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Henry ParlandZerbrochenDer schwedischsprachige Autor Henry Parland weckt Erinnerungen Kritik
„Während das Entwickeln der Negative ein eher theoretischer Schöpfungsvorgang ist ..., kriegt man beim Kopieren ein Gefühl für die Realität des Wunders; aus dem blütenweißen Blatt schaut auf einmal ein Gesicht oder eine Landschaft, so wie du sie zwar noch in Erinnerung hast, aber verdunkelt von Eindrücken und Assoziationen, die viel zu undeutlich sind, als daß sie sich verscheuchen ließen.“ Diese zentrale Textstelle weckt auch bei mir Erinnerungen an Stunden im Fotolabor – in der Schule und im Jugendheim – bei Rotlicht zwischen Fixierer und Stopper, umwölkt von beißendem Essiggeruch. In unserem digitalen Zeitalter gerät dieses Phänomen vom Hervortreten einzelner Bildelemente im Entwicklerbad zunehmend in Vergessenheit. Seinerzeit wurde ich manchmal von der Betrachtung der auftauchenden Erscheinungen so gefangen, dass ich versäumte, das Fotopapier rechtzeitig herauszunehmen, und so verschwand das Bild samt der ausgelösten Erinnerungen wieder auf dem sich schwarz färbenden Fotokarton. Der Ich-Erzähler im fragmentarischen Roman des schwedischsprachigen Autors Henry Parland (1908-1930) verwendet speziell Veloxpapier, um die Erinnerungen an seine verstorbene Freundin Ami heraufzubeschwören: „Der Prozeß hat etwas von der Aufweckung der Toten.“ Auf den nahe liegenden Bezug zu Prousts Romanprojekt „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verweist der Autor selbst in seinem vorangestellten Motto: „Dieses Buch ist vielleicht ein Plagiat von Marcel Proust.“ Doch das ist dieser schmale Roman ganz und gar nicht. Er stellt vielmehr einen sehr eigenständigen und überraschend modernen Versuch dar, das Problem der Erweckung von Erinnerungen zu beschreiben. Dieses erstmals vollständig in deutscher Übersetzung vorliegende Werk hält zudem die Zeit Ende der Zwanziger Jahre im etwas entlegenen, multikulturellen Ostseeraum fest: Der gebürtige Finne, der mit seiner Mutter deutsch, seinem Vater vornehmlich russisch, mit dem karelischen Kindermädchen estnisch und den Bauernkindern finnisch sprach, beschreibt auf Schwedisch eine Liebesaffäre in Helsinki. In einer Zeit, als Alkohol strikt verboten war und in den finnischen Restaurants daher unter dem Tisch verabreicht wurde. „Gebrochen“ statt „Zerbrochen“ wäre vielleicht die treffendere Übersetzung des Originaltitels „Sönder“ gewesen. Denn das Buch handelt von einer gebrochenen Liebe zweier Menschen, die zu wahrer Liebe unfähig sind, und den vielfältig gebrochenen Erinnerungen, die der Erzähler, der wiederholt die Perspektive wechselt, trotz aller Bemühungen nur als Momentaufnahmen einfangen kann. Sie bleiben stumm und unscharf und auf eigentümliche Weise fremd. Am Ende verrinnen sie buchstäblich im Sand. Beeindruckend wie modern die literarischen Bilder sind, die Parland verwendet: „Denn zumindest ich habe immer ein Gefühl von Entweihung, wenn ich mein unterbewußtes Ich auslote und diese seltsamen Tiefseefische heraufhole, die wir üblicherweise Halluzinationen, Träume usw. nennen.“ Beklemmend dagegen, dass Henry Parland in seinem einzigen Roman seinen eigenen, frühen Tod vorwegnimmt. Als Ami einen geplanten Kinobesuch absagt, besucht der Erzähler die schwer an Fieber erkrankte Freundin zu Hause. Bald darauf stirbt sie in einem Krankenhaus. Anfang November 1930 sucht eine Freundin Parland auf, weil sie zusammen ins Kino wollen. Sie findet ihn fiebrig und fast bewusstlos vor. Wenige Tage später erliegt der junge Autor in einem Krankenhaus im litauischen Kaunas seinem Scharlachfieber. Es ist Zeit, an ihn und sein Werk zu erinnern.
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Henning Heske
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