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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wider­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 28

Leipzig leuchtet, lästert und lacht

Heute überlebt Leipzig im strahlenden Licht der Medien. Eine Tagung jagt die andere. Bald ist's die SPD, bald die Völkerschlacht, die Linkspartei oder der Hauptbahnhof, die Buchmesse und wieder die SPD auf der Suche nach ihrer großen Ver­gangen­heit. Bebel, Liebknecht Vater und Sohn, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, in Leipzig gelebt, gesprochen, zumindest verlegt, gedruckt worden – das war Kultur und Politik und Geschichte.




 

Mit diesen aus dem Original kopierten Passagen beginnt Kopf und Bauch, Erst­druck 1971 im S. Fischer Verlag Frankfurt/Main, auch als TB ver­griffen, letzte Aus­gabe als März Buch 2005 zu meinem 80. Ge­burts­tag. Dank dafür an Jörg Schröder und Barbara Kalender. Die Edition, ursprüng­lich als Unikat für wenige helle Köpfe gedacht, speziell jedem einzelnen Interes­sierten gewidmet, schaffte es nach und nach auf mehr als 100.000 Auf­lage. Neu­lich betitelte ein Welt­blatt seinen Leitartikel mit KOPF ODER BAUCH. Bei mir gibt's kein ODER da­zwischen. Es ging ums ganze Leben. So sah ich es als Auslandssachse im Jahr 1971. Heute gegen Ende 2013 findet sich in der FAZ eine Beilage, die den Frei­staat Sachsen so richtig ins Ker­zen­licht zu rücken vermag.

Die Kopie vom sächsischen Weihnachtsmärchen ist am rechten Rand zu kurz ge­ra­ten. Dem Stollen fehlen ein paar Buchstaben, wurden wohl schon auf­gefuttert. Frohe Kunde kommt aus dem Netz, die königliche Stollen-Stadt Dresden will im Februar 2014 endlich so euro­päisch klug handeln, dass die ge­wohnten Straßen­schlachten wegen der alli­ierten Bombarde­ments im 2. Welt­krieg aus­bleiben. Das bringt uns nach Leipzig zurück, dessen Ehrenbürger Loest aus dem Klinik­fenster sprang, welche Tat­sache ich der Stadt verübeln könnte, was ich unterlasse, weil ein Auslands-Sachse auf Distanz und dennoch intim vor (Tat-)Ort sein kann.
  Vom letzten Kurzbesuch in Leipzig berichtete schon im poetenladen Folge 4. mein Lieblings-Pseudonym Gert Gablenz, den ich gern erneut zitiere: Am 5. Juni 2005 feierten wir im Leipziger Mendels­sohn-Bartholdy-Haus den 120. Bloch-Ge­burts­tag. Antike Feindseligkeiten ballten sich dort zu Theater­donner und fuhren als Blitze zur Hölle, die für Momente aus­geleuchtet wurde wie ein Bühnen­bild von Bertolt Brecht. Die Szene geriet in Bewegung. Napoleon floh im flie­genden Ritt zu Pferde, von Kosaken und Preußen verfolgt, die Sachsen wechselten listig von den Besiegten zu den Siegern. Richard Wagner keuchte die Treppen im Hause Gold­schmidt­straße 12 zur Men­dels­sohn-Woh­nung empor, ein lustiges anti­semiti­sches Liedlein auf den Lippen, dass es fast klang, als wolle er auf einer Bachschen Fuge triumphie­rend in Adolfs Walhalla Einzug halten. In meiner Eigen­schaft als Gert Gablenz sprang ich zur Eingangs­tür, rief Wagner ein don­nerndes sächsisches Guten Tag, Sie ex­revolu­tionäres Arschloch! entgegen, wies mit dem steilen Dau­men nach oben und erläu­terte: Dort hockt Zwerenz in seiner Stu­denten­bude und schickt sich an, einen bolsche­wisti­schen Filosofen ins Leben zurück­zurufen. Der eitle Richard, noch zittrig von den Mühen der Ebene samt an­schlie­ßendem Trep­pen­stei­gen, hielt aufge­schreckt inne. In die Ecke, Besen, Besen! rief ich, von der Logik des Ortes be­feuert und schon erschien Goethe, verkleidet als Leip­ziger Studio­sus in der Tür, die ihm der Thomas­kantor Bach generös aufhielt. Men­delssohn-Barthol­dy lächel­te dem großen Johann Sebastian herzlich zu. Goethe blickte leicht be­leidigt zur Seite. Der Nach­mittag verlief so angenehm irr­witzig, wie ein Sancho Pansa es sich nur wünschen kann.
  Soviel zu Leipzig als Lebensmärchen im Juni 2005 – im Jahr zuvor hatte sich ein tapfrer Verlag daran gewagt, den Titel Sklaven­sprache und Revolte heraus­zubringen, unser Bloch-Buch genannt, von Ingrid und Gerhard im Wechsel­spiel verfasst, nur ein geplanter Band II er­schien nicht mehr. Der so opti­mistisch gestar­tete Verlag schwächelte. Dafür er­öffnete mitten in Leipzig ein Poetenladen, wir pfiffen auf kriselnde Buch-Editionen und stiegen voll ins futuris­tische online-Univer­sum ein. Wie aber sollte der Titel, sollten die Titel lauten? Kurze Auswahl vom Markt der Möglich­keiten:
  • Salut Saxonia und warum Karl May die Pleiße erfand Autobiographische Fragmente
  • Lachen Liebe Leipzig Aus unserem Leben
  • Die Sachsentaufe oder hat Karl May die Pleiße erfunden? Autobiographische Rhapsodie
  • Warum Karl May die Pleiße erfand – Vorlesungen aus meinem letzten Buch
  • Aus den Memoiren eines vigilanten Wanderarbeiters
  • Als ich ein vagabundierender Humorist war …
  • Von Leipzig nach anderswo und retour
  • Leipzig lästert, leuchtet und lacht
  • Ein Sachse im Jenseits und warum Karl May die Pleiße erfand – Aufzeichnungen eines vagabundierenden Humoristen der Leipziger Schule
  • Trotz und Hoffnung Das Prinzip Bloch Gegen Heulen und Zähneklappern
  • Der SAX und warum Karl May die Pleiße erfand – Autobiographische Fragmente
  • Mein Zwei-Titel-Buch Ernst Bloch – Philosoph der Revolte und Ernst Bloch – Philosoph der Zweiten Reformation – Aufzeichnungen für das 3. Jahrtausend
  • Verdammte Sachsen oder warum Karl May die Pleiße erfand Erinnerungen Band I

Die luftige Vielzahl der Titel vereinigte sich auf den Kompro­miss der einen Formu­lierung: »Die Vertei­digung Sachsens und warum Karl May die Indianer lieb­te.« Das sind zehn Worte – als Titel zu viele. Deshalb unter­ließen wir es, noch die un­ab­ding­baren drei Worte beizufügen, die wir hier nach­reichen. Komplett müsste also dastehen: »Der 3.Weg. Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die In­dia­ner liebte.« Variante: »…warum Karl May den Karl Marx liebte.« Wenn der Titel zu lang und die 3000 Seiten zu heftig für ange­säuerte Buch­verlage in der Krise sind, wird der Andreas-Heidtmann-Laden der Poeten zum ori­ginalen Trouble­maker, der es riskiert, die Massen­ge­schichte des Jahr­hun­derts als Summe aben­teuer­lich erlebter Einzel­fälle zu erzählen. Ach, liebe Zeitgenossen, was wir mitteilen, ist das, was andere ver­schwei­gen, entstellen, nicht wahr­zu­nehmen wagen. Sind eben Christen mit viel Luther und wenig Münzer.

