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Michael Stavarič

Brenntage

Höllisches Vorhofflimmern

Kritik
  Michael Stavarič
Brenntage. Roman
C. H. Beck 2011
232 S., 18,95 EUR


Man baue Häuser auf, ohne vorher die Keller auszuräumen, behauptete Heiner Müller und meinte damit, dass alle bisherigen Geschichten und geistigen Errungenschaften erhalten und als Ruinen stehen bleiben. Da kann man sich noch so einbilden, man schaffe etwas radikal Neues, etwas noch nie Dagewesenes, und baut sein Gedankengebäude doch nur mit dem Material aus dem Steinbruch eingestürzter Ideologien auf. Was wäre nur, fragt man sich da, wenn man all die verbrauchten Visionen, diese zerfressene Altlast packen und verbrennen könnte? Wenn man mal ordentlich tabula rasa machen dürfte? Dann, ja dann, dann stünde man vor einem leeren Loch: die Zukunft.

Genau das wird in Michael Stavaričs Roman mit den Brenntagen als Fest begangen. Einmal im Jahr, immer im Herbst, trägt man das ganze Gerümpel der Vergangenheit zusammen, schmeißt es auf einen Haufen und verbrennt es samt aller mitgeschleiften Erinnerungen. Nachdem die letzten Realitätsfetzen vernichtet sind, kann munter in die Utopie geschritten werden. Das macht Stavarč auch und entwirft eine durch Magie betriebene Märchenwelt, die er poetisch niederschreibt. Es ist eine zeitenthobene Welt, in der die skurrilsten Bräuche gepflegt werden. Gegen alles gibt es wundersame Salben und Tinkturen, die Leute laufen in Rauhnachtlarven rum oder sind gar flechtenbefallene Zombies, man darf nicht auf Bäume klettern, weil in deren Wipfel die Geister thronen und überhaupt: Birken sind heilig. In diese Welt ist ein kleiner, kauziger und vernarbter Junge geworfen, der als Waise bei seinem Onkel aufwächst, der weise all diesen Aberglauben schürt, und der alles in allem ein ganz witzig sturköpfiger Stoiker mit kruden Überzeugungen ist.

In den Brenntagen leben die Personen eine Kreatürlichkeit in triebtäterischem Umgang mit Tieren, die ständig irgendwie geopfert werden oder deren Kadaver nur mehr modernd rumliegen. Die ganze Welt ist ein morastiges, von Geistern durchzogenes Ödland, das weltvergessen brachliegt und eigentlich längst vernichtet wurde. Einst zogen Soldaten über das Land und brannten es aus. Und dann wird es auch noch untergraben von einstigen Mineanlagen, die noch immer mystisch rumoren und beständig am Bestehen dieser Welt rütteln. Bei all dem sind die Brenntage aber alles andere als eine plakativ auftrumpfende Urarchaik.

Für den kleinen Protagonisten sind die Erlebnisse in der Wildnis ein wildes Erleben. Er ist ein Streuner auf Streifzügen, der allerlei Legenden ums Dorf einsammelt und der sich aus seiner inneren Leere heraus seine eigene Fantasiewelt ausmalt. Er weiß nicht mal, ob er überhaupt noch lebt oder längst tot ist, er fühlt nur die Ausweglosigkeit aus dieser geschlossenen Welt, in der man ohne Zukunft verdammt bleibt umherzuwandeln. Die, die doch den Ausweg wagen und über die magische Schlucht springen, kehren nie wieder zurück. Weil die Hauptpersonen, diese ohnmächtigen Existenzen, aber nicht von diesem Glück gesegnet sind und nicht aus ihrer Welt entkommen können, tritt die Erzählung auf der Stelle. Zwar ist das logisch und geht auch nicht anders, manchmal aber ist die leergelaufene Zeit endlosschleifend ermüdend.

Doch das ist falsch. Was es nämlich mit der durchlässigen Welt wirklich auf sich hat, wird erst in den letzten Kapiteln so richtig deutlich. Nur so viel: Es hat mit Dantes Göttlicher Komödie zu tun. Und wie Stavarič seine Vorlagen frei verändert, verwirft und weiter auswuchern lässt, wie diese märchenhafte Welt prismatisch zu glitzern beginnt, wenn einzelne Sagen hervorschimmern, und wie sich diese Welt dadurch stets in Metamorphosen befindet, das man schlichtweg Spaß.

Stavaričs Romane sind ein großer Möglichkeitsraum, in dem die Personen ihre Sinnstiftung und ihre existentiellen Möglichkeiten erproben und ausspielen und erst noch finden müssen. Sein poetisches Konzept heißt: sich von der zerstörten Realität abwenden und die Flucht in die Fantasie als Gegenwelt wagen. Dabei sagt der Roman alles über sich selbst: „ich wollte unbedingt diesen Geschichten lauschen. Sie erzählen von der Möglichkeit, die Welt zu gestalten, sie für sich zu erschließen und das Leben als endlose Spielwiese zu betrachten. Erst viel später musste ich erfahren, dass man nicht allen Geschichten Glauben schenken darf und dass sie manchmal nur deshalb erzählt werden, um uns in die Irre zu führen.“ Dieses Spiel als Leser mitzuspielen macht nicht nur Freude, sondern ist schlichtweg Kunst: Das Erschaffen und das Arrangieren des Unmöglichen.

 

Walter Fabian Schmid    25.02.2011   

 

 
Walter Fabian Schmid
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