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Isabelle Lehn

Aladdin, COB


Der Lauf einer Waffe ist auf meinen Kopf gerichtet. Ich starre auf die Wand, die unver­putzten Steine, die eine Kulisse sein müssen, damit es nicht aufhört, ein Spiel zu sein. In meinem Rücken liegt Faruk. Ich will den Kopf drehen, ich erwarte den Schuss, Platz­patronen, einen Knall, wenn das Trommelfell platzt. Die Soldaten brüllen, die Stimme des Supervisors, ich bilde mir ein, Faruk keuchen zu hören. Don't move! – es ist mein eigener Atem. Der Moment, auf den wir uns gefasst machen sollten. Der Augenblick, in dem es zu kippen beginnt und man ver­gisst, dass man bloß eine Rolle verkörpert, dass es ein anderer ist, der dort am Boden liegt, ein Knie auf den Rücken gedrückt, eine Kapuze um den Kopf festgezogen: Dass man nicht selbst in den Lauf einer Waffe blickt.

Jeden Morgen öffne ich die Tür des Cafés. Sie ist nicht abgeschlossen, es gibt keine Schlösser an den Türen unserer Häuser, die wie leere Kartons entlang der Dorfstraße stehen. Im Gastraum ist es dunkel und stickig. Es riecht nach Mäusekot, und ich höre das Rascheln der Tiere unter den Dielen, dem unebenen Boden, der seit Jahren ein Provisorium ist. An der Holz­wand taste ich mich entlang, um nicht gegen die Tische oder den Spülschrank zu stoßen, und wenn ich die Läden öffne, vermisst das Licht den Bretter­verschlag. In der Nacht dringt der Staub durch die Ritzen der Bohlen, der am Mittag, wenn erst der Konvoi durch die Straßen gefahren ist, vor den Fenstern rot aufwirbeln wird. Er legt sich auf dem Spül­schrank, den Tischen, den Stühlen ab, die ich am Morgen mit feuchten Tüchern abwische, obwohl sie am Mittag schon wieder bedeckt sein werden. Niemand stört sich daran. Faruk war mein einziger Gast – aber es hilft, in Bewegung zu bleiben.
Das Lager der Soldaten liegt auf dem Hügel. Von der Terrasse aus kann ich es sehen, wenn es früh am Tag in Bewegung gerät und die Humvees zwischen den Zelten umher fahren. Dann bin auch ich vom Hügel aus sichtbar, und ich beginne, die Terrasse zu fegen. Unser Dorf muss belebt aussehen, so lautet die erste Regel des Spiels, in dem wir Figuren sind und zu tanzen beginnen, sobald jemand einen Blick auf uns wirft. Der Supervisor läuft durch die Straßen. Dorfleben! ruft er und rudert mit beiden Armen, Dorfleben!, und eine Welle breitet sich aus, die wir weiter tragen, durch die Straßen in die Häuser hinein, bis ihr Echo lustlos verhallt. Ich spule meine Bewegungen ab, ein begrenztes Repertoire an Schritten und Handgriffen, und ich habe mir angewöhnt, langsam zu fegen, um nicht zu früh fertig zu sein.

Später sitze ich auf der Terrasse und lese. Das Leder des Sessels erwärmt sich in der Sonne, es ist schuppig wie die Haut einer Echse, und der Supervisor stört sich nicht an meinen Büchern, solange er mich oft genug fegen und durch den Ort laufen sieht. Nur den Frauen ist das Lesen verboten. Sie haben es nie gelernt, an diesem Ort, und auch das Café betreten sie nicht. Ich sehe sie geisterhaft durch das Straßenbild ziehen, unter blauen Stoffbahnen, in Paaren oder hinter den Männern, mit denen der Supervisor sie verheiratet hat. An ihren Männern kann ich sie unterscheiden, die Frau des Dorfältesten, des Arztes, des Barbiers, und in den Häusern auf der anderen Straßenseite sind ihre Schatten am Fenster zu sehen, wenn sie wie ich nur das Nötigste tun, um nicht zu erstarren und für die nächste Patrouille bereit zu sein. Die meiste Zeit des Tages verbringen wir so, in einem Reptilienschlaf, reglos und darauf lauernd, dass etwas geschieht.

Wenn der Konvoi sich nähert, laufe ich durch den Ort. Vorbei an der Schule, in der es dem Lehrer an Schülern fehlt, vorbei am Hotel, das keine Gäste beher­bergt, vorbei am Krankenhaus, in dem nur Simu­lanten behandelt werden. Ich gehe auf den Bazar, feilsche um Requisiten und tausche ein paar Worte mit meinen Nachbarn aus, Sätze, die nach einem Gespräch aussehen. Unter­wegs sammle ich Steine. Ich bücke mich und hebe sie auf, klopfe die Erde ab und stecke sie ein, in die Taschen meiner Pluderhose, in die Ärmel meines Kaftans, die vom Staub bereits rot gefärbt sind. Die Erde ist überall. Sie sammelt sich unter dem Sensor­geschirr, das ich am Abend erst ablegen darf, wenn es mir rostrot auf den Leib geschrieben ist, als hätte ich unter den Gurten Blut statt Wasser geschwitzt.

