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Knaben lieben

Beim Warten auf den Bus stehen zu meiner Rechten Knaben, kleine, feine, die aussehen wie damals die Knaben, die klein und fein waren, doch für mich so gross und bedeutend.
Die Knaben zu meiner Rechten tragen Kleider wie die Grossen, die aus dem Fernseher die Welt in die Kinderstube winken, Kleider, so wie sie die Knaben von damals trugen, so ganz wie die Grossen, so wie die Kleider die ich trug, Kleider wie die der Grossen waren, die mir aus den Zeitschriften die Welt in die Kinderstube gewunken haben.
Die Knaben zu meiner Rechten sprechen in kleinen Worten mit grossen Buchstaben und mächtigen Ausrufezeichen, eine Sprache, die meiner ähnlich ist, der aber noch das Ende der Sätze fehlt.
Der Bus kommt, und ich lasse die Knaben vorgehen, sie schubsen sich in den Bus, ich schleiche hinter ihnen her und setze mich dicht hinter sie, so, dass ich sie riechen kann. Ich rieche die Knaben von damals, und denke: Ich werde nie mehr Knaben lieben, Knaben, die meine Hüfte blau gelegen haben, deren Mutter mitten in der Nacht angerufen und sie nach Hause geholt hat, Knaben mit langen Knochen unter zarter Haut, mit schmalen Handgelenken und dünnen Fingern, die gezittert haben, die ihren Weg noch nicht kannten auf den Mädchenkörpern, die nicht wussten, wo der Weg ist, nicht, wo er sie hinführen wird.
Die Knaben mit trockenen Lippen und nassen Zungen, Knaben, die glatten Mädchenhaut befühlen wollten und über Stoff strichen; die Knabenkörper passten noch gar nicht zu den Mädchenkörpern, die Körper waren sich in der Horizontalen fremd, noch gar nicht weich gelegen.
Langsam lernten die Knaben die kurze Geschichte zweier Körper, würden später ganz ruhig sein, manchmal rücksichtsvoll, manchmal ungestüm und manchmal grob, doch damals lag die Liebe den Knaben wie eine Entzündung im Magen, wo es feucht ist und nichts heilt, sie fieberte ihnen die Übelkeit in den Bauch, sie mussten sich fast übergeben, die Knaben konnten nicht vorwärts preschen, konnten einfach nicht.
Sie waren neugierige Knaben mit Maulwurfsaugen, wacker im Dunkeln, blicklos bei Licht. Für die Knaben waren die Stunden nicht schön, nicht vertraut, nur fremd und spannend, das Lieben war ganz ohne Lachen, nur eine Vorsicht, ein nagendes Bedürfnis und weiter nichts.
Sie konnten nicht reden, so wir heut reden, nicht reden über den Anfang, den die Augen machen, das unbekleidete Mittendrin, und das Am-Schluss-mit-dem-Eigenen-pochenden-Körper-Sein, sie haben geschwiegen mit den Mädchen, gekichert mit den Jungs, was hätten sie denn sagen sollen, die kleinen, feinen Knaben, wie hätten sie es sagen sollen. Nur immer wieder daliegen wollten sie, im dunstigen Raum. Mit diesem Dunst in der Nase haben sie in Mädchenbetten gelegen, bis sie zögerlich zu wählen begannen, sich wegwählten vom Mädchen, das immer das Erste bleiben wird, das eine Mädchen, das immer die Eine sein wird, deren Gesicht und Körper sich ändert, dass immer wieder eine andere Frau ist.
Sie wählten sich weg aus dem Elternhaus und aus dem eigenen Bett in die Betten der Mädchen in deren Elternhäusern und dann hinaus in die Betten auf fremdem Terrain, sie wählten sich weg auf Luftmatratzen, auf Pritschen, auf Wiesen, in eigene Betten in eigenen Wohnungen, in die Betten der Mädchen in deren Wohnungen und in Doppelbetten hinein.
Die Männer in meinem Doppelbett sind immer der Erste und der Eine und auch der Einzige – sie bleiben für kurze oder lange Zeit, stehen auf und gehen.
Die Knaben, die vor mir sitzen, und riechen wie die Knaben von damals, sind dahin unterwegs, für ein Mädchen der Erste und Eine zu sein, sie reden über etwas, worüber ich schon lange nicht mehr geredet habe und stehen schon an der Tür, als der Bus auf die Haltestelle zufährt, die Türe öffnet sich, zischt die Knaben hinaus, ich höre sie lachen, als der Bus weiterfährt, die kleinen, feinen Knaben lachen in meinen geöffneten Kopf hinein. Ich schaue in die Wolke aus Duft und lauten Worten, die sich über ihren Sitzen verzieht und bedaure: In meinem Bett ist der Frühling vorbei.

* Die Schreibweise ss nach Diphthong oder langem Vokal – statt ß in der Bundesrepublik – entspricht der offiziellen schweizerischen Schreibweise, die wir im Original belassen haben.

Tania Kummer       13.05.2006        © 2006 Zytglogge Verlag, Bern

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