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Brigitte Struzyk
alles offen

Kopfüber in die Gedichtanfänge
  Kritik
  Brigitte Struzyk
alles offen
Gedichte
120 Seiten
FIXPOETRY Verlag 2011


Wer seinem Gedichtband einen Titel wie „Alles offen“ gibt, will Möglich­keiten betonen, will die alter­native Lesart des „Nichts ist sicher“ nicht in ihrem Fata­lismus stehen lassen. Dafür nutzt Brigitte Struzyk die Wirklichkeit als Reibefläche: „Hier bekommst Du Realien, reinweg“ gibt Dichter­kollegin Elke Erb dem Leser als Wirk­verspre­chen auf dem Klappen­text mit auf den Weg. Was haben wir also vor uns? Wirklich­keiten, die poetische Mög­lich­keiten in sich tragen? Am Ende gar ein lyri­sches Ermuti­gungs­programm? Damit ginge Brigitte Struzyk allerdings bewusst das Risiko ein, Zynikern eine offene Flanke zu bieten. Denn die kontern einen solchen Titel natür­lich sofort mit der wohlfeilen Weis­heit „Wer nach allen Seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“ Dichterin aber schon, möchte man ihnen ent­gegen­halten. Und was für eine! Die gebürtige Thüringerin, Feucht­wanger-Preis­trägerin von 1991, stürzt sich kopfüber in die Gedichtanfänge:

Leuchtgrün, ha, hängst du herum,

so dumm herum
lässt dir Wertpapiere aufschwatzen,
bodenlose Fragen der Existenzsicherung,
bohrende Fragen über Ersatzteile stellen,
und neu sollte er schon sein,
der Äußerungsausstoß,
nie gehört, nie gelesen, nie gesehen,
und da fällt das Ö aus
und du denkst, na und,
dann eben ohne
und beginnst Angst zu bekommen vor dem Ö,
das Hören wird so ein schwieriges Wort,
die Öse, das Öhr, Öl sowieso
das nur so runter geht.

„Ökologie und Ökonomie nicht zu vergessen“, möchte man am liebsten hinzufügen. So offensiv kann man in einem Gedicht auch mit dem Erwartungsdruck umgehen. Und Erwartungsdruck war ja auch durchaus da, nachdem sich Brigitte Struzyk in den letzten Jahren publi­zistisch eher rar gemacht hat. Umso kraft­voller der neue Band: Er versammelt mehr als 90 Gedichte Struzyks aus den letzten Jahren auf immerhin 120 Seiten. Ent­sprechend kompakt kommt er daher: Von Format und Umfang her fast in Kladden­stärke, folgt er einem strin­genten optischen Konzept. Die feine Cover-Gestaltung sowie die filigranen Illustrationen im Innern des Bandes stammen von der namhaften Illus­tratorin Elke Ehninger. Der Band markiert den Start einer ambi­tionier­ten Buchreihe des FIXPOETRY Verlages, einem Ableger von FIXPOETRY.com, das zu den renom­mier­testen Poeten-Portalen im Netz gehört. Vier Kapitel durch­ziehen den Band – mit zum Teil genialen Titeln wie „Die Unschuld der Wörter“ oder „Bis bald, Inbus“. Sie durch­schreiten einen gewal­tigen Themen­kreis, der poetische Pro­gramma­tik ebenso mit ein­schließt wie Natur- und Liebes­gedichte, politische Themen und persönliche Reise­eindrücke. Was ist die themen­über­greifende Stärke der Gedichte von Brigitte Struzyk? Es ist – um es auf einen Begriff zu bringen – ihre Energetik.