Die gesammelten Steine schichte ich am Ortsrand zu Kegeln auf. Die Soldaten müssen meine Kegel zerstören, bevor sie in den Ort einfahren dürfen, denn auch das ist eine Regel des Spiels: Meine Steinh­aufen könnten Spreng­fallen sein. Die Männer kommen nicht jeden Tag. Es gibt noch andere Dörfer im Tal, Orte wie unseren, die wir nur verlassen dürfen, um am Abend in die Baracke zu gehen. Ich habe viel Zeit, den Wolken dabei zuzusehen, wie sie sich auftürmen. Der Himmel reicht tief hinab, und am Horizont, der jenseits des Sicher­heits­zaunes liegt, kann ich den Zwiebel­turm einer Kirche erkennen. Manchmal entdecke ich Rehe am Waldrand, einen Bussard, der über der Weide kreist, oder eine Schafherde, die der Regen in die Nähe des Dorfes getrieben hat. Ihr Geblök lässt den Ort fast wirklich erscheinen, bis wieder Sirenen, Signale oder Lautsprecherdurchsagen aus dem Lager zu hören sind, und dreimal am Tag schallt der Ruf eines Muezzins durch unsere Straßen. Wir folgen ihm im Tross zur Moschee, wo das Tonband verstummt und wir die Zeit abwarten, die ein Gebet ausfüllen könnte, bis der Supervisor kommt, um uns zurück auf unsere Plätze zu schicken.

Faruk war der einzige Gast im Café Aladdin. Außer ihm scheint niemand zu ahnen, dass ich einen Stromanschluss habe. Und einen Wasserkocher, den in der Baracke niemand vermisst. Jeden Morgen sammle ich Teebeutel und Zucker vom Frühstückstisch ein. Denn Tee koche ich stark und süß, wie ich es für landestypisch halte, ohne zu wissen, dass Kardamom und ein Schuss Sahne fehlen, aber selbst Aladdin korrigiert mich nicht, denn er weiß es nicht besser als ich. Aladdin, von dem ich nicht weiß, welche Gedanken für ihn vorgesehen sind und ob er sich raushalten darf, in seinem Café, das am Rande des Dorfes liegt. Einmal standen die Taliban vor seiner Tür, sechs Männer in ihren Kostümen, aber auch sie kamen nicht, um bei mir Tee zu trinken. Ob ich es nicht satt hätte, mich im Dorf nicht frei bewegen zu können, fragten sie, und ich hielt mich am Sensor­geschirr fest, am oberen Riemen, der immer ein wenig gegen die Kehle drückt, und dachte an Faruk, der bereits wieder zu Hause war, weil er sich irgendwann nicht mehr im Griff gehabt hatte.

Im Dorf hatte Faruk davon gelebt, dass er Weizen anbaute. Auf den Feldern, die nicht um den Ort lagen und wie fast alles im Dorf eine Legende waren. Seine Tage verbrachte er im Café Aladdin, am hinteren Tisch, wo er für eine Prüfung lernte, die nach seiner Zeit im Dorf stattfinden sollte. Er wälzte Bild­bände, und in einem davon hatte ich Andy Warhols Campbell-Soup-Dose erkannt. Andy Warlord, scherzte der Supervisor, als er vorbei­kam, um bei Aladdin nach dem Rechten zu sehen. Seine beiden Priester, nannte er uns, er sprach mit ameri­kani­schem Akzent, und Faruk nannte ihn unseren Choreo­graphen, seit der Super­visor uns am zweiten Tag hatte vor­sprechen lassen. Wir sollten unsere Geschichte erzählen, und ich schwitze und brachte kaum ein Wort heraus, ich stot­terte und fühlte mich nackt vor den anderen, trotz meines Kostüms und unter dem Deck­mantel von Aladdins Namen.

Ich weiß nicht viel über den Mann, den ich darstellen soll. Bloß das, was der Supervisor mich abfragen kann. Aladdins Dorf liegt am Fuße des Marmal­gebirges, nicht weit ent­fernt von Mazar-i Sharif. Er ist Paschtune, achtund­zwanzig Jahre alt, im glei­chen Alter wie ich, und ich bin Aladdin, verheiratet und drei­facher Vater. Ich lebe am Fuße des Marmal­ge­birges, mit meiner Frau, einem Sohn und zwei Töchtern. Ihre Namen bleiben mir fremd, die Züge meiner Frau sind verschleiert, und ich frage mich, ob Aladdins Kinder mir ähn­lich sehen, weil Aladdin so aussieht wie ich. Er sieht immer so aus wie der Mann, der das Café am Ortsrand betreibt, und ich will versuchen, die Namen meiner Frau und der Kinder bald wieder vergessen zu haben, weil ich sie vor den Taliban und den Soldaten niemals aussprechen darf.

