poetenladen    poet    verlag

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Ulrike Ulrich
Im Hintergrund
Nicht auf die Vier, hatte sie gesagt, wir können auf der Fünf fahren, auf der Sieben, der Vierzehn, meinetwegen fahren wir auf der Eins. Nicht auf die Vier, bitte, hatte sie gesagt, die Vier bringt mir kein Glück, und sie hatte seine Handfläche mit ihrem Daumen gedrückt, bis auf die Knochen. Sie hatte ihm nicht gesagt, weshalb, ihn in dem Glauben gelassen, sie sei auf eine numerologische Art und Weise aber­gläubisch. Und er hatte ihrem Wunsch nach­gegeben, obwohl es die nächste Linie ist, obwohl die anderen Linien weniger einträglich sind, man dort weniger Touris­ten antrifft, obwohl es dort oft hektischer zugeht, weniger wohlwollend.

 

Monatelang waren sie nie mit der Vier gefahren, nicht einmal zum Spaß. Während sie neben ihm den Boulevard de Barbès hinunterläuft, denkt sie daran, wie sie auch an diesem Morgen versucht hat, es abzuwenden. Mein Hand­gelenk, hat sie gesagt, wahr­schein­lich eine Entzündung. Sie gehen bei Rot über die Straße, Isabelle schaut nicht, sie überquert die Straße, als wäre da keine. Die Absätze ihrer Sandalen sind zu hoch, um bequem zu gehen.

 

Du musst ja nicht, hat er gesagt, als sie ihm am Morgen ihr Handgelenk gezeigt hat, als wäre da ein Wundmal. Du musst ja nicht mitkommen. Natürlich nicht. Sie hätte zuhause bleiben können, auf dem Bett liegen bleiben, dort auf ihn warten können. Sie ist ja frei. Er weiß gar nicht, wie frei. Sie könnte etwas ganz anderes tun. Sie müsste kein Tamburin schlagen.

 

Antonin lässt ihr lächelnd den Vortritt, weil sie nebeneinander nicht zwischen dem zum Maiskolbenröster umgebauten Einkaufs­wagen und der auf dem Pflaster sitzenden bet­telnden Frau hindurch passen. Isabelle hält das Tamburin unter ihrer dünnen Jacke versteckt. Antonin trägt das Akkordeon stolz vor der Brust. Er hat auch schon im Gehen gespielt, es erst kurz vor dem Eingang zur Metro zusammen­geschoben. „Ist es nicht schwer?“, hat ihn vorgestern eine junge Inderin auf Englisch gefragt, während Isabelle sich durch den Waggon zwängte, mit diesem Gesicht, das sie zuhause vor dem Spiegelschrank übt, charmant, unaufdringlich, ohne jede Unterwürfigkeit. Sie hat ihn gebeten, es mit dem Handy zu filmen, dieses Gesicht. Sie hat ihn gefragt, was er davon hält. Er selbst übt nur das Akkordeonspiel, sein Lächeln ist meistens ein musikalisches. Vorgestern, als die Frau ihn während des Spielens auf das Gewicht des Instruments ange­sprochen hat, hat er weiter gespielt und sie freundl­ich angelächelt. Er hat das Lächeln ausgeweitet und zu Isabelle hinüber­wachsen lassen, weil er gespürt hat, dass sie sich umgewandt hat, zu ihm und der Inderin. Er kann das. Mit dem Rücken zur Tür stehen, sagen, dass es nicht schwer sei, mit eher französischem als russischem Akzent, weiter spielen und bis in die hinterste Ecke des Waggons lächeln, wo sie mit dem kleinen Beutel durchgeht, mit dem Gesicht. Das Tamburin ist schwer wie ein Mühlstein. Sie hasst dieses Rasseln.

