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Tobias Hipp
Der Russe
Der Russe kam wie jeden Abend. Vor dem Fenster tanzten die Lichter. Der Russe setzte sich an seinen Stammplatz. Kurz nach zwölf Uhr und ohne sichtbaren Grund begannen die Mädchen das Schaukeln. Anfangs wunderte man sich, ein paar Köpfe drehten sich in ihre Richtung, junge Männer, die den Mädchen unter die Röcke gucken wollten.
Dann ließ man sie schaukelnde Mädchen sein und wandte sich seinem Getränk zu.
So ging das jede Nacht, wie der Russe wusste, der sich niemals nach den Mädchen umdrehte. Und weil er einer der wenigen war, die mit lockerer Haltung, weißem T-Shirt und kahl rasiertem Kopf an der Bar blieben, erregte er das Aufsehen der Mädchen, die nicht schaukelten. Weil Mädchen, die in diesen Club kamen, oft dachten, dass Männer wie der Russe, wenn sie sich langweilten, mehr zu bieten hatten als die anderen Männer ringsum.
Weil der Russe wusste, dass die Mädchen das vom ihm dachten, ging er nie alleine nach Hause.
Meistens nickte er mir, mit einem blonden Pferdeschwanzmädchen an seiner Seite, zu, wenn er ging, Jagdblick in den Augen.
Und das, weil der Russe wusste, dass Mädchen, die einen fremden Mann in einem Club kennen lernen, es spannend finden, wenn dieser einen russischen Akzent hat.
Den Russen, Wladimir gab es seit wenigen Monaten.
Er war, wie man von überall hörte, über einen Umweg nach Moskau gekommen, hatte sich vor dem gewaltigen Schatten des Auferstehungstores am roten Platz die Hände aneinander gerieben, war in einen Second-Hand-Shop gestiefelt und mit einer Pelzmütze über den damals langen, dunklen Haaren zum Weißrussischen Bahnhof gelaufen.
Seine Blinde-Passagierreise begann in der Toilette am Kopfwagen, dort hielt er sich mehrere Minuten auf und wechselte dann zur nächsten Toilette über. So schaffte er es, wenn auch mit einigen Abweichungen von der günstigsten Reiseroute, Provinzbahnhöfen, abgeerntete Felder liefen ins Nirgendwo, Kartoffelfeuergeruch, wenn er den Zug nicht rechtzeitig verlassen konnte, weil der Schaffner an der Tür stand, von Russland über Minsk, Brest, Warszawa, Rzepin und Frankfurt an der Oder nach Berlin zu gelangen.
Alles ist gut, was gut endet, sagte der Russe und griff sein Glas Wodka.
Am Ostbahnhof stand er, mit Augenringen und talgiger Haut, aus Laut­sprechern dröhnten Durch­sagen, die er nicht verstand. Mehrere Wochen schlief er in einem Keller, hinter einem gesplit­terten Keller­eingang und ausgetretenen Holzbohlen, Grünspan an der Wand, seinen Kopf auf den Marsch­rucksack gebettet, in den er eilig Hab und Gut vor seiner Flucht gestopft hatte.
– Flucht?
– Graschdanskaja Oborona, sagte er der Russe, lächelnd, weil er wusste, dass allein der Klang so vieler in die Länge fließender Vokale, so vieler dazwischen knallender Kehllaute sein weibliches Gegenüber einnahm. Kalaschnikow-Sprache.
Eine Pause, in der die Röcke der Mädchen durch die Luft flogen, Gläser klirrten und Menschen in dem Geviert, das von Tischen und Stühlen umzäunt war, zu tanzen begannen. Eine russische Punkband, sagte der Russe in dieses Wirbeln hinein, eine Band, die von den National­bolsche­wiken zu Propagandazwecken eingesetzt wurde.
Du weißt, sagte der Russe und klappte sein rechtes Augenlid zu, junge, wilde Musik zieht meistens junge, wilde Menschen an, die für junge, wilde Politik, wenn sie sich als solche darstellte oder sich nicht zu erkennen gab, ein offenes Ohr hatten. Und irgendwann lernte ich Limonow kennen, von denen alle immer nur sagten, er sei verrückt. Eine fremde Seele liegt im Dunkeln, sagt man zwar gerne, aber auf Limonow traf dieses Sprichwort nicht zu.
Das Mädchen kicherte und der Russe machte eine dramatische Sprechpause, in der mit der Hand über seine Glatze strich und diese Pose im Spiegel über sich beobachtete.
Limonow hat von Charkiw erzählt. Abende, Dershprom, Wodka, Punkmusik. Abstürze, Musik, Mädchen. Dabei strich der Russe über den Flaum am Oberarm des Mädchens. Dann Paris. Immer das Gleiche. Verdorbenheit, Lichter, Kapitalismus, dieses Plastikfressen, Plastikmenschen, im Kern verdorben. In die Pause hinein, die entstand, weil der DJ versäumt hatte, eine neue Platte aufzulegen, dröhnte der sonore Bass des Russen. Die Mädchen standen und saßen, es gab andere Männer und dennoch hatte man das Gefühl, der Russe war der Magnet und alle anderen schwebten in seinem Magnetfeld, strömten vom Nordpol zum Südpol und drängten dem Ursprung der Feldlinien zu.
Jemand, sagte der Russe, der sich bewusst war, wie sehr er sich in den Augen aller spiegelte, Jemand schlägt einen Keil mit einem anderen heraus.
Der Mensch der Rebellion, der Nationalbolschewik, sieht seine Mission in der Zerstörung des Systems bis auf den Grund, sagte Limonow, betrunken, außer sich, weil seine Frau ihn mit einem Genossen betrogen hatte.
Später, Februar, als alles anders war, brachte sie sich um, Sängerin, Schauspielerin, Natalja Medwedewa.

– Und Nietzsche, sagte ich, als er mir das Parteiprogramm erläuterte und der Russe erwiderte, Nietzsche sei dekadent, Westen, Plüsch. Von nichts ausgehen. Purer Nihilismus. Spritze Laq Prelest in ein Glas, verdünne es mit Wodka und du weißt, was ich meine, sagte der Russe.
Oder, anders, sagte der Russe nach kurzem Überlegen, Nimm den deutschen Faschismus und verdünne ihn mit dem Bodensatz des Kommunismus.
Das Mädchen an seiner Seite lächelte wie eine Papierrose. Sag mir, sagte der Russe, woher kommst du. Ostberlin, sagte das Mädchen scheu. Die Muskeln des Russen, die sich unter seinem weißen Unterhemd deutlich abzeichneten, entkrampften sich. Kein Klassenfeind.
Ein junger Mann mit Halbglatze, schwarzer Brille am Kopf, Brechtlookalike, warf sein Glas an die Wand. Flüssigkeit spritzte, Scherben, der sehnige Nacken des Russen glänzte, als wäre er nicht mit dem Zug gekommen, sondern hätte die Wolga durchschwommen, um nach Berlin zu gelangen. Den Russen riss es mit blitzschneller Bewegung empor. Stille flog auf Albatrosflügeln durch den Club, die Mädchen vergaßen das Schaukeln und saßen wie Zuckergussstatuen auf der Holzpritsche. Der Russe packte den Bertolt am aufgestellten Kragen seines Comme-des-Garcons-Hemds und hob ihn aus seiner Starre in die Luft.
Russendisko, greinte der mit Halbglatze, weit geöffneten Kiemen, frisch aus dem Wasser gefischt, Macht man da nicht so was, Gläser an die Wand, Wodka mit Sardelle. Mit einem in der Mitte abgeknickten Arm, Berg entstand und lang gestreckt lag die Talsohle, trug ihn der Russe aus dem Club, während der andere baumelte und zappelte wie ein ungehöriges Kind. Bevor die Tür hinter dem Russen ins Schloss fiel, Licht flockte dabei zu Nachtstaub und Schmetterlingen, sagte er, Wie man den Wolf auch füttert, er wird trotzdem zum Wald hinschauen.
Man starrte ihm hinterher, erwartend, erleuchtet, heiliges Stimmvieh.
Spannung, alles verharrte in Zeitlupe, in Frisuren gewachsene Hände, gefrorene Lippen, in Wachs gegossenes Fuß-neben-Fuß oder Bein-über-Bein. Kein Atemzug, perlendes Schweigen wie auf dem Grund eines Moorsees. Dann, mit Mond über dem blanken Schädel, gekrönt von schwarzem Daunen und Sternen wie ein morgenländischer König, der Auftritt des Russen. Sein Körper schweißglänzend, wie knorriges Geäst liefen die Sehnen und Muskelfasern unter der Oberhaut des Russen zusammen. Er schreitet in die diese Stille, hebt beschwörend die eine Hand, ein Blick in den Spiegel, Geräusche branden auf, Stimmen, Musik und Bewegung fließen zusammen, eine neue Zeit dämmert herauf. Ich betrachte den Russen aus dem Augenwinkel, vermeide direkten Blickkontakt. Das Mädchen ist eine Feder, der Russe haucht sie an, sie bewegt sich, flattert in die Luft, er streckt seine Hand aus, wie einen Köcher.
Die Mädchen werfen sich der rissigen Deckenwand entgegen, gespannte, ächzende Seile halten ihr Gewicht. Der Russe bestellt Wodka, dreht das Glas in seinen Händen, als handelte es sich um etwas Heiliges. Das Mädchen, er, Prometheus, ist es, der Ton zu formen hat.

Das Altai Gebirge nahe Kasachstan, sagte der Russe an das Mädchen gewandt, Schiefer, grün und violett die Gesteinsfarbe, wenn die Sonne darauf schien. Wir, mehr als zehn Mann, in dieser Holzhütte, gebaut auf den Betongrund dieser schroffen Gegend, Wasser schöpfen mit bloßen Händen am Gebirgsbach, kaum Essen, aus den Nähten geplatzte Schuhe, Salz­verkruste­tes, kaum Schlaf, wie hell der Sonnenaufgang in den Bergen ist, alles steht in Flammen. Theorien, die Welt zu verändern: Stell dir vor, jedem, also dem Staat, gehört alles. Und dann kamen sie, die, die dem Staat untergeben sind in hündischer Art, 70 Männer mit schweren Schaftstiefeln und in Anschlag gebrachten Schnellfeuergewehren, gerade, als wir taub von der Nacht um den kippeligen Holztisch saßen, manche Wodka gegen die Höhenluft und Atembeschwerden tranken. Limonow übertölpelten sie, Lefortowo-Gefängnis, fünfzehn Jahre, sieben Bücher. Der Russe tippelte mit Fingernägeln auf Blankgeputztes, als würde er Klavier spielen.
– Und du?
Die Wölfe fürchten heißt: nicht in den Wald gehen, sagte der Russe und entblößte seine Vorderzähne, makelloses Weiß, Dolchform des Zahnschmelzes.
Ich entkam, während die anderen verhaftet wurden. Planung terroristischer Akte und illegaler Waffenbesitz. Der Rest ist Geschichte, mit Aufhalten in den von Pisse getränkten Schächten der Moskauer U-Bahn, die Zeit des großen Phentanyl-Rausches endete in Berlin. Das Mädchen, betrunken, hingebungsvoll, mit einer Locke des Ponys, die ihr quer über die Stirn hing, nickte, die Worte des Russen versiegten. Die Zeit des Sieges dämmerte herauf. Seine Augen hoben sich empor, trafen die spiegelnde Fläche über ihm.
Goldenes spielte um die kantigen Schläfen des Russen.
Man tanzte, im Hintergrund und so dezent, dass der Stoff der Kleider durch die Luft wirbelte, die weichen Gummisohlen der Schuhe über den Boden steppten, geräuschlos, um die Unterhaltung des Russen nicht mit Kulissenschiebergeräuschen zu stören.
Mit mächtiger Brust saß er da, ein Fuß bodenberührend, der andere balancierte auf der eisernen Querverstrebung des Barhockers, er tat nichts, wartete, bis das Gesicht des Mädchens sich ganz zu ihm hinneigte, Blume, er nahm es an, die Opfergabe, mit sanftem Druck der rechten Hand. Er hatte noch nicht gesprochen von der Perestroika, das gleißende Beben, das in den Köpfen von ihm und anderen gegärt hatte, das, was Limonow, Letov und andere Revolution genannt hatten und damit importierte Güter aus dem kapitalis­tischen Westen meinten und dann kam der Westen mit Aktien­märkten, Rendite und Investmentfonds zu ihnen und machte mit ihnen gemeinsam Revolution im eigenen Land und die Leute, deren Mäuler vor Abscheu geschäumt hatten, saßen hinter Gittern und schrieben in Umsturzzeiten, dass die Gefängniswände rosa bemalt waren, die Teppiche grün, Zellenwände ockerfarben und Eisenbetten blau. Wir vermissten: Ich habe im September die junge Brut der Revolution mit den zerstückten Leibern der Aristokraten geätzt.

Der Russe küsste das Mädchen, man hielt den Atem an, das Mädchen erwachte unter den Lippen des Russen, vor dem Fenster begann der neue Tag, das Schleifen der Trambahn in ihrem Gleis, Motorenbrodeln, das Holpern und Bocken der Reifenmäntel über das Kopfsteinpflaster. Durch das Glas sickerte blaues Licht ein, Aquariumlicht, schälte aus dem Oval der Gesichter Nase und Mund und Wangen und Kinn und Stirnbogen.
Der Russe stellte das leere Wodkaglas ab. Komm, sagte er dem Mädchen, das ihn aus engen Pupillen anblickte, nahm sie am Arm und stellte sie auf Zehenspitzen.
Allgemeiner Aufbruch, ein Scharren, stumpfer Glanz der Haare, hinter den Sitzen zusammen geknitterter Jackenstoff, der sich jetzt nach Nikotin und Schweiß riechend über den Schultern spannte. Die Musik verklang, das Kratzen des Tonabnehmers über die schwarz­lackierte Oberfläche der Schallplatte. Der DJ und sein stumpfes Glück, die Nacht überlebt zu haben, lief das Feld seiner kurz­gestoppelten Barthaare hinab, rauchte eine letzte Zigarette. Emporziehender Rauch, aus dem Fenster öffnete sich als grüne Insel der Innenhof, gestapelte Autoreifen, Öllachen, Holz­scheite über­einander geschichtet, springendes Unkraut. Die blank­gewetzten Litzen der Schaukelseile.
Als der Russe die Tür zum Eingang öffnete, das Mädchen mit müden Lidern an seiner Seite, kippte die Aquariumbläue um, verwandelten sich die kahlen Wände des Raumes in Sommer, Luft und Himmel und Wärme, die man mit den Händen greifen und sie wie einen Vorhang teilen konnte. Ich hätte jedem, der mich fragt, erzählen können von der Reise, die der Russe mit dem Mädchen antrat, durch die Stadt, Straßenbahn, die von grünen und violetten Sprenkeln durchschossene Oberflächenmaterial der Schalensitze, die halb geöffneten Fenster, draußen immer noch und immer wieder Abrisskräne, Baustellenzäune, Schutt und metertief aufgerissener Erdboden, der Russe strich mit einer Hand über ihre Wange, sagte nichts, obwohl er nicht müde war, seine Körperhaltung gespannt, die Kieferknochen und dünn sich darüber spannende Haut. Wie in Bernstein geschlossen das Mädchen, als sie ihr Gesicht auf die Oberschenkel des Russen legte. Aus dem Fenster Blaues, der Flusslauf durch die Stadt, Pfeiler, Brücken und Straßen, die sich darüber erhoben, der Gürtel aus Beton und Glas und Staub und Antennen und einem Himmel, dessen Band sich je enger um die Stadt schnürte, je tiefer sich die Straßenbahn auf ihrer von Kurven und abwinkelnden Schleifen durchbebten Trasse in ihr Zentrum bohrte. Dann stiegen sie aus, grüner Rasensaum, längs verlaufende Gleisschienen schnitten durch die Mitte zweier Ausfallstraßen. Eine breit sich hin lagernde Allee stand im frühen Sommerdunst. Der rumpelnde Lift in den neunten Stock, der Russe hielt das Mädchen dabei am schlanken Handgelenk, Schmuckstück, Beutetier.
Als ich in die Wohnung kam, hörte ich Keuchen und kleine Auslaute gepressten Atems, das kalte Klatschen von Fleisch auf Fleisch.
Setzt du ein Schwein an den Tisch, legt es bald auch seine Füße drauf, sagte der Russe später und vergaß dabei, mir gegenübersitzend, seinen sonoren Bass.
Tobias Hipp   20.01.2009   
Tobias Hipp
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