Seit Wochen wird in den Feuilletons über Volker Weidermanns „Kurze Geschichte der Literatur von 1945 bis heute“ gestritten
Forsch liest sich zunächst die Kurzbeschreibung des Buches:
60 Jahre, 135 Autorinnen und Autoren: Was für eine Zeit, was für eine Vielfalt! Mit frischem Blick, Leselust und Meinungsfreude wird hier die jüngste Epoche der deutschen Literatur gemustert, erzählt und sortiert. Volker Weidermann, Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hat dort angefangen, wo erstmal alles zu Ende war. Wie ging es los nach dem Krieg, wer war schon da, wer kam dazu, wer wollte zurück und was ist daraus geworden?
Vorgetäuschte Unmittelbarkeit
Doch das Buch spaltet die Literaturwelt – so stehen auf der einen Seite teils namhafte Weidermann-Kritiker (die angeblichen Gnostiker) und auf der anderen Seite die Befürworter (die angeblichen Emphatiker). Das Lager der
Gnostiker sieht Weidermanns kurze Literaturgeschichte als
Schriftstellerlebensgeschichtskitsch (Ina Hartwig, FR), da der Autor mit flotter Schreibe anekdotenhaft von Autor zu Autor jage. Schlampigkeit sei hier am Werk. Ulrich Greiner beurteil das Buch in der
Zeit noch kritischer. Hier folge jemand ungehemmt eigenen Aversionen und lasse sich zu verwegenen Urteilen hinreißen. Amüsant sei das und anregend, doch unter dem Strich ausgesprochen ärgerlich. Greiner missfällt der „seifigen Ton“ und das „literaturferne Gefasel“ des Buches. Und auch Christoph Bartmann von der Süddeutschen ist skeptisch, wenn er schreibt: „Neben solchen liebevollen und mit Gewinn zu lesenden Texten finden sich dann immer wieder lieblose und nicht einmal schwungvoll polemische Einträge zu Autoren, zu denen Weidemann einfach nicht viel eingefallen ist.“
Anders urteilt Elke Heidenreich, die das Buch in Ihrer Sendung
Lesen! präsentierte: „Weidermann ist mir immer schon aufgefallen als ein besonders lebendiger Kritiker, der gescheite und lesbare Kritiken schreibt.“ Das Buch sei temperamentvoll, witzig und gescheit geschrieben, dass man nicht aufhört bis zur letzten Seite.
Hubert Winkels, der das Buch öffentlich vorstellte, brachte die Begriffsgegensätze in der ZEIT auf: Die Emphatiker, zu denen er auch Reich-Ranicki zählt, seien jene mit dem unbedingten Hunger nach Leben und Liebe Die Emphatiker hätten den Autor im Blick, sie bewerteten Haltungen, Zugehörigkeiten, organisierten sie geschickt und würden im Übrigen die Lebenskämpfe in Alltag und Politik genießen. Die Gnostiker sind dann jene, „denen ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt; die sich sorgen, falschen Selbstbildern, kollektiven Stimmungen, Moden und Ideologien aufzusitzen ...“ Die Gnostiker sähen erst einmal Texte und dann frühere Texte und diese auch noch in größeren Kontexten.
Natürlich ist diese Schwarz-Weiß-Malerei-Methodik so alt wie untauglich. Die Mehrzahl der Kritiker ist wohl beides: Emphatiker und Gnostiker. Es geht also weniger um die subjektive Sicht eines Autors, gegen die niemand etwas einzuwenden hat, als um Qualität, Stimmigkeit und innere Logik eines Buches.
Hubert Winkels| Emphatiker und Gnostiker | DIE ZEIT
Georg Diez | Wir Emphatiker (Fortsetzung d. Debatte) | DIE ZEIT
Volker Hage | Lichtjahre auseinander | Der Spiegel
Ina Hartwick | Ich und der Dichter | FR
Volker Weidermann | Das Lesen ist schön | FAZ
Andreas Heidtmann | Wo sind sie denn alle? (Kritik) | Poetenladen
Volker Weidermann
Lichtjahre
Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute
Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2006