Der junge Heilige

Zuerst haben sie ihm ein hemde gegeben
Dann palmen im garten gepflanzt
Und weil er sich nach liebe sehnte
Bohrten sie ihm den speer in seinen bauch

Dann haben sie ihm ein silberstück gegeben
Und inwendig eine gute seel
Mit der sehnt er sich nach dem himmel
Und den versprachen sie ihm auch

Zuletzt ward er in einen felsspalt gelegt
Und blieb doch frisch ins jahrtausend
Und man wusste da fehlt nur die wurzel
Und man sah: aus dem mund stieg rauch

Ich weiß nicht war der wirklich ein zimmermann
Oder ein straßenbahnschaffner oder astrologe
Ich seh mir nur manchmal die bilder an
Und denk: der tote heilige war ein recht junger mann

Und sowas haben die römer ernstgenommen?
Der wär bei uns vors jugendgericht gekommen
Und alte männer hätten ihn infantil gescholten
Und deshalb nicht als senil gegolten

(Offenbach am Main 1977)



  Professor Helmut Seidel,
bereit und gut gerüstet, Bloch in Leipzig zu rehabilitieren

Verinnerlicht: Leipzig Mendelssohn-Bartholdy-Haus, Goldschmidtstr. 12, Blochs 120. Geburts­tag, letzter Treffpunkt, sen­sibles Publikum, hoch­interessiert, wissend, erinnernd, wissenwollend, Verabredung mit Helmut Seidel, Professor nach Bloch am Nicht-mehr-Bloch-Insitut – vereint armiert würden wir die Verzerrungen und Fäl­schungen kontern. Philo­sophie an die Front. Wenig später ruft Seidel im Taunus an, Ingrid gibt Bescheid, Gerhard in der Hochtaunus-Klinik Bad Homburg, Herz­infarkt. Ich denke, so läuft das nicht. Herz, nimm dir ein Herz und heile heile. In Leipzig anrufend erfahre ich von Helmuts plötz­lichem Tod. Ist der Sen­senkerl vom Taunus zur Pleiße gesprungen. Ende der Blochvor- und -nach­stellung. Weshalb blieb Loest am 5. Juni 2005 dem Treffen in der Gold­schmidtstraße fern? Der Riss durch die Erde, breiter geworden seit Erichs Rückkehr. Er hätte unser Mandela sein können.

Als Schulkind in Crimmitschau von der Brücke in die Pleiße spuckend stellte ich mir vor, wie der Speichel zwei Stunden später in der Messestadt landete. So das heimat­impräg­nierte Hochgefühl, das mich alle Feind­schaften ignorieren ließ. Ingrid ging es nicht anders. Kein Pro­blem, wir lebten auf Distanz. Der heim­gekehrte Loest aber schreckte vor jedem Gesicht zurück. Sein wieder auf­genom­menes Leben in Leipzig führte zu Energie­leis­tungen in Arbeitswut, Herzens­glück und Zornes­ausbrüchen. Bald ver­schrieb er sich dem Ruhm der Stadt, bald wollte er sie ver­lassen und nach Halle über­siedeln. Suchte die Klinik auf. Sprang aus dem Fenster. Was sagt Leipzig dazu.
  Soviel zu Sachsen 2005. Was ist aus uns geworden? Wie denken wir an unsere Ver­gangen­heit? In Kopf und Bauch erin­nerte ich mich 1971 in Köln der hoffnungs­prallen 50er Jahre in Leipzig:
  Alarmiere ich genug Spott und Verachtung? Verletze ich die Gede­mütigten spürbar genug? Wir sind nun zu alt, als dass wir noch lange auf Revolutionen warten könnten? Ja, wir kommen, aufgepasst ihr akade­mischen Traditions­trottel und Univer­sitäts-Erb­hof­besitzer, eure Exklu­sivi­tät ist im Eimer, eure Zeit läuft ab. Aufge­passt, wir kommen, kriechen aus den Gullys, den muffigen Miets­kasernen, Hinher­hof­piss­winkeln, Kellerlöchern, Wanzen­dach­kammern, kommen aus letzten Landschaften, die vor Jahr­hunderten vergessen worden sind, aus be­schränkten Klein­städten und Kaffs, entlaufen Fabriken, Meistern, Maschinen, Besit­zern. Wir kommen. Die seit Ewigkeit Koloni­sierten des europäischen Herren­konti­nents, der seine Sklaven und Knechte versteckte und den Arbeitern die Klassen­losig­keit des Freiheit genannten Kapita­lismus predigte, sie desto nach­haltiger auszu­quetschen, zu peinigen, zu enteignen. Wir kommen nicht mit einem Male, in gewohn­ten Ord­nungen und Bildern, als Steppe, Unter­menschen, Faule, Arbeits­scheue, Minder­rassige, Farbige; wir kommen anders, sickern einzeln ein, bleiben ungreifbar zu Anfang, keine Klasse, doch krepiert ihr daran …

So der Blick 1971 von Köln aus auf das Leipzig der fünfziger Jahre. Das waren selbst­bewusste plebejische Töne. Klassen­schalmei gegen Kriegs­trompete. Kopf­stoß gegen Arsch­tritt. Wir sind gekommen und weg­gegangen. Wer am Ort blieb, erreichte trotzdem nicht das Ziel. Heute überlebt Leipzig im strah­lenden Licht der Medien. Eine Tagung jagt die andere. Bald ist's die SPD, bald die Völker­schlacht, die Links­partei oder der Haupt­bahnhof, die Buchmesse und wieder die SPD auf der Suche nach ihrer großen Ver­gangen­heit. Bebel, Liebknecht Vater und Sohn, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, in Leipzig gelebt, gesprochen, zumindest verlegt, gedruckt worden – das war Kultur und Politik und Geschichte und war Leipzigs Stamm­personal in Auerbachs Keller, geprägt von Old Goethes Faust und Mephisto, wir fügten Nietzsche, Kafka, Brecht, Bloch und Walter Ulbricht dazu und ließen Ernst Jünger am Gewässer vorm Messe­tempel mit Platz­patro­nen er­schießen, wegen unseres Pazifismus, ein Fehler von vielen. Tut mir leid. Mein Lebens­gefühl enthielt ganz nebenbei eine Prise Unsterb­lichkeit. Kugeln, Granat­splitter, Narben, Tuberkel, Operationen aller Art, Infarkte kamen und vergingen ohne mich mit­zunehmen. Soll euch doch Ernst Jünger als ewi­ger Ritter bleiben, bald wird 2014 mit seinem Jahrhundert-Abstand zu 1914 beginnen – das lässt sich feiern wie 2013 das Jahr 1813. Feuer frei für die Platz­patronen-Intelligentsia. Soviel zu den Krimis für Soko Leipzig. Mit dem ent­sprungenen Erich L. als Kommissar, der uns Aufklärung schuldet – siehe Nach­ruf 2: »Wer löst den Loest-Konflikt?«

Hand aufs Herz – was sagt es mir zu Loests über­raschenden, wenn nicht unglau­blichen Freitod? Seine letzten Worte beschwo­ren unser Leipzig von 1956/57, als mit Ulbrichts Brief an Paul Fröhlich das mögliche DDR-Tauwetter endete. Die DDR stand auf der Kippe. Ungarn war die fröhlichste Baracke im Ostblock. Bei uns ent­gleiste der Name Fröhlich zum Menetekel. Loests Freitod eine letzte Warnung vor kollek­tivem Selbst­mord? Die Par­teien stehen nicht zur Wahl, sie haben selbst die Wahl oder keine mehr. Merkel sozial­demo­krati­siert die CDU? Evan­gelisiert die Katholiken? Sediert die Deut­schen und veruneinigt Europa? Zweimal Krieg für deutsche Welt­herr­schaft, zweimal Nieder­lagen und ein dritter Krieg wegen Export­über-Schüssen? CDU plus SPD zu­sammengeklebt zur nahtlosen Einheits­partei? Das wäre die Chance einer pluralen Links­partei, die sich traute, wüsste sie, was sie wollen kann. Was wäre, fänden die Christen zu ihrem Jesus zurück und die Linken zu Marx? Ende des Opportunismus ab 1914, der Krieg heißt Burgfrieden, die natio­nalis­tisch ent­soli­dari­sierte SPD geht als Kriegs­partei auf den Strich. Wie wär's mit Kopf­revolte statt Barrikaden und Kanonen? Da­gegen stehen 150 Jahre Anti­marxismus inklu­sive DDR als Teil deutscher Unter­gänge. Jetzt ist der Westen dran.

