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Es geht voran

Günter Kunert  –  Abtötungsverfahren

Fehlfarben - Es geht voran  

Zum ersten Mal las ich als Schüler über Günter Kunert. Zufällig war mir der Band Lauter Verrisse von Marcel Reich-Ranicki in die Hände gefallen und dort wurde Kunerts Roman Im Namen der Hüte besprochen. Der Kritiker erklärte: Der DDR-Dichter werde im Osten geachtet und beargwöhnt, im Westen geschätzt und wenig gelesen. Wie so viele Lyriker verfüge Kunert über keine Doppelbegabung: Seine Prosa sei aufgequollen und gehe rasch auf die Nerven.

Ich begegnete Kunert wieder im Berlin der Hausbesetzer, um 1980. Zwar skandierte man hier lieber zu den Rhythmen der Gruppe Fehlfarben: Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran. Aber irgendjemand hatte Zeilen von Kunert an die kahlen Zimmerwände eines abrissreifen Hauses gesprüht: Was du nicht erschaffst, du / bist es nicht.

Offenbar ein Missverständnis, denn für Losungen eignete Kunert sich nicht. Jedenfalls nicht im Sinne revolutionären Aufbruchs, wenngleich seine Zeilen mitunter in ihrer Diktion die gleiche Suggestivkraft gewinnen. Über politische Visionen wusste Kunert nichts Gutes zu berichten und verortete die Utopie dort, wo keiner lebend hingelangt / wo nur Sehnsucht / überwintert. Er war nicht mehr unterwegs nach Utopia, sondern von Ost nach West und hatte sich vom sozialistischen Aufbruchsgläubigen schreibend zum radikalen Skeptiker gewandelt. Sprachliche und ideologische Bereinigungen gingen einher. So trafen zu diesem Zeitpunkt – um 1980 – zwei Gefühlslagen aufeinander: Die aufbegehrende Westjugend in Kampfeslaune, pflastersteinbewaffnet und beflügelt von der Hoffnung, Geschichte zu machen. Und der Individualist Kunert, der, gründlich desillusioniert, aus dem DDR-Sozialismus ausgestiegen war.

Seine Gedichtbände jener Jahre hießen Warnung vor Spiegeln, Unterwegs nach Utopia und Abtötungsverfahren. Kunert trat nicht als Intellektueller auf, sondern mit Lederjacke, Schnäuzer und dem damals schon kahlen Kopf – das gab ihm etwas robbenhaft Sympathisches. Als Lyriker blieb er gegenwärtig, auch wenn in den neunziger Jahren jüngere Dichter ins Blickfeld rückten. Zwischen ihnen kam er mir etwas fremd vor. Denn er gehörte eigentlich nicht mehr dazu, war längst einer der Großen, um die sich Medien und Akademien kümmerten.

Dann, im Juni 2005, las ich die Meldung, dass der Schriftsteller Günter Kunert (1929) nach einem Autounfall schwer verletzt im Krankenhaus liege. Einige Tage später die Entwarnung: Lebensgefahr bestehe nicht.

Abtötungsverfahren

Ein Blick in die Zeitung
und einer ins Leben
Ein Gespräch mit den Stummen
und eine Rede von Tauben
Ein Entfalten der Flügel
und die Aussicht in Mündungen
Ein Versuch die Hand auszustrecken
und das Berühren von Eisen
Eine Tüte voll Angst
für das Dasein als Körper
gründlich einverleibt
der Leichengemeinschaft

Erst ein Ausflug ins Jenseits
dann eine Rückkehr ins Nichts.

Das Gedicht lebt von reziproken Zeilenpaaren und mündet in der poetischen Dekonstruktion von Hoffnung. Die Bilanz heißt Vergeblichkeit. Es ist ein Aufzeigen dessen, was verwehrt wird, ein nüchternes Procedere des Entzauberns. Dass man in germanistischen Seminaren Kunerts Abtötungsverfahren als Beispiel literarischer Apokalypse am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sah, erscheint verständlich.

Eine Rückkehr ins Nichts lässt gesellschaftsutopischen Trost oder gar Heilsaussicht nicht zu. Kunert substantivische Verdichtungen heben positive Gehalte durch ein paradoxes Komplement auf und demontieren auf kleinstem Raum immer wieder Erwartung. Hier wird nicht nur Zeile für Zeile abgetötet, sondern Wort für Wort, wobei Kunert die Begriffe selbst unangetastet lässt. Letztlich bedarf er dieser intakten Wortwelt, um daran den permanenten Hoffnungsabbau vollziehen zu können. Also ein konservativer Dichter, einer, der unter dem Verlust von Utopie leidet, während andernorts die hoffnungslos glückliche Mediengesellschaft tobt.

Glaubten die Fehlfarben tatsächlich, dass Geschichte gemacht werde? Die erste Strophe ihres Lieds wurde zur Hausbesetzerhymne stilisiert, doch ist ihr Text nichts als Ironie. Genauso wenig wie Kunert gab die Düsseldorfer Undergroundband sich Illusionen hin. Im Refrain wird das Es-geht-Voran als Bluff entlarvt.

Keine Atempause
Geschichte wird gemacht
es geht voran

Spacelabs falln auf Inseln
Vergessen macht sich breit
es geht voran

Berge explodieren
Schuld ist der Präsident
es geht voran

Graue B-Film Helden
regieren bald die Welt
es geht voran

Und nicht zu vergessen: Auch der Ochse, der um den altertümlichen Brunnen stapft, geht voran, wie Kunert lakonisch in Unterwegs nach Utopia mitteilt.

Andreas Heidtmann       

Günter Kunert
Warnung vor Spiegeln / Unterwegs nach Utopia / Abtötungsverfahren
München: dtv 1982 (Sammelband)

Warnung vor Spiegeln. München: Hanser 1970
Unterwegs nach Utopia. München: Hanser 1977
(Veränderte Neuausgabe. Berlin/Weimar 1980)
Abtötungsverfahren. München: Hanser 1980

Im Namen der Hüte. Roman
München: Hanser 1967
Günter Kunert (Radio Bremen)

Fehlfarben
Monarchie und Alltag
Köln 1980 / Audio CD Edition 2000
Fehlfarben-Website

Marcel Reich-Ranicki
Lauter Verrisse
Darin: Oskar Schlemihl aus Helsingör
(Über Günter Kunerts Roman Im Namen der Hüte)
Zuerst abgedruckt in: Die Zeit vom 1. 12. 1967
München: Piper 1970.
München: dtv 1992 (Neuauflage)

 

Andreas Heidtmann
Gespräch
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Musik