Aladdin besitzt ein Stück Land. Fünf Hektar, auf denen ein Aprikosenhain steht. Im Krieg sind alle Papiere verloren gegangen, und seither gibt es Streit, den ich zusammen mit dem Café übernommen habe, von einem Mann, der ebenfalls Aladdin hieß. Er hat seine Kleider wieder abgelegt, das Geld eingestrichen und das Dorf am Fuße des Marmal­gebirges zurück­gelassen, wie auch ich es bald zurück­lassen werde. Alle sechs Wochen tauscht man uns aus, und nur die Flachbauten stehen hier seit vielen Jahren, zwischen ein paar Giebel­häusern, den Überresten einer anderen Zeit, als unser Dorf noch auf dem Balkan lag, die Statisten hier andere Namen trugen und die Soldaten mit ihnen den Häuserkampf probten.

Auch Faruk hat seinen Namen nicht mitgenommen. Im Dorf gebrauchen wir ihn noch, wenn wir von ihm sprechen, Faruk, einem Mann, den es außerhalb des Dorfes nicht gibt. Allein er soll die Verant­wortung tragen, Faruk, ein Mann, den man außerhalb des Dorfes nicht anzeigen kann, und auch das zählt zu den Regeln des Spiels: Die Rolle bleibt hier, und mit ihr alles, was man erlebt hat. Wir haben eine Schweige­erklä­rung ablegen müssen, es gibt eine Unter­schrift, aber noch bin ich hier und kann den Supervisor nach Faruk fragen. Ob auch der Soldat ihn nicht anzeigen wird, dem er den Finger gebrochen hat, und der Supervisor lacht, er lehnt sich zurück und sagt: Der kann sich höchstens ärgern, dass er Faruk nicht rechtzeitig erschossen hat!

Damit man uns erschießen kann, tragen wir das Sensorgeschirr. Die Soldaten feuern aus Sturmgewehren, mit Platzpatronen und Infra­rot­strahlen, und wenn wir getroffen werden, schrillt ein Signalton los. Dann werfen wir uns in den Staub, und der Supervisor kommt herbei­gelaufen, um nachzusehen, ob wir nur verwundet wurden oder erschossen sind. Wer tot ist, darf in die Baracke gehen. Er bekommt für den Rest des Tages frei und kann die Zeit dazu nutzen, die rote Erde aus seinen Kleidern zu waschen.

Die Frauen ziehen das Sensorgeschirr aus, sobald der Supervisor außer Sichtweite ist. Sie schlagen ihre Burkas zurück, die sie wie einen Umhang tragen, mit Tops und kurzen Hosen darunter, und es verwirrt mich, sie in dieser Kleidung zu sehen. Es kostet mich Mühe, nicht zu vergessen, dass meine Erregung ein gespieltes Gefühl ist – nicht meine, sondern Aladdins Sache, wie die Anspannung vor jedem Schritt, oder die Starre, die Lähmung, in die wir verfallen, bis der nächste Befehl uns wieder in Bewegung versetzt. Nicht die Befehle machen mir Angst, sondern dass ich auf sie zu warten begonnen habe.

Wir sprechen eine Sprache, Aladdin und ich. Im Dorf wird sie Paschtu genannt, manche Nachbarn sprechen Dari, Sprachen, die wie Deutsch oder Türkisch klingen, Polnisch oder Russisch, Fränkisch oder Sächsisch, jene afghanischen oder persischen Dialekte, mit denen die Soldaten nichts anfangen können. Sie weisen ihre Befehle mit Hand­zeichen aus, und wir verstehen sie, als wären sie stumm und wir taub. Leda spricht fünf Sprachen. Sie ist Übersetzerin, aber hier trägt sie das Sensorgeschirr und es ist gleichgültig, wer man draußen ist oder was einer kann.

Wir sind in Bussen angereist, aus allen Teilen des Landes, Männer und Frauen, Alte und Junge, Freiberufler, Rentner, Studenten, und seit der ersten Nacht sind wir unter­schieds­los. Unsere Telefone und Wertsachen mussten wir abgeben, und jetzt besitzen wir nichts mehr als die gelie­hene Kleidung, den fremden Namen und einen Platz in einem der Dörfer, den die Firma uns zugeteilt hat. Manche Männer begrüßten sich wie alte Bekannte. Veteranen, die in ihrem Wissen, was auf uns zukommen würde, seltsam vereint wirkten. Wer die sechs Wochen durch­halten würde, dürfe im nächsten Jahr wiederkommen – aber nicht alle hatten vor, so lange zu bleiben. Manche wurden krank, sie fuhren wieder nach Hause, und es hieß