Die Lumpensammler des Kalten Krieges von Arnulf Baring bis Hans-Ulrich Wehler sind von der Großen Koa­lition animiert. Wehler lässt in der FAZ vom 25.11.2013 kein anti­linkes Klischee aus, eine rot-grün-rote Allianz als Alter­native lehnt er ab. Und weiter: »Versäumt aber würde durch eine solche Ent­scheidung jener strate­gische Vor­stoß in die Moderne, von dem Gabriel und Stein­brück, auch politisch kluge Frauen wie Nahles und Schwesig sich ungleich mehr versprechen als von einer Um­armung der Links­partei.« An­schließend fordert Wehler »eine inno­vative, ener­gisch voran­getrie­bene Politik, die durch eine Tändelei mit der Ex-PDS radikal diskre­ditiert würde.« Folgt des Historikers großer Schluss­monolog: »Wäre es des­halb nicht weitsichtiger, jetzt end­gültig auf kläg­liches Selbst­mit­leid und weiner­liche Trauer ob der ver­gan­genen Größe zu ver­zichten, um wieder einen Kurs der expan­siven Partei­erneue­rung ein­schlagen zu können?«
  So­lange Wehler diese zwar schönen, doch ebenso schlaffen All­gemein­heiten nicht reali­siert, tän­delt er nur not­dürf­tig zwi­schen Noske und Schumacher herum. Dabei zahlte seine SPD für ihren Opportu­nismus nach Willy Brandt mit hohen Ein­bußen. Gemessen an 1990 hat die SPD bis Ende 2012 fast die Hälfte der Mit­glieder ver­loren. Weiter so und der Rest schmilzt nach Wehlers Rezep­ten auch noch dahin. Wäre Gysis Links­par­tei so klug und mobil wie sie sein könnte, förderte sie die Große Koa­lition als end­gültigen bürger­li­chen Schmelz­prozess von CDU/CSU/SPD und ver­stünde sich selbst als real ver­einte Linke per expansiver Er­neuerung. Übrigens ist selbst die FAZ nicht immer so wehler­schwarz. In ihrer Sonn­tags­ausgabe vom 17. No­vem­ber er­kühnte Volker Weider­mann sich zu der Frage: »Vor hundert Jahren wurde Willy Brandt geboren: Soll er in Zu­kunft eine größere Rolle spielen?« Der Genosse Brandt kam ur­sprüng­lich von der SAP her. Wer erläu­tert dem global und beson­ders in den USA gerühmten Histo­riker Wehler, dass mit der SAP einst der linke Rand außerhalb der SPD begann? Das war so wie heute: »Führende Ver­tre­ter der Wirt­schaft haben immer wieder bekräftigt, dass sich eine ordentliche Reich­tums­politik nur durch­setzen lässt, wenn die SPD in der Regie­rung ver­treten ist.« So Oskar Lafon­taine in der jungen Welt vom 29.11.2013. Jetzt ist sie vermutlich bald wieder mal drinnen und der Genosse Wehler wirft dem exter­nen Links­genos­sen Lafontaine einen »vergeb­lichen Rache­feld­zug« vor. Als Sarrazin-naher Türken­feind blieb der Pro­fessor wenigstens noch argu­mentativ, als noto­rischer Linken­feind ge­fällt er sich in saudummen Flos­keln aus Mauer­bau­zeiten. Seine SPD aber hat, viel­leicht letztmalig, die Wahl zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Zukunft. Das ähnelt einer Situa­tion in der DDR, als die SED selbst nach Stalins Tod sich nicht von ihm separierte. Jetzt verkündet gar der Papst: »Diese Wirtschaft tötet.«