Die Gedichte von Brigitte Struzyk sind Energiefelder, sie verfügen über den unbe­dingten Willen zur Gegen­wärtig­keit, haben keine Scheu vor aktuellen Bezügen. Hinzu kommt das kompo­sito­rische Geschick, auch disparate Dinge unan­gestrengt miteinander zu verknüpfen, überhaupt: Das mühe­lose Parlando ist eine der hervor­stechenden Quali­täten von Struzyk. Und nicht zu ver­gessen das Über­raschungs­moment. Das Startgedicht „Die tote Tafel­ente vom Bodensee“ beginnt geradezu pro­gramma­tisch: „Die Unschuld der Wörter / stelle ich über deren Verwaltung/Sie sollen so kommen, / wie sie wollen. / Wird ihnen etwas abverlangt, / werden sie schwer...“ In einer so geführten Sprache „steckt Gewalt in dem Akt“, so die Poetin, und kommt dann mit einem überraschenden Abschluss-Vergleich:

All das ist wie
ein Bekennerschreiben
der RAF


Man ist gerade noch verblüfft ob dieses plötzlich um die Ecke biegenden Bezugs und beginnt doch gleich­zeitig, die Stimmig­keit des Bildes zu spüren. Wer sich erinnert, hat sie noch im Ohr, diese Verlaut­ba­rungen der Rote-Armee-Fraktion, die präzise Verwal­tungs­sprache mit töd­licher Kälte paar­ten. Brigitte Struzyk liebt den un­mittel­baren Sprech­duktus, sie ver­steht sich in ihrer Rolle als Poetin eher als hinter­sinnige Arran­geurin denn als Eisen­bieger, der das Sprach­material in ein­drucks­volle Formen presst. Sie beherrscht aber nicht nur das saloppe Sprechen, sondern auch die gebundene Form – aber dies mit einer saloppen Lässig­keit, die an Lakonie grenzt:

Die Feuer sind verloschen

Ich ziehe durch die Nacht,
trag Asche in der Tasche
ich habe durchgemacht.

Die Schatten sind gegessen,
die Steine sind geschluckt,

Die Strecken sind vermessen,
die Messen sind gedruckt.


Vor lauter Sprödigkeit übersieht man fast, wie souverän die Schönheit hier ge­bän­digt wird und etwa das Wort „messen“ am Schluss elegant in eine andere Bedeutung überführt wird. Aber Pathos ist die Sache von Brigitte Struzyk eher nicht: „die Messen sind gedruckt“ und das Gedicht ist gelesen, so würde sie es vielleicht eher sehen. Doch sie kann's auch spiele­risch: In dem Gedicht „Klotzsche schon“ nimmt sie sich zum Beispiel den sper­rigen Namen eines Dresdner Nobel­vier­tels vor. Klotzsche, diesen phone­tisch schwer­ver­daulichen Happen, schnappt sie sich und legt ihn sich mund­gerecht hin: „Schon Klotzsche / so geklotzt hat er / der Gleisgitarrist / mir gegenüber / er spielt Riffe...zwischen den Riffen/der Griff an die Rippen“ Auch hier wieder die mühe­lose Verbin­dung zwischen hetero­gensten Bildfeldern, Wort­klau­bereien, die durch ihr virtuoses Tempo bestechen. Natürlich sind nicht alle Gedichte gleich stark, aber insgesamt ist „Alles offen“ ein Gedicht­band, der doch eine beein­druckende Durch­gängigkeit lyri­scher Qualität unter Beweis stellt. Einziger Wermuts­tropfen ist das Vorwort von Bachmann-Preis­träger Peter Wawerzinek. Dem fällt tat­sächlich nichts Besseres ein, als das Wort „gedicht“ alphabetisch durch­zudekli­nieren: „geeicht“, „genicht“, „gesicht“ etc. und dazu freie Asso­ziationen abzu­sondern, die eher an das Herum­fuchteln mit dem Blinden­stock erinnern. Was das mit den Gedichten Brigitte Struzyks zu tun hat? Nichts. Erkennt­nis­gewinn? Null. „Alles offen“ eben.
Hellmuth Opitz     02.12.2011    

 

 
Hellmuth Opitz
Lyrik