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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wi­der­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 46

»Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen« Bloch-Vorlesung, Leipzig 1.10.1954


Ein Dichter über seinen Vater, der im Krieg ein Auge ver­lor und als Pa­zifist an Klar­sicht ge­wann. Feuil­letonist Weider­mann im Botho-Strauß-Rausch



Volker Weidermann empfiehlt in der FAS vom 21.9.2014 unter der Über­schrift Mit offener Brust ein Botho-Strauß-Buch, das demnächst im Hanser Verlag mit dem Titel Herkunft erscheinen wird, 95 Seiten, 14,90 €. Mich bewegt ein Satz des Rezen­senten, in dem es heißt: »Die tragische Figur des Vaters, der im Ersten Welt­krieg ein Auge verlor und darauf Pazifist wurde.« Das ist ein Schuss ins oszil­lie­rende Gedächtnis. Weshalb? Unser Nachwort 58 vom 28.2.2011 im poetenladen beginnt mit den Worten: »Anfang 1944 kam ich mit einer US-Kugel im Arm auf den Haupt­verbands­platz hinter Nettuno und anschli­eßend ins Lazarett nach Meran(o) in Süd­tirol. Otto, der ältere Bruder meiner Mutter hatte als k.u.k.-öster­reichischer Soldat in der Schlacht am Isonzo ein Auge ver­loren, auch er war im 1. Weltkrieg in einem Meraner Lazarett behandelt worden. Ich kriegte (oder erlitt) einen Lach­anfall, als der Zug mit den Ver­wun­deten neben dem Stations­schild hielt. Otto war als linker Revol­teur aus Weltkrieg 1 zurück­gekehrt. Seine Bücher und sein Ein­fluss prägten mich.«

Der Nachruf-Prolog bewegt sich zwischen dem Strauß-Titel Herkunft und mei­nem dritt­letzten Wort Einfluss. Paralle­lität stellt ein Mann her, der im Krieg ein Auge verlor und auf den Erzähler einen pazi­fizie­renden Ein­fluss ausübt. Hier endet die Parallele, obwohl Strauß seinen Vater so hochachtet wie ich Otto, den älteren Bruder meiner Mutter. Die Dif­ferenz ist der konträ­ren Wirkung geschuldet. Botho Strauß ist in der FAZ Liebkind und ich bin Unperson – das war nicht immer so. Heute würde ich mich schämen, in der FAZ Liebkind zu sein. Dem er­klärten Einzel­gänger B.S. ge­bührt der Status, indem er seinen Platz im kongenialen Kreis findet. Rezensent Weider­mann eröffnet seine Laudatio mit der Frage: Kann man seiner Her­kunft entrin­nen? Und ant­wortet darauf mit der zweiten Frage: Will man das? Fragt sich drittens nur, wer da wen fragt.

Einen ganzen Tag vor Weider­manns (West) anschwellend-poeti­schem Bocks­ge­sang auf Strauß in der FAS war ihm Sebastian Klein­schmidt (Ost-West) in der Sonnabend-FAZ zuvor­gekom­men und lieferte die bei Weidermann dann fehlenden Ken­nmar­ken Hei­degger, Ernst Jünger usw. vorweg. Klein­schmidt hatte die beiden west­lichen Geistes­helden bereits als Chef­redakteur der DDR-Zeit­schrift Sinn und Form gepriesen und könnte in der FAZ/FAS damit auch noch Karriere machen. Zurück zum Urquell der Weider­mann-Würdi­gung für das Strauß-Buch, in dem von Bothos Vater und dessen im Welt­krieg 1 verlorenem Auge berichtet wird, auf den Verlust hin der Mann Pazi­fist wurde. Warum stutze ich? Weider­manns Artikel trägt den Titel Mit offener Brust.1943 lagen wir in Sizilien im Artilleriefeuer unter einem ausge­brann­ten Panzer. Neben mir mein Freund Wilhelm Strasser, dem ein zi­garren­starker Granat­split­ter die Brust öff­nete. Es traf ihn, nicht mich. Warum stoßen mich 2014 drei Worte auf Papier ins Jahr 1943 zurück. Weshalb ruft der einäugige Vater des mir gänzlich unbekannten Botho Strauß soviel Ver­gan­gen­heit in mir wach? Weil der Vater Pazi­fist wurde, was der Sohn würdigt, ohne ihm in dieser Haltung zu folgen? Wer könnte das verlangen. Ihr Jesus war Pazifist. In seinem Namen führen sie noch heute Krieg auf Krieg. Großes Glück hatte ich mit meinem Helden, diesem Onkel Otto, was ihn als Name so mini­mali­siert wie sein auf­rechter Gang durchs Leben das meine von Kind­heit an struk­turierte. Der Fall wird in Weder Kain noch Abel im Detail belegt, als Jürgen Reents danach fragte. Meine Antwort:



Gerhard Zwerenz: Weder Kain noch Abel
Gespräch mit Jürgen Reents. Das Neue Berlin 2008

  »Onkel Otto war der ältere Bruder meiner Mutter und der ruhende Pol für mich. Er war eigentlich alles: Kommunist, Anarchist, Trotzkist und spielte Saxophon. Der hat mich auf die richtige Seite geworfen.«
  Reents: »Mit seinem Rat: ›Die ganze Welt ist irre, du musst dich dagegen zur Wehr setzen?‹ Sie erwähnen ihn so in Ihrem Buch Venus auf dem Vulkan.«
 
GZ: »Mit solchen Denkanstößen und Ratschlägen, und mit seinen Büchern. Ich hatte bis zu meinem fünften Lebens­jahr im Bett meiner Groß­mutter geschlafen, dann haben sie mich in die Boden­kammer umgesiedelt. Da gab es neben einem Bett und einer kleinen Wasch­gelegen­heit diesen rie­sigen See­manns­koffer mit Büchern. Sie waren fast alle von der Büchergilde Gutenberg und galten bis 1933 als gute Lektüre. Aber ab 1933 wurde mir gesagt, davon dürfe niemand mehr etwas wissen, diese Bücher seien alle ver­boten. Einige sind deshalb zu Beginn der Nazizeit ausge­lagert worden, die expli­zit linke und kom­munis­tische Literatur. Der Kutscher vom benach­barten Ritter­gut ver­steckte sie im Stall.«
  Reents: »Um welche Bücher handelte es sich?«
  GZ: »Alle, von denen ich heute noch lebe: Arnold Zweig, Remarque, Balzac, Barbusse, Heinrich Heine, Gorki, Nietzsche … Mit dem Lesen dieser Bücher habe ich angefangen, bevor ich zur Schule ging, aber schreiben lernte ich erst in der Schule.«
  In meinem von Jürgen Reents genannten Büchlein Venus auf dem Vulkan, März Verlag 1982, schildere ich Otto, das Glasauge wie Botho Strauß seinen Vater. Hier eine Kostprobe aus meines Onkels Reden an mich, als der 2. Weltkrieg begann:


Dies ist eine passende Stelle für Montage. Also nutzen wir Blochs Sklaven­sprach­definition. Grund­sätzlich ist die pas­sive von der aktiven Sklaven­sprache zu unter­scheiden. Die passive Variante folgt dem Druck von oben, den Ver­hält­nissen, Normen, Gewohn­heiten. Die Unter­worfenen reden wie es von ihnen verlangt, zumin­dest erwartet wird. Sie ver­halten sich naiv, domes­tiziert, be­flissen bis pos­sier­lich. Die Worte und Bilder der Medien finden in den Köpfen den gewünsch­ten Widerhall. Die aktive Skla­ven­sprache arti­kuliert statt Wider­hall Widerstand, dessen Potential sích nach dem Ausmaß der Re­pression richtet und vom an­deu­ten­den Unwillen bis zur Verbal­revolte reicht, die sich zur rebel­lischen Aktion steigern kann. Unter­gang einbe­griffen.
  Quellen: Der Begriff findet sich häufig bei Bloch. Ein längerer Hinweis in Atheismus im Christen­tum auf Seite 30. Näheres dazu in unserem Buch Sklaven­sprache und Re­volte auf Seite 341 sowie im Kapitel Unterschiedliche Sklaven­sprachen ab Seite 128. Hier noch ein Bloch-Satz: … »Die Sklaven wechseln.«
Atheismus im Christentum –
gibt's denn sowas?

Ottos Reden an mich sind Klarsprache. Ich traktiere sie auch sehr gern, wenn selbst die Verbalrevolte ohne Wirkung bleibt. Das ist der wunde Punkt. Der einäugige Botho-Strauß-Vater ist im Text als Klar­sprache lediglich ein lite­rari­scher Auf­hänger. Aus der tragi­schen Figur wird ein Rätsel im gefälligen Feuilleton. Weider­mann zitiert folg­lich seinen favo­risier­ten Dichter mit dessen Bekennt­nis: »Dabei müsste ein Leben in der Kunst sich in namen­loser Neugier auflösen, bis man irgend­wann mit großen Augen untergeht.« Das ist Untergang auf Papier. Wo bleibt da des Vaters Glasauge. Kehrt einer nach dem Verlust eines Auges als Pazifist aus dem Krieg heim, verspricht die Gestalt für die Gestaltung bei weitem mehr als im Text gehalten wird. Die namen­lose Neu­gier mag mit dem feuil­letonis­tischen Unter­gang hin­reichend bedient werden. Der Pazifist nicht. Da wird er stets ans Kreuz geheftet
  Lakonische Rückschau ins Ich: Als der Siebenjährige 1933 erfahren hatte, die Bücher in seiner Boden­kammer waren ab sofort verboten, fühlte er sich erstmals in seinem Leben bedroht und erlernte die Technik der Geheimhaltung erworbenen Wissens. So überstand er Schule, Lehrlings­zeit und Wehrmacht. Der Plan, bei der Hitler­jugend das Segel­fliegen zu erlernen und übers Erzgebirge nach Prag zu entkommen, scheiterte an der In Prag ein­marschie­renden Wehrmacht. Ab also mit 17 Jahren zur Luftwaffe. Was Hitlers Stell­ver­treter Hess konnte, konnte ein Trotzkist schon lange. Her mit der Messer­schmidt und fort in die weite Welt. Stattdessen werden drei Luft­waffen­rekru­ten am Tag der Ent­scheidung, abkom­mandiert in die Kaserne nach Utrecht, wo die Luft­waffen­division Hermann Göring, die bei Rommel in Afrika gerade unter­ging, neu auf­gestellt werden sollte. Zwei freuen sich auf Holland. Der dritte erstarrt zur Eissäule. Scheiben­kleister ist es mit der ersehnten Flug­schule, er wird nicht weg­fliegen, er wird wegstiefeln müssen. In seinen luftigen Wünschen hatte er sich's leichter vor­gestellt. Kinder­leichter.
  Zweimal missglückte der Versuch, sich von der Truppe zu entfernen. Zwischen Monte Cassino und Gaeta stach ein Riesen­kerl von Feind den Begleiter nieder. Ich wollte sein Bajonett nicht auch noch kosten und drückte ab. Das war Schreck, Panik, Angst, Verlust, Wut. Bald gab es Gerede in der Kompanie. Die schiefen Blicke der Verdäch­tigung. Hatten die beiden abhauen wollen? Da bin ich ganz und gar ein tüchtiger Soldat. Dumm und gehorsam wie gewünscht. Das wäre ja gelacht. Im Ernst­fall parodiere ich den Jünger bis zum Kotzen. Als sie mir in Monte Cassino den Orden an­hefteten »Für den Front­einsatz im Erdkampf in mindestens drei Gefechten an drei verschie­denen Tagen« - das Weiße im Auge des Feindes sehen hieß das im Helden­deutsch. Da wusste ich doch, die dritte Flucht musste glücken. Der Warschauer Aufstand im August 1944 verhalf dazu.

Als Fünfjähriger ging ich an der Hand meiner Großmutter durch den Ort. Mit dem Finger wies sie auf einzelne Häuser, die Namen von »Gefallenen« nennend, da hatte eine Frau ihren Mann, dort ihren Sohn verloren. Warum standen die Männer nicht wieder auf, wenn sie gefallen waren fragte ich und erfuhr »gefal­len« bedeutete, im Krieg getötet worden zu sein. Diese Frauen und Mütter wussten mehr als wir wissen durften. Ich nahm mir vor, nie zu den Gefallenen zu gehören. Und wenn, stünde ich wieder auf.
Heute, mit fast 90 Jahren wünsche ich mir eine Zaubermedizin, die nach dem Abgang jede denkbare Wiederkehr auf diesen Erdball verhindert. Es muss doch irgendwo unter Milliarden von Himmels­körpern noch etwas Vernünftiges geben.
  Hier auf Erden wird eben die schwache Seite Nietzsches als ewige Wiederkehr des Krieges organisiert. Immer dasselbe öde Karussell, durch Marx bereits vor langer Zeit mit seiner Doktordissertation widerlegt – wer will das wissen. Die Krieger, Kriegerinnen inklusive, können nicht anders. Von den Medien wird fleißig eingeheizt: Feindbild Russland … Das Recht des täglichen Tötens… Chinas Aufstieg – Deutschland muss sich auf ein Land einstellen, das vor Konflikten nicht zurückschrecktVater erzählt wieder vom Krieg… Unsere Mütter unsere Väter … Daimler greift in China an … Putins Schlachtplan… Krieg in den Köpfen… Von Ernst Jünger zu von der Leyen: Kriegshandwerk als Job … Das ist der Sound des Krieges …

Der Zeitungsungeist steigert sich von der versprochenen Friedensdividende zur Totschlagzeile. Nicht mehr nur der Marxismus, sondern der Pazifismus wird zum feindlichen Gespenst erklärt …
Krim-Krise aus russischer Sicht:
Putin ist verrückt

Ihr im Westen versucht, hinter Putins Handeln eine Strategie zu entdecken. Ihr fragt euch, was sein legitimes Interesse sein könnte. Wir Russen wissen, dass da der blanke Wahnsinn am Werk ist (FAZ 15.03.2014 von Nikolai Klimeniouk)

Leipziger Volkszeitung 9.9.2014:
Terrorgefahr:
Kritiker warnen vor Waffentransport vom Flughafen Leipzig
Laut Walter Benjamin hat »die Menschheit mit ihrer Selbstentfremdung jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.« (Walter Benjamin Illuminationen, Suhrkamp 1961)
Marxist Walter Benjamin –
heute noch en vogue?

Fürs erste geht unser meistzitiertes Blatt vom Main, vielleicht aus Respekt vor Benjamin, noch wie sein Vor­gänger zu Hitlers Zeiten den Weg mit Wider­sprüchen. In der Politik herr­schaft­lich macht­ver­fallen, in der Wirt­schaft zunehmend ver­un­sichert, doch weltläufig, im Feuilleton mal honorabel, mal nichts als angstverschwitzt vor den Konse­quenzen. Wir aber lesen über den Waffen­trans­port, der vom Leip­ziger Flug­hafen ausgeht. Will das die Helden­stadt? Die gewünschte D-Mark ist weg, die Waffen sind da. Wir lieben Sachsen trotz­dem. Unser Titel Die Ver­teidigung Sachsens ist so ernst gemeint wie fröhlich. Wir kennen wie Wilhelm zwo keine Parteien mehr und kehren den Spruch der Sozis von 1914, diesen falschen Burgfrieden, diese Kriegs­erklärung mit Verrat an der 2. Inter­nationale, in seine wahre Bedeu­tung um. Sachsen, Deutschland, Europa erklären aller Welt den Frieden und arbeiten ernsthaft daran. Der Linkspartei ein besonderer Her­zens­gruß. Sie kann nur noch besser werden, obwohl sie inzwischen längst mehr Auf­klärung betreibt als die andern.
  Europas Linken samt deutscher Links­partei ist wie den anderen die ur­sprüng­liche Phi­lo­sophie abhanden gekommen. In der Berliner Republik schrumpft die Politik zur Perso­nalie und die Kultur zum Dauer-Talk, unter­brochen von Börsen- und Wetter­berich­ten, was bleibt sind Krimis, Fußball, Merkel, von der Leyen und der trotz Krebs stets wohlig braun­gebrannte, wort­spru­delnde Bosbach.

Sklavensprache XIX
aus GZ: Vergiss die Träume deiner Jugend nicht – 1989

Wer auf die tägliche Dosis allgemein
üblicher Sklavensprache verzichtet,
handelt sich Unwillen ein. Erst lacht
man ihn aus, dann setzt die Maschinerie

der Verfolgung ein. Wer nicht in Demut
verharrt, muss es büßen. Wer mit dem
Kopf gegen die Decke stößt, ist zu
groß gewachsen. Er wird verkürzt.

Einige wenige gehen ihren Weg weiter.
Wenn sie stehen, stehen sie aufrecht.
Irgendwann wird man beim Häuserbau
das Maß berücksichtigen müssen.


Es war einmal, da saß also einer in Leipzig und blickte auf seinen weiten exotischen Bekann­ten­kreis, dessen unglaubliche Widersprüchlichkeit lauter ent­gegen­ge­setzte Pole ent­hielt. Seine frühe­ren Kameraden und Freunde sowie nach­maligen Genos­sen aus den sowjeti­schen Kriegs­ge­fan­genen­lagern, die mit ihm als ehemalige Deser­teure zurück­kehr­ten, waren Volks­polizei- und Armee-Offi­ziere geworden, arbei­teten in Kri­minal­dienst­stellen und bei der Staats­sicherheit, in Partei und Staats­ämtern. Jetzt in Leipzig fügte sich eine ganz andere Gesell­schaft hinzu, das hoch­mö­gende Personal von Universität, Wissenschaft, Kunst. Durch die Freund­schaft mit Ernst Bloch ent­standen Ver­bin­dungen mit Alfred Kanto­rowicz, dem Un­bestech­lichen; Wolfgang Harich, dem Un­durch­schau­baren, Hanns Eisler, dem Mister Sarkas­mus. Nachdem er ein kleines Büchlein über Brecht und Aristo­teles geschrie­ben hatte, suchte Alfred Kurella diesen Zwerenz in seine Anti-Brecht-Front einzu­bauen, wogegen er sich wehrte. Er fand in Johannes R. Becher einen Fürsprecher, bis er sich mit seinen Ver­öffent­lichun­gen zu weit vor­wagte und Becher erneut auf Partei­linie ging. Hier von der Stadt an der Pleiße ver­suchte er die ersten Fäden zu seinen späte­ren Freunden Erich Fried, Arthur Koestler, Ludwig Marcuse, Robert Neu­mann zu ziehen, und als er die DDR fliehen musste, rettete sich zur selben Zeit Alfred Kanto­rowicz in den Westen, die herz­liche Freund­schaft dauerte bis zum schweren, bitteren Tod des Unbe­stech­lichen in Ham­burg. Inzwi­schen waren auch Bloch und andere in der BRD. In den sech­ziger Jahren meinte er mitunter, Leipzig sei überall. Wenn er Uwe Johnson traf, dachte er an die Bloch-Vor­lesungen in Leipzig, zu denen Johnson eine Zeitlang anrückte, nach Schnaps riechend, schwer­zun­gig, schwer­fäl­lig, arti­kulations­faul, das Schwei­gen des Nordens im sündigen Geschwätz des Südens der Republik. Sie würden Johnson mani­pulieren, vernützen, von Geheim­diensten narren lassen, er würde aus der Mitte zur Peri­pherie tappen und ver­schwinden, ein unauf­gelös­tes Kreuz­wort­rätsel der Literatur-Illus­trierten. Über all das würde er noch schreiben und ver­öf­fent­lichen, wäre die Zeit reif, nahm er sich vor.
  Eine Kooperation mit den Spitzen und Amtsträgern dieser unaufgeklärten postnazistischen Bonner Staats­gesell­schaft war nicht mein Ding, worüber Erich Kuby sich am 10.10.1974 im stern äußerte. Unter dem Titel Ein Quer­kopf ohne Heimat schreibt Kuby: »Er kam aus der DDR und wurde einer der schärfs­ten Kritiker der Bundes­repu­blik … Das Leben des Schrift­stellers Gerhard Zwerenz enthält kaum eine Person, eine Situation, ein Milieu, die nicht auch in seinen Büchern vorkommen. Denn der gedrun­gene Links­literat mit dem wuchernden Vollbart und dem mar­kanten Quadrat-Kopf sieht sich außer­stande, Unrecht und Unge­rechtig­keit schweigend hin­zu­nehmen.« Ich fand das freund­lich von Kuby, fühlte mich aber immer noch in der Situation des Acht­jährigen, der gegen das Verbot seiner Lieb­lings­bücher durch die Nazis revoltiert. Es gibt lebenslang impräg­nieren­de Er­fah­rungen, und da wir gerade von Bio­graphien und Auto­bio­graphien sprechen, sind die Konse­quenzen gefragt.
  Wer im Krieg ein Auge verliert und als Pazifist heimkehrt, ist trotz Verlust ein Se­hender geworden. Wer dem Ein­äugigen tief ins Glasauge blickt, wird verstehen, wes­halb es tränen kann.

Es ist eine finstere Zeit

Es ist eine finstere Zeit
Da die Dichter schweigen aus Angst
Und die Kritiker reden auf Befehl
Und es ist eine Literatur
Der keiner glaubt.
Aber es werden Honorare gezahlt.

Es ist eine finstere Zeit
Da Unbekannte hocken
In möblierten Zimmern
Und mit heißen Manuskripten
Anfüllen die Schränke.
Aber es wird Makulatur gedruckt.

Es ist eine finstere Zeit
Da die Dichter nicht dichten
Und die Denker nicht denken
Denn es darf nicht gedichtet
Und nicht gedacht werden.
Aber es werden Preise verteilt.


Geschrieben zur Leipziger Buchmesse 1956 –
reaktiviert zur Frankfurter Buchmesse 2014

Gerhard Zwerenz   06.10.2014    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon