollegin von der Rundfunkkasse später im Wechsel, einem minutiös geregelten Pausenplan folgend, zum Mittag, zum Kaffee, zum Abendbrot ablösen wird, hat sich inzwischen auf den Weg in die Kantine gemacht. Du justierst den Drehstuhl, stellst ihn auf eine dir angenehme Höhe ein, kontrollierst Journal- und Bonrolle, öffnest die Kassenlade, schaust, ob genügend Münzgeld in den Fächern liegt, schließt die Kassenlade, überprüfst die Bestände an Wechselgeld in der Schublade rechts von dir. Zehn Rollen Pfennige, zwei Rollen Zweipfennige, zwei Rollen Markstücke, drei Rollen Zweimarkstücke, zwei Rollen Fünfer: das Wechselgeld, das deine Kollegin heute früh vor Ladenöffnung aus dem Kassenbüro geholt hat. Du angelst eine halb volle 1000ml-Flasche eines Putzmittels mit dem Namen Kristall-Klar nebst einem bunt karierten, zweimal gefalteten Wischlappen, der täglich von der Putzkolonne dort bereit gelegt wird, unter dem Tresen hervor: Blau ist sie, die Flüssigkeit in der Kristall-Klar-Flasche, tief blau. Du schraubst den Deckel ab, drückst den Lappen gegen die Öffnung, drehst die Flasche einmal kurz auf den Kopf und wieder zurück, wischt mit dem benetzten Lappen über Konsole, Tastatur, Tresen, Ablage. Seit knapp einem Jahr machst du das so, jeden morgen. Seit knapp einem Jahr arbeitest du an der Kasse der CD-Abteilung. Du bist achtundzwanzig Jahre alt. Vor zwei Tagen, am Samstag, hast du Geburtstag gehabt.

 

Aus: Kasse 53. Roman. Achilla Presse, 2008

Nils Mohl  02.03.2008   

Nils Mohl
Prosa