 

Du musst ja nicht, hat er gesagt. Hat er schon öfter gesagt. Dass er auch gut mal alleine gehen könne. Nein, hat sie gesagt, nein. Wer soll denn das Geld einsammeln, wer soll denn schauen, ob der Sicherheitsdienst einsteigt. Er weiß doch, dass es nicht geht ohne sie. Sie sollten nicht auf die Vier gehen, denkt sie, während sie an den angelaufenen Spiegeln der seit Wochen mit Scherengitter verschlossenen Boutique vorbeikommen. Spiegel zwischen den Schaufenstern, damit man sich mit den Puppen ver­gleichen kann, mit den auf altmodische Art gut gekleideten Puppen. Isabelle sieht die Puppe im weinroten Strickkleid, die Puppe im senfgelben Fischgrat-Deux-Piece. Einen Moment lang sieht sie eine Frau im kurzen hellgrünen T-Shirt-Kleid, darüber die dunkelgrüne Strickjacke, die Haare hat sie mit einem Kamm hochgesteckt. Man sieht es ihr nicht an. Wenn sie das Tamburin versteckt hält, wenn sie ein paar Schritte hinter ihm geht, dann sieht man es ihr nicht an.

 

Als sie Antonin kennen lernte, spielte er Klavier in einer Bar. Sie ging oft direkt nach dem Seminar dorthin. Happy Hour stand auf der Tafel über der Theke. Sie leistete sich einen Mojito zum halben Preis, saß an der Bar, mit dem Rücken zu ihm. Manchmal drehte sie sich um. Er spürte es schon damals und hob dann den Blick von den Noten. Warum er die Noten fixiere, hat sie ihn später gefragt, er könne doch alles auswendig. Wegen der Frauen, hat er geantwortet und gelacht. Wegen der Frauen, die mich beim Klavier­spielen anstarren. Er habe es nicht gern, so ausgestellt zu sein. Und wieso er dann nicht auf die Tasten schaue, seinen Blick noch tiefer senke. Dann hätte er sie womöglich verpasst. Dass die Möglich­keit bestehe, durch eine winzige Bewegung der Pupille, den Hintergrund zu sehen, sei wichtig. Isabelle war ihm dankbar für seine Antwort. Dabei hat sie schon damals gewusst, dass er nicht spielen kann, wenn er auf die Tasten schaut. Es irritiert ihn so, als würde er beim Tanzen die Füße beobachten. Jetzt, auf der Treppe des Metro-Eingangs, sagt er, dass sie immer noch zurückgehen könne. Er könne erst spielen und dann selbst mit dem Beutel herumgehen. Das habe er auch schon gemacht. „Mit der Gitarre“, sagt sie, „aber doch nicht mit der Kommode.“ Antonin zuckt zusammen. Seit er den Job in der Bar verloren hat, ist ihr das Wort sicher schon fünfmal rausgerutscht. Quetschkommode. So hat sie es von ihrer Mutter gelernt. Etwas, das Clowns spielen oder betrunkene Dorfmusiker. „Nenn bitte das Klavier nicht Kommode“, sagt Antonin jetzt und sie schaut zur graugelben Decke der Metro­station. Nenn das Akkordeon nicht Klavier, will sie sagen, dabei hat sie ihn russische Tangos spielen hören. Er hat Tangos gespielt in der kleinen Wohnung im 5. Stock, die Lichter waren gelöscht, die Fenster geöffnet, sie hat dazu getanzt oder geweint, und die Nachbarn haben ge­klatscht. Jetzt verlässt sie manchmal die Wohnung, wenn er übt. Sie sagt, dass sie davon traurig werde, von dieser Musik, von seiner Melan­cholie. Aber der Osten, sagt er dann, du wolltest doch immer.

 

Sie kommen problemlos durch die Sperre, die Metro fährt ein, als sie auf dem Bahnsteig ankommen. Isabelle denkt, dass das ein gutes Zeichen ist, dass vielleicht alles glatt gehen wird, mit dieser Vier. Aber im Wagen setzt Antonin sich auf einen der ausklappbaren Sitze, klappt ihr den anderen herunter und erklärt, dass er gerne ein paar Stationen fahren würde, aussteigen und erst nach dem Gare du Nord beginnen. Sie könnte jetzt sagen, dass das eine gute Vier ist. Dass sie in dieser Vier bleiben sollten. Aber sie ist sich nicht sicher genug.

 

Tatsächlich sind die beiden Bahnhöfe besonders unruhige Stationen, Reisende stellen den Gang mit Koffern zu. Isabelle denkt, dass sie früher nie so weit im Norden war. Wenn sie überhaupt je mit dem Zug gereist ist, dann von einem der südlichen Bahnhöfe aus. Sie fragt Antonin, an welchem Bahnhof er ange­kommen ist, damals. „Am Gare du Nord“, sagt er, „ich kam doch direkt aus Berlin.“ An der Station Chateau d'Eau steigen sie aus. Stellen sich an die gekachelte Wand, treten zurück, bis sie beinahe allein auf dem Bahnsteig stehen. Während sie auf die nächste Metro warten, während sich der Bahnsteig wieder mit Menschen füllt, die entweder Touristen sind oder es eilig haben, während sie da stehen, nebeneinander, und sie sich fragt, ob sie das mal gelernt hat, wie viele verschiedene Kachelformen es in den Metro-Stationen gibt, wie viele Anordnungen, berühren sich ihre Handrücken. Und sie fragt ihn: „Wieso macht es dir jetzt nichts mehr aus?“ – „Was?“ – „Dass die Frauen dich an­starren?“ Einen Moment lang begegnen sich ihre Blicke, sie sieht, dass er nachdenkt. „Es macht mir etwas aus“, sagt er dann, „all die Leute, die gar nichts hören wollen. Es ist eine Überwindung, aber es hilft mir, dass du dabei bist.“ Was sie nicht glaubt. Heute glaubt sie, dass sie ihm zur Last fällt. Sie schiebt ihm Motive unter. Sie liest auf einem Plakat: „Qui aime bien, trahit bien“.

 

Dabei wäre er derjenige, der Grund hätte, Fragen zu stellen. Letzte Woche erst hat ein Mann sie am Arm gefasst, ihr seine Telefonnummer zugesteckt. Ein Mann im Anzug, mit einer kleinen Brille und hohem Haaransatz. Projektleiter Expansion. Er hat ihr seine Visitenkarte in den Beutel geworfen. Darauf geschrie­ben, dass er sie auf Händen tragen würde. Das Tamburin klingelt, als sie sich zu Antonin dreht. Es kann niemals ruhig halten. „Ich fahre heut ohne dich“, sagt er, als schon die Laut­sprecher­stimme die Ankunft der nächsten beiden Metros ankündigt, „schone dein Handgelenk, du und ich auf der Vier, das bringt kein Glück.“ Sie steckt ihm den Beutel in die Jacken­tasche und dreht sich auf dem zu hohen Absatz um, während die Metro einfährt. Er schaut ihr nicht nach. Das weiß sie. Dass er sich jetzt auf die Wagen konzentriert, die beste Tür zum Einsteigen sucht. Er sieht nicht, dass sie zwei Türen weiter in denselben Wagen steigt. Er wird sie frühes­tens sehen, wenn er versucht mit dem Beutel herum­zugehen, vielleicht wird sie dann sagen: Siehst du, es geht nicht. Vielleicht wird sie vorher aus­steigen.

 

Ihr gegenüber steht eine Frau in ihrem Alter, eine Afrikanerin, denkt Isabelle, eine Pariserin wie sie. Vor ihren Beinen ein kleines Mädchen mit Perlen im Haar. Isabelle wollte nie ein Kind. Sie wollte immer bloß leben. Antonin hätte gern Kinder, aber das Geld reicht kaum für sie beide. Von ihrer Mutter würde sie Geld bekommen, für ein Enkelkind sicher, aber das hat sie ihm nie gesagt. Die Frau gegenüber wendet den Kopf, als Antonin zu spielen beginnt. Sie hebt ihre Tochter hoch, damit sie sehen kann, woher die Musik kommt. Dann kramt sie zwanzig Cents aus ihrer Tasche und legt sie der Tochter auf die kleine Hand­fläche, damit sie das Geld Antonin geben kann. Was bedeutet es denn, Geld zu verdienen. Es verdient zu haben. Isabelle hat auch Geld aus der Hand ihrer Mutter genommen, sie ist auch mit ihren kurzen Beinen zu dem Musiker gelaufen, dem armen blinden Mann, der armen Frau auf dem Boden. Sie hat den Dank bekommen, ein Lächeln, ein Nicken. Ihre Mutter zwanzig Meter weiter. Im Hinter­grund. Das Geld kam immer aus dem Hintergrund. Isabelle schaut über die Schulter der Frau und sieht Antonin lächeln. Er spielt das Lied, das sie sich an einem der ersten Abende in der Bar gewünscht hat, außer ihr saß nur ein alter Herr in der Bar, der sich kaum auf dem Hocker halten konnte. Those were the days. Antonin hat gespielt und plötzlich begonnen leise auf Russisch dazu zu singen. Er hat ihr später gesagt, dass es ein russisches Lied sei, dass er es schon immer kenne. Dorogoi dlinnoyu. Sie könnte jetzt auch mitsingen, sie kann den russischen Text. Dass er jetzt ausgerechnet dieses Lied spielt, er kennt so viele. Isabelle überlegt ihm zuzurufen, hinüber zu gehen, das Tamburin schlagend. Aber da halten sie bei „Les Halles“. Und Isabelle wird von der Frau auf dem Bahn­steig abgelenkt, die auffallend gut gekleidet ist, für eine Pariserin in der U-Bahn. Tatsächlich hält nun ihr Wagen genau vor dieser Frau, die Isabelle seit vier Jahren und sieben Monaten nicht gesehen hat, vor der Frau im Deux-Piece, vielleicht tatsächlich von Chanel, die ihre Haare mit einem Kamm hoch­gesteckt hat, in der Hand trägt sie Tüten, zwei aus stabilem Karton, für in Seidenpapier eingewickelte Kleidungs­tücke, und eine ausgebeulte aus Plastik von der Buchhandlung, in die Isabelle auch manchmal geht. Wie früher: Ihre Mutter kauft noch immer genauso viel Kleider wie Bücher, sie fährt noch immer mit der Metro. Und sie steigt dort ein, wo Antonin steht und die letzte Strophe des Lieds spielt.

 

Kaum ist sie im Wagen, beginnt Isabelles Mutter in ihrer Tasche zu kramen, vielleicht tatsächlich von Lanvin. Es ist ein Reflex. Ihre Mutter sucht nach einem Geldstück, nach ihrem Portemonnaie, wie ihre Mutter schon vor zwanzig Jahren nervös nach ihrem Portemonnaie gesucht hat. So wie Isabelle es selbst tut, an schlechten Tagen. Ihre Mutter hat sich so wenig verändert, dass Isabelle einen Moment lang dachte, sie wäre es doch nicht. Die Haare noch immer honigblond, das Gesicht dezent geschminkt. Ihre bald sechzig Jahre kann man ihr nicht ansehen, ihre Traurigkeit schon. Eine Tochter verloren. Nicht ihr einziges Kind, aber vielleicht jetzt das Kind, an das sie am häufigsten denkt. Müsste sie es denn nicht spüren, denkt Isabelle. Müsste eine Mutter denn nicht. Ihre Mutter steht genau neben Antonin und sie hat mit dem Kramen aufgehört. Sie schaut hoch und scheint den Refrain mitzusingen, wenigstens öffnet sie die Lippen leicht. Und dabei lächelt sie Antonin an, mit ihrem echten herzlichen melancholischen Lächeln. Ihre Mutter und Antonin lächeln sich an, und als er aufhört zu spielen, als er das Akkordeon zusammen schiebt und den Beutel hervorholt, sich in dem Eingangsbereich bewegt, da bleibt sie neben ihm, wirft kein Geld hinein, sondern spricht ihn an. Niemand wirft Geld in den Beutel und Antonin schafft es auch nicht weiter durch den Wagen, mit dem Akkordeon vor der Brust. Nicht hierher zu Isabelle und dem Mädchen, das die Münze in seine Handfläche presst, die andere Hand fest im Griff der Mutter, damit es nicht loslaufen kann. Vielleicht würde es einen Weg zwischen den Beinen der Menschen hindurch finden. Isabelle überlegt, das Tamburin zu schlagen, einmal, und es dann zu drehen, selbst zu sammeln, wieso steigt ihre Mutter nicht aus? Wieso steigt sie nicht bei Odéon aus? Sie spricht noch immer mit Antonin. Isabelle senkt den Blick. Sie glaubt nicht, dass das kleine Mädchen ihr die Münze gäbe. Ungeduldig stampft es mit dem Fuß auf. Die Mutter sagt, dass es warten müsse. Der Mann werde schon kommen. Aber der Mann kommt nicht. Als Isabelle nachsehen will, ob ihre Mutter bei St. Germain aussteigt, sieht sie, wie Antonin gemeinsam mit ihr den Wagen verlässt, auf den Bahnsteig tritt.

 

Isabelle fährt noch drei Stationen weiter, sie wandert durch die Straßen, die sie seit Jahren gemieden hat, geht bis zum Friedhof hinauf. Den hat sie immer aufgesucht, als sie noch in die nahe gelegene Schule ging, immer wenn sie von den anderen entfernt sein wollte, sich als etwas Besonde­res fühlen. Abseits von den breiten Wegen hat sie die Grabsteine angeschaut, die der Normalsterblichen, diejenigen mit frischen Blumen, aber auch die der Berühmt­heiten, die sich eine Nummer auf dem Fried­hofs­plan verdient haben. Sie hat vor dem Kuss von Brancusi gestanden. Und Bildhauerin werden wollen. Sie hat hier auf dem Friedhof gezeich­net, ihr Butterbrot gegessen, sie hat die Menschen beobachtet. Auch jetzt noch kann sie sofort die wenigen herausfiltern, die hier jemanden liegen haben. Auch jetzt noch findet sie sich ohne einen Plan zurecht, besucht die bunte Katze von Niki de Saint Phalle und das Kenotaph von Baudelaire.

 

Als sie am Abend die Treppe zur gemein­samen Mansarde hochsteigt, hört sie schon die Musik. Antonin spielt Mussorgs­kij. Die Tuilerien. Er hat einmal die ganzen „Bilder einer Ausstellung“ auf dem Klavier gespielt, in der Bar, nachdem der Kellner Anto­nin den Schlüssel gegeben und sie beide allein gelassen hatte. Als sie die Tür öffnet, fällt das Licht aus dem Gang auf sein erwar­tungs­volles Gesicht. Er sitzt auf der Bett­kante, im Dunkeln, selbst Mussorgskij kann er auswendig. Aber jetzt hört er auf, stellt das Akkordeon auf das Bett neben sich und beginnt zu erzählen. Er fragt nicht, wo sie war, wieso sie so spät kommt.

 

Er erzählt von der Frau in der U-Bahn, die ihm ihre Karte gegeben hat, eine Dame. Sie kenne jemanden, der Konzerte in kleinem Rahmen veran­stalte, sie habe gefunden, er spiele doch viel zu gut für die Metro. Antonin ist auf­geregt, er strahlt, er sagt, die Dame habe eine Ahnung gehabt, eine regelmäßige Konzert­gängerin. Sie habe ihm erzählt, dass sie vor kurzem ein Scar­latti-Konzert mit Akkor­deon gehört habe, seitdem wisse sie erst, was in dem Instru­ment stecke. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich anrufen werde, viel­leicht eher nicht“, sagt er, „aber die Vier, das ist doch eine gute Linie.“ Er sagt das so, als habe er vergessen, dass sie ohne Verab­schie­dung auseinan­der gegangen sind. Er sagt es so, als könne er wissen, dass sie mitgefahren ist, dass sie zusammen in der Glück bringenden Vier waren. „Und Du, was hast Du gemacht?“, fragt er jetzt. „Ich hab das Tamburin an das Grab von Gainsbourg gelehnt“, sagt sie, und denkt daran, wie die Touristen sie angesehen haben, als sei sie eine Wissende, als habe sie ihnen etwas voraus.

 

 

 

Ulrike Ulrich    2014    

 

 
Ulrike Ulrich
Prosa
Lyrik
Porträt