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Hanno Millesi

Der Nachzügler

Am Hungertuch Houellebecq nach

Hanno Millesi: Der Nachzügler
Hanno Millesi
Der Nachzügler
Prosa
Luftschacht 2008
„Mehr als ein Drittel der Kulturschaffenden in Österreich hat ein Einkommen, das unter der offiziellen Armutsgrenze liegt. Genau heißt das, 37 Prozent der österreichischen Künstler verdienen weniger als 893 Euro im Monat.“ Das sind die Ergebnisse einer öffentlichen Instanz – in diesem Fall die Studie Zur sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur – über ein Problemfeld, das man sich immer wieder ins Bewusstsein rufen sollte und in dem der 1966 geborene Wiener Hanno Millesi das Setting für seinen Roman ansetzt. Doch der Protagonist in Der Nachzügler hat noch ein größeres Problem: Er ist experimenteller Schriftsteller.

Diese Dispositionen machen ein Berufsleben, in dem man ausschließlich künstlerisch tätig ist, unmöglich. Da man den Staat mit seinen Stipendiengeldern nicht als wirklichen Leser, der genügend Geld einbrächte, bezeichnen kann, muss sich der Protagonist in Der Nachzügler seinen Lebensunterhalt anderweitig sichern: Er beschattet andere Leute. Leider besitzt er für diese Neben­beschäftigung weder eine tiefere Passion noch Profession. Tollpatschig trottet er mit Hitzewallungen seinem Objekt hinterher, verunsichert sich selber im stetigen Fragen nach unauffälligem Verhalten und entwickelt letztendlich einen eigenen Verfolgungswahn. Noch dazu steckt er in dem Dilemma, dass er als experimenteller Schriftsteller seine Beobachtungen nicht einmal literarisch verwerten kann. Aber „wenn schon nicht als avantgardistischer Künstler, möchte ich als professioneller Verfolger erkannt werden“.

Dieser leicht stupid-witzhafte Charakter beschattet aber nicht irgend­jemanden, sondern das Objekt, Herr X, ist kein geringerer denn der Protagonist aus Michel Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone. Bekommt man bei Houellebecq ausschließlich die eigene Wahrnehmung der Figur geboten, so wird diese armselige Kreatur mit ihrem verfehlten Lebensziel bei Millesi um die Außensicht erweitert. Der Österreicher vervollständigt die Charakteristik als gemeinen und zutiefst einsamen Menschen, was bei Houellebecq in der erzählerischen Fluktuation ausbleibt. Damit gibt Millesi einen gelungenen Konter auf Houellebecqs Standpunkt: „Die Romanfigur ist nicht geschaffen, um die Indifferenz oder das Nichts zu beschreiben; man müsste eine plattere Ausdrucksweise erfinden, eine knappere, ödere Form“. Millesi geht über den Roman hinaus, zeigt Möglichkeiten auf und spielt mit den Leerstellen. Der distanzierende Humor zu den Figuren wertet sie als urkomische Typen. So offenbart Millesi Houllebecqs Protagonisten und seinen Arbeitskollegen Tisserand, den „abscheulichen Zwerg“, als asexuelle Loser, die ihre armseligen Kneipenabende abhalten, bei denen sie alle Altersgrenzen sprengen.

Die Beschattung wird nicht nur erschwert durch das menschlich-chaotische Verhalten und den Zwang, mit aller Macht nicht aufzufallen, sondern auch durch das Objekt selber. Es „befindet sich auf der Flucht vor seiner eigenen Geschichte, was die Sache ungeheuer kompliziert macht, da es nicht gerade einfach genannt werden kann, sich selbst zu entwischen.“ So werden von Millesis Protagonist auch schon mal Handlungen des Beschatteten erfunden und er glaubt fest an seine Einbildung. Da kann es sogar sein, dass das Objekt fälschlich für Tod gehalten wird.

Die allzu verständliche Abscheu des Protagonisten für sein Objekt wandelt sich aber in aufkeimende Empathie. „Es gelingt mir kaum noch zu unterscheiden, was für meinen Bericht von Interesse ist und was zu meiner ganz persönlichen, laienhaften und völlig überflüssigen Interpretation von Herrn Xs Psychogramm gehört.“ Diese dürfte wohl daher rühren, dass beide ungewöhnliche Texte anfertigen. Das wissen sie aber nicht voneinander, sondern nur der Leser beider Romane. Es entsteht eine neue Ebene über beide Texte. Bei der Parallellektüre bekommt Ausweitung der Kampfzone einen ganz neuen, nicht ganz unhumoristischen Wert. Houellebecq dürfte Millesi mal ordentlich vor die Füße fallen.

Die Glanzleistung von Millesi liegt nicht nur im Gelingen der schier unmöglichen Nachzeichnung dieses ziellosen Wesens, sondern Millesi schreibt zugleich einen äußerst wahren Roman. Die Kapitelüberschriften leiten frei nach Bourdieu quer durch das literarische Feld als einer der „unsicheren Orte des sozialen Raumes“. Der Protagonist lässt sich nicht auf die ökonomische Logik ein und besteht auf seiner Autonomie. Sein Pech ist allerdings, dass er auch in der internen Hierarchie unter Schriftstellern nicht gerade hochgeschätzt wird. Das sind die richtigen Grundvoraussetzungen, die wahren Umstände der experimentellen Schriftsteller anzusprechen: „In den Augen des Staates erscheint der Avantgardeschriftsteller bestenfalls als symbolisches Kapital, das heißt, der Staat fördert ihn, um sich, ist der Schriftsteller auf der ganzen Welt bekannt, zu rühmen“. Trotzdem wird durch die Subventionspraxis des Staates aber auch abgesteckt, was als experi­mentell zugelassen wird und was nicht. Also ist man wieder auf sich alleine gestellt. Aber: „Ein großes Verlagshaus würde einem experimentellen Schriftsteller ... nicht einmal ins Gesicht lachen.“ Millesis zynischer Einfall, bei dem die Avantgardisten als Guerillagruppe auftreten, die in konspirativen Angriffen „Preisverleihungen, Langweilerinnen- und Mistkerllesungen“ stür­men, erscheint da gar nicht so abwegig, um die Öffentlichkeit der wichtigen Arbeit dieser Schriftsteller zu retten, denn „wo wären wir, sagen viele Vertreter des Mainstreams, wo wären wir heute, hätten sich damals nicht einige mutige Menschen bereit gefunden, ungeachtet der zahlreichen Anfeindungen, die ihnen das eingebracht hat, neue Wege zu beschreiten.“

Der Nachzügler ist einer der wichtigsten und klügsten Romane dieses Jahres. Er legt die Mechanismen des literarischen Feldes offen, stillt anhand eines exemplarischen Autorenlebens den Voyeurismus zur Schriftstellerei, erhebt einen Bestseller zu einem Kunstwerk und bietet mit seiner Gewitztheit größte Unterhaltung.
Hanno Millesi studierte Kunstgeschichte an den Universitäten in Wien und Graz und an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. 2006 nahm er am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Millesi erhielt u.a. 2000 den Jubiläumspreis der Literar-Mechana sowie 2001 und 2003 je ein Österreichisches Staats­stipendium für Literatur.
Walter Fabian Schmid   14.10.2008   
Walter Fabian
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