Ist Franziskus etwa »ehemaliger Trotzkist, Maoist, irr­lich­ternder Links­radikaler«? So Wehlers Sprach­ge­brauch als rechts­gläubiger Sozial­demokrat von vorvorgestern. Lassen wir also die braven Grünen mit dem gütigen Bouffier und die stolze SPD mit der ver­lo­ckenden CDU/CSU selig werden und set­zen Leipzig als Stich­wort da­gegen. Da war doch was? Handelsmetropole, Industrie, Kultur, Ar­bei­ter­bewe­gung inklusive Marx-Engels­scher Kapital-Analyse. Eine Wirtschaft, die tötet, ist syste­mische Kriegs­wirtschaft. Die alte SPD ist seit 1914 dabei. Wie wäre es, wenn sich jetzt mit CDU/CSU/SPD schon wieder eine fatale große Rechts-Koa­lition bildet, als Kontrast dazu in der traditionellen Gründer­stadt Leipzig eine linke Große Koalition zu pro­kla­mieren? Erich Loest sprach sich, wie wir an­merkten, in einem späten tv-Inter­view gegen Hass und Rachsucht aus. Mich bedrückt, dass er dieser Maxime selbst nicht folgte. Er verwand die Bautzen-Haft nicht nur nicht, sie belas­tete ihn immer hef­tiger. So gesellte er sich eil­fertig jenem Bundes­präsi­denten zu, der eben seine indi­viduelle Unemp­find­lich­keit staats­politisch mani­festiert, indem er die Olympischen Spiele in Sotschi laut­stark meidet. Elefant im Porzellan­laden? Eine Belei­digung – das sind sehr sen­sible Tiere. Schlägt bei Joachim G. die Her­kunft durch? Vater und Mutter NSDAP ab1932/34, wofür der Sohn nichts kann, er lebt nur von Nazis so er­zogen distanz­los dahin als ließe bürgerlich-un­reflek­tierte Eltern­liebe den Russen­hass ende­misch werden. Achtung Putin, die Gaucks kommen, indem sie nicht nach Sotschi kommen. Näheres zum Bundes­präsi­denten im poeten­laden, Nachwort 29: »Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad«.

Nach Erich Loests Freitod am 12.9.2013 berichtet seine Frau Linde Rotta in der Leip­ziger Volks­zei­tung über die letzten Tage mit ihm. Das geschieht auf seinen Wunsch. Mir er­scheint es als ein den Fre­itod an­stre­bendes Proto­koll. In den Medien herr­schen jetzt im Dezember die ukraini­schen Un­ruhen und der Tod Mandelas vor, dessen Leben viele rühmen, die dessen nicht würdig sind. Die pom­pösen Worte Obamas am Sarg in Soweto und die von ihm ange­ordneten Drohnen­morde demen­tieren ein­ander. Wieviel Mörder fei­ern den Tod des Frie­dens­engels. Für poli­tische Ent­täu­schungen bin ich zu alt. Wir wissen, in Nieder­gangs­zeiten ist Kar­riere nichts als be­schleu­nigte Negativ­auslese. Hätte Loest nach DDR-Ende mehr Mandela als Gauck sein können? Noch in den letz­ten Monaten wollte ich mit Erich darüber reden. Er gab Zeichen, be­schwieg jedoch alle Fragen.
Gerhard Zwerenz    16.12.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon