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Udo Kawasser

kein mund. mündung

Alphas und Omegas letzte Gewissheit

Udo Kawasser | kein mund. mündung
Udo Kawasser
kein mund. mündung
Gedichte
parasitenpresse 2008

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I
Wir beginnen mit der Schwelle vom Mittel­alter zur Neuzeit. Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux. Der Brief Petrarcas an Francesco Dionigi von Borgo San Selproco darüber ist der Ausdruck einer neuen Natur- und Land­schafts­erfahrung. Ästhetik und Kontem­plation in gegen­seitiger Befruchtung; den Olymp in greifbarer Nähe. Falsche Richtung. Wir beginnen mit dem Fall. Und der geht so: Im Zwillings­flug gleiten das lyrische Ich und Petrarca wie zwei Ahorn­samen vom Gipfel. In Paar­versen und in schrauben­förmiger Rota­tions­bewegung im Ver­sinnern. Bis zum Auf­schlag. Es landen nur Hände und Augen. Grotesk. Also noch einmal ganz von vorn. Wir beginnen bei der Antike. Natürlich mit der Römischen. Dahin wendet sich Petrarcas Seele. Augen sind Blind­gänger.

II
Und das Herz macht vogelfrei. Das ist Ars amatoria. Kawasser landet bei der Verbannung Ovids am Schwarzen Meer. Ovid zürnt, ihm sei verweigert worden sich wie in 15 seiner Metamorphosen in einen Baum zu verwandeln. Vielleicht wäre es ja gut ausgegangen wie Piktors Verwandlung. Langsam kommt es selbst dem lyrischen Ich wie ein Märchen vor. Dennoch. Keine metaphysische Flucht; keine Flucht ins Innere. Die pathos­freie Realität im Bunde mit der Komik kleidet Kawasser besser. „Das Wesentliche ist für Herz und Auge unsichtbar, denn Herz und Auge können nichts be­rü­hren“ (Johannes Weinberger). Die Dichter­größen nehmen das lyrische Ich stets an die Hand.

III
Jetzt die rechte Hand des Vergil. Noch vor der Verfertigung der Aeneis. Zu Besuch beim Mäzen Augustus. Vergil hat erst die Entwürfe. Die ein­gestreu­ten Zitate stammen unchronologisch aus verschiedenen Büchern der Aeneis. Logisch. Vergil übertrug die Prosafassungen auch in willkürlicher Reihenfolge in Hexameter. Die von Kawasser ein­gestreu­ten Zitate decken nie einen ganzen Vers ab. Auch logisch. Vergil hat die Aeneis nicht fertig­gestellt, und es blieben zahl­reiche Halbverse stehen. Und der Hexameter? Kawasser will doch nicht wie Ovid nur wegen dem Versmaß seinen Namen ändern. Weil Ovidius nicht in ein Distichon passt, nannte der sich bekannt­lich Naso.

IV
Jetzt hört der Spaß aber auf. Spätestens im Titel­zyklus kein mund. mündung. Kein Mund heißt Schweigen; kein Mund heißt kein Atem; kein Mund heißt Innendruck. Mündung heißt Aufgehen in etwas Größerem; Mündung heißt Übergang in einen Endzustand; Mündung heißt Mündung einer Pistole. Hypo­thetisch. Konkret heißt Mündung das ausweglose Wandeln unter toten Knochen an einer verschlammten Flussmündung. Wir sind mitten in den Metamorphosen Ovids. Kawasser interessiert sich nicht für mytho­logische Figuren und Personen als Themen- und Motivträger, wie sie zu Hauf in die Literatur Eingang gefunden haben. Kawasser interessiert sich für die Geschichten als Urstoff. Als Einmündung in einen neuen Zeitbezug. Im Subtext laufen Sentenzen aus den Metamorphosen ab. Unchronologische Sentenzen. Im Mythos gibt es keine Chronologie. Diskon­tinuierliche Mytheme. Jedes Mythem schleppt neue Beziehungen mit in den Vers.

V
der erstarrte fluss des geschiebes
            auf dieser landzunge inmitten des deltas
                        schlammgefasst der schutt die schlagschatten
[...]
der astgabeln die scheinbare ruhe und beständigkeit
            in diesen verheerungen während die ache mit eisigem
                        band das flache ufer schleift – nichts das hier spräche
[...]
nur die krähen krächzen sich weiter
            parolen zu erst als sie in scharen aus den kronen
                        aufsteigen verstehst du auch ihren ruf – sammeln

VI
Kein Mund heißt pränataler homo civile; Mündung heißt Eintritt in den Hades. Ache heißt Acheron; von der Deukalischen Flut erwischt. Geht nicht? Geht. „die zeit ist ein offener mund“. Zeit: ein einziger Mund. Das heißt Zeit­über­lagerungen, Deckungs­gleich­heiten, Schichtung. Lustwandeln in den Meta­mor­phosen. Mythos in der dritten Dimension. Mythos schreibt sich stets selber fort; ist offenes Kunstwerk. Die zwei auf­tretenden Gestalten können sowohl Wandelnde vor dem Eintritt in den Hades sein, als auch Deukalion und Pyrrha. „sammeln“ heißt Geld sammeln für Charon zur Überfahrt; „sammeln“ heißt Steine sammeln zur Erschaf­fung neuer Menschen. Ursprung gleich Untergang; Untergang gleich Ursprung. Der Mythos mündet in den Mythos. Das ist Mythos. Das ist Mystik. Das ist eine Flut und die Theodizee. Das ist die Urangst und ihre Meta­morphose. Nicht metaphorisch. Atmosphärisch.

VII
Acheron hat eine unbe­rechenbare Strom­bewegung. Eine irre Versform baut sich Kawasser zusammen. Ein Hebungs­aufprall; ein Senkungs­delta. Stro­phen­förmig steht er Alkaios noch am Nächsten; wandelt im Vers die Abfolge der Trochäen und Daktylen ab, streut den ein oder anderen Jambus ein, und die Töne biegen und beugen sich. Kawasser will wissen, was so ein Vers an Spannung verträgt. Die Druckstärke dieses spröden, gestauten Rhythmus hinter­lässt ein seltsam positiv bedrückendes Gefühl, verstärkt durch die beklommene Enge, festgezurrt mit Binnenriemenreimen und Allite­rations­geschwader. – „silben in den senken / verkarsteter hirnregionen“. Ecco.

Anmerkung des Verfassers: Am 25. Dezember ist der 141. Geburtstag von Alfred Kerr. – „indignere licet, iuvat inconcessa voluptas“

Udo Kawasser, geboren 1965 in Hard/Vorarlberg. Er arbeitet als Tänzer, Choreo­graph und als Übersetzer kubanischer Literatur. Auszeichnungen beim Feldkircher Lyrikpreis 2004 und 2005. Zuletzt erschien der Prosaband Einbruch der Landschaft (Ritter Verlag 2007)
Walter Fabian Schmid   18.12.2008   
Walter Fabian
Schmid
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