poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Erich Loest Lesebuch – Das halbvolle Glas

Halbvoll

Subjektkritische Annäherungen
an das Erich-Loest-Lesebuch des Leipziger Plöttner Verlags

  Kritik
  Das halbvolle Glas
Erich Loest Lesebuch
Hg. Regine Möbius; Michael Hametner
Plöttner Verlag, 2012
476 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-86211-060-5
Alle Seitenangaben in () beziehen sich hierauf


„Erich Loest gehört längst zu den Größen deutschsprachiger Literatur. In zahl­reichen Erzählungen und Romanen beschrieb Loest deutsch-deutsche Geschichte und fesselte durch eine spannende und unter­haltende Erzähl­weise. Immer wieder hat der Schrift­steller seine Texte und Sujets so gewählt, dass sie den Lesern, ob Jung oder Alt, deutsche Geschichte im 20. Jahr­hundert nahebringen konnten. Dabei hat er sich nicht nur durch seine auto­biogra­fischen Schriften und Essays als auf­merksamer Zeitzeuge einen Namen gemacht: Vor allem in seinen zeit­geschicht­lichen Romanen kommt der Chronist Erich Loest immer wieder zum Vorschein. Und so stellt das neue Lese­buch mit Auszügen aus diesen belle­tristischen Werken den Chronis­ten Erich Loest heraus und macht Geschichte erfahr­bar.“1

I. 

Den so öffentlich ausgelobten Autor habe ich in meinem einzigen Buch (1987)2, das sowohl als akade­mische Qualifi­kations­schrift kurz nach Erschei­nen an­ge­nom­men als auch zehn Jahre später (1997) verfilmt wurde, zwei Mal zitiert: einmal kri­tisch in der Ein­leitung gegen eine hagio­graphische Tendenz in der Zeit­geschichts­schreibung aus Loests 1974 ver­öffent­lichter Erzählung Eine ganz alte Ge­schichte mit dem Kom­mentar, „daß es auch und gerade in der Ge­schichts­schreibung der prole­tarischen und Arbeiter­bewegung ereig­nis­hafte Über­spitzungen gibt, die in der dis­tanz­losen späteren Deutung ver­helden […] Ebenso­wenig wie Loests Kunst­figur, der pro­minente kom­munis­tische Funktionär Kurt Drägow, „Drägowkurt“, an jedem wichtigen Ereig­nis seiner Zeit aktiv und persönlich betei­ligt war, muße auch der real­exis­tie­rende sozial­demokratische Mil­itante, Funk­tionär und Reichs­tags­ab­geord­nete Carlo Mieren­dorff an wichtigen Partei­ereig­nissen […] teil­nehmen.“3 Zum ande­ren im letz­ten Kapitel im Zu­sammen­hang mit dem Todes­tag Mieren­dorffs aus Loests 1984 erschie­nenem Roman Völker­schlacht­denkmal „zum schwers­ten briti­schen Luft­angriff auf Leipzig in der Nacht von Freitag auf Samstag (3./4.12.1943). Der Leip­ziger Schrift­stel­ler Erich Loest hat ihn so be­schrie­ben: ´An diesem 4. De­zem­ber wurde es über Leipzig nicht hell […] Leipzig war in die Knie gebro­chen in dieser Nacht, es stöhnte und wandt sich, zuckte und blutete, es hatte den schreck­lichsten Tag seiner Geschichte erlebt […] 1.100 Tonnen Bomben hatten 1.182 Leip­ziger umge­bracht, eine Tonnen Bomben für einen Menschen galt als ren­tabel.“4


II.

Erich Loest traf ich in diesem Leben bisher zwei Mal bei ganz­deutschen Schrift­stel­ler(verbands)­treffen in den 1990er Jahren. Loest hatte jeweils reich­lich getrunken und war meiner Erinnerung nach einmal noch nicht, das andere Mal schon betrunken und beide Male erfolg­reich bemüht, auch schwankend Haltung zu bewah­ren: wenn beim Optimisten das Glas halbvoll und beim Pessi­misten halbleer sein soll – dann weiß ich bis heute nicht, zu welcher Sorte von Trinkern Loest gehört. Und immer wenn ich an einen ehemaligen F.D.P.-Bundes­vize­kanzler, den im Juni 2003 abges­prun­genen Münste­raner Jürgen W. Möllemann („Jürgen WM“) und seinen in jeder öffent­lichen Veran­stal­tung mindes­tens einmal bemühten Kalauer von den Deppen, die glauben, daß 'n Zitronen­falter wirklich Zitronen faltet denke, dann asso­ziiere ich typi­scher­weise Loests Sach­sen­spruch von der (1953 bis 1990 real-exis­tie­renden) einzigen sächsischen Stadt mit drei O's – Karl-Marx-Stadt und vermute: dieser drög­sächsische Sprach­kalauer hat sich eher im Gedächtnis fest­gesetzt als der kriti­sche Hinweis des Autors nach dem 17. Juni 1953 an seine dama­ligen Ge­nossen: „Es nützt nichts, im Elfen­bein­turm zu sitzen und die Rote Fahne zu schwingen“.5


III.


Von Erich Loest stehen im eigenen Bücherregal acht (mit Ausnahme des Karl-May-Romans auch gelesene) Bücher: die Romane Schattenboxen (1973), Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene (1978), Swallow, mein wackerer Mus­tang (1980), Reichs­gericht (2001) sowie der Erzähl­band Pistole mit sech­zehn (1979), die bewe­gende Auto­bio­graphie Durch die Erde ein Riß und die zeit­geschicht­lich-poli­tischen Recherche­bände Der Vierte Zensor (1984) und Die Stasi war mein Ecker­mann (1991). Dazu las ich drei weitere, über Fern­leihe aus­gelie­hene Loest-Romane: Fallhöhe (1989), Völker­schlacht­denkmal (1984) und Zwiebel­muster (1985). Loests (soweit ich weiß) bisher kommer­ziells­ten Erfolg ist der Roman Niko­lai­kirche (1995), der am 27. Oktober und 1. November 1995 als ARD-Ver­filmung6 erst­gesendet und 1996 preis­gekrönt wurde.


IV.

Im Zusammenhang mit einer Kurzreise nach Leipzig las ich zuletzt den justiz­kriti­schen Loest-Roman Reichsgericht (2001). Diesen Roman bewerte ich (weniger wegen des Plots, mit Ver­storbenen kon­spirativ-terris­tisch sprechen zu können als vielmehr) wegen des weiten links­demokratisch-politik­histo­rischen Hori­zonts und seiner mit Gegen­warts­hand­lung ver­schränk­ten Bil­dungs­elemente als so ein­dring­liches wie ambitio­niertes Stück deutsch(sprachig)er Unter­haltungs­literatur des ver­gan­genen zwanzigs­ten Jahr­hunderts. In­sofern weist Reichs­gericht Loest als hand­werk­lich höchst­erfahrenen, passagen­weise unter­haltungs­lite­rarisch bril­liant schrei­benden Erzäh­ler und Romancier aus. Und schließ­lich könnte der Autor inzwi­schen auch der­jenige Ex-DDR-Autor aus der nun (hoch)betagten Schrift­stel­ler­generation sein, der auch die Alt-BRD-Gesell­schaft der 1980er Jahre und ihre bis heute kaum auf­gear­bei­teten Indivi­dualisierung­schübe7 unter­haltungs­lite­rarisch bewäl­tigen kann. Dies ist auch Aus­druck einer Autoren­entwick­lung, die sich bereits im Roman Fallhöhe (1989) als dem ersten Loest-Erzähl­stoff, der im teil­deutschen bundes­repu­bli­ka­ni­schen Wes­ten spielt, an­deutete.


V.


Aufs Leipziger Erich-Loest-Lesebuch war ich wochenlang gespannt. Nun liegt's nach Wochen endlich (auch mir hier im deutsch-belgischen Grenz­gebiet) vor. Ein (ge)wichti­ges Buch auch im ding­lichen Sinn. Es liegt gut in der Hand mit seinen 616 Gramm. Und augenfreund­lich ist es auch: die Texte ent­sprechen dem, was etwa dtv als Großdruck bewirbt.

Im Klappentext wird als Hauptanliegen von Verlag und Heraus­gebern betont: „Wir wünschen uns, dass dieses Lese­buch für neue, junge Leser zur Anregung wird, sich die Roman­welt von Erich Loest zu erobern.“ Dem Anliegen ent­spre­chend, präsen­tiert „dieses Lesebuch Auskünfte zur Ent­stehung, Inhalts­angaben und Aus­züge aus folgenden Romanen von Erich Loest:

JUNGEN, DIE ÜBRIG BLIEBEN (1950)
ICH WAR DR. LEY […] (1966)
ES GEHT SEINEN GANG […] (1977)
SWLALLOW, MEIN WACKERER MUSTANG (1980)
ZWIEBELMUSTER (1985)
FROSCHKONZERT (1987)
NIKOLAIKIRCHE (1995)
GUTE GENOSSEN (1999)
SOMMERGEWITTER (2005)
LÖWENSTADT (2009)“

Alle zehn Texte (13-471) sind als Roman­auszüge auf jeweils andert­halb Seiten vorab dop­pelt kommen­tiert durch Heraus­geber­hin­weise zu Ent­ste­hung und Inhalt der zehn Loest-Romane aus sech­zig Autoren­jahren. Voran­gestellt ist eine drei­sei­tige edito­risches Vor­bemerkung: WENN DIE GESCHICHTE NOCH QUALMT (9-11). Den Band schließen WICHTIGE LEBENSDATEN (472-473) und eine BIBLIOGRAPHIE DER HAUPTWERKE VON ERICH LOEST (474-476) ab.


VI.

Die Herausgeber betonen in ihrer Vorbemerkung die besondere Lebensgeschichte des Autors: bis 1945 glühender Jungnazi, 1947, grad volljährig, SED-Mit­glied, ab 1953 kriti­scher Partei­kom­munist in Leipzig, 1957 Fest­nahme und bis 1964 Zucht­häusler in Bautzen, 1981 vorüber­ge­hende und ab 1984 dauer­hafte Über­sie­delung in die Alt-BRD, nach der „Wende“ 1990 Zweit­wohn­sitz wieder in Leip­zig … das zeigt, „wie sehr Loests Leben von der [deutschen] Zeit­geschichte geschüt­telt und geprägt“ wurde. Ent­spre­chend wird auf das histo­rische Material von Loest-Romanen ver­wiesen und auf dessen „Literatur­konzept“ mit auf­klärender „romanhaft aufbe­reiteter Zeit­geschichte [als] einer Quelle des Lernens und Staunens.“

So überzeugend dieses General­anliegen insbe­sondere mit Blick auf „die Nach­gebo­renen“ (Bertolt Brecht) auch ist – ob die zehn ge­nannten, im Buch als readers digest wieder­ver­öffent­lichten, die – wie die Heraus­geber meinen – „zehn besten“ Loest-Romane sind, mag offen bleiben: weniger, weil etwa der werk­geschichtlich wichtige Roman Fallhöhe8 fehlt (475). Sondern vielmehr wegen des feh­lenden Romans Reichs­gericht (2001) einer­seits. Und weil anderer­seits in diesem Lese­buch begrün­dungs­los nur aus­gewählte Romanpas­sagen er­scheinen und damit alles Essayis­tische und Dokumenta­rische wegbleibt. Das halte ich beim Zensor-Bericht9 (1984) für vertretbar. Nicht aber beim auto­biographischen Text Durch die Erde ein Riß (1981), genauer: in diesem dramatischen Lebenslauf schreibt Loest über das ihn „umstülpende“ Jahr 195310: „Jetzt, sagte er sich heftig und ent­schlos­sen, wirst du nie mehr blind glauben, alles wirst du prüfen und Menschen und Dinge wenden. Du wirst dein Gewissen als etwas betrach­ten, wofür du verant­wort­lich bist …“

An diese kritischen Kurzhinweise wären bei jeder ver­tiefenden Diskussion noch mindestens zwei weitere Fragen an die Editoren anzu­schließen. Sie verweisen auf eine doppel­te Nicht­begründung: warum diese zehn Texte fürs Lesebuch im all­gemeinen und warum bei den aus­gewählten Texten im Lesebuch speziell diese Text­passsagen?


VII.


Weitere Kritikpunkte am Erich-Loest-Lese­buch beziehen sich auf (scheinbare) Äußer­lich­keiten der Buch­präsen­tation: gemeint ist damit weni­ger der im Buch selbst (5) prominent placierte Hinweis auf die Stiftungen der Sparkasse Leipzig. Das muß heuer wohl im spät­kapi­talis­tisch bestimmten Lite­ratur­betrieb11 nach dem nun-gut-Muster bei Spon­soren(reklame) so sein: der wichtigste Strom ist literatur­gesell­schaftlich der Geldstrom und nicht der Gedanken­strom …

Geärgert hat mich besonders die doppelt peinliche Reklame fürs Loest-Lese­buch im hinteren Klappen­text: das pseudo­akade­mische Gepiffer als „Dr. h.c. mult.“ hat der Schrift­stel­ler Erich Loest ebenso wenig nötig wie die trie­fige Aus­lobe des (inzwi­schen an die Spitze des Bundes­präsidial­amts ge­langten) staats­tutte­ligen „Bürger­rechtlers“ Gauck zum Kulturgroschen (2010).


VIII.

Zum gegenwärtigen weltliterarischen Olymp, dem Literaturnobelpreis, kenne ich einerseits nur die seine Götter entzaubernde Romansatire des geschätzten Carl Djerassi.12 Anderer­seits kenne ich die – auch literarisch – bedeut­same Stei­gerung von Müll: Müller. Und Tertium: die ent­sprechende Stei­gerung von Loest – Loester – kenne ich nicht.


________________________
1Das halbvolle Glas. Erich Loest Lesebuch. Hg. Regine Möbius; Michael Hametner. Leipzig; London: Plött-ner, 2012, 476 p., ISBN 978-3-86211-060-5; 16 € (D), 16.40 € (A), 19.30 CFr. (CH). Alle Seitenangaben in () beziehen sich hierauf. Zum Buch im Verlag

2 Erich Loest, Pistole mit sechzehn. Erzählungen. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1979: 153-167

3 Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943. Berlin-Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., 1987 [= Internationale Bibliothek Bd. 124]: 14

4 Erich Loest, Völkerschlachtdenkmal. Roman. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1984: 135-144; Albrecht, Der mili­tante Sozial­demokrat: 221

5 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Leipziger Ausgabe, Nr. 27: 4. Juli 1953; zitiert nach 17. Juni 1953

6 WDR-Information, Pressestelle, 3.11.1995: „Über fünf Millionen sahen das Finale auf Leipzigs Straßen“; ebenda, 19.4.1996: „DAG-Fernsehpreis an Autoren der Nikolaikirche verliehen“

7Richard Albrecht, Diffe­ren­zierung – Plura­lisierung – Indivi­duali­sierung. Umbruchs­pro­zesse der bundes­republi­kanischen Gesell­schaft; in: Gewerk­schaftliche Monatshefte, 41 (1990) 8: 503-512; auch pdf-Datei: 1990-08-a-503.pdf

8 Erich Loest, Fallhöhe. Roman. Künzelsau: Linden, 1989, 291 p.

9 Erich Loest, Der Vierte Zensor. Vom Ent­stehen und Sterben eines Romans in der DDR. Köln: Edition Deutsch­land Archiv, 1984, 96 p.; zu Begriff und Praxis(formen) von Zensur: Richard Albrecht, Literatur - Medien - Zen-sur; in: die horen, 24 (1979) 113: 121-140

10Erich Loest, Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1981: 254

11 Richard Albrecht, Literatur/Waren/Produktion, in: die horen, 24 (1979) 116: 127-138

12 Carl Djerassi, Cantors Dilemma. A Novel [1989]; Penguin, ²1991, 229 p.; deutsch­sprachige Erst­ausgabe Zürich: Haffmans, 1991, 275 p.; Taschen­buch­ausgabe München: Heyne, 1994, 287 p.

Richard Albrecht (PhD.; Dr.rer.pol.habil.) ist unabhän­giger Sozial­wissen­schaftler & freier Autor in Bad Münstereifel, vertritt in der empirischen Kultur- und So­zial­for­schung den „Utopian Paradigm“-Ansatz (Communications, 16 [1991] 3: 283-318), veröffentlichte in den letzten Jahren als Sozial­wissenschafts­journalist vor allem in soziologie heute, Aufklärung und Kritik, der Zeitschrift für Weltgeschichte und dem Netzmagazin Film und Buch sowie die Bücher SUCH LINGE (2008), FLASCHEN POST (Editor, 2011) und den Erzählband HELDEN­TOD. Kurze Texte aus langen Jahren (2011).
Netzarchiv des Autors  externer Link  |  Bio-Bibliographie  externer Link

Richard Albrecht    14.10.2012    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 
Richard Albrecht
  • Zur Person
  • Mail
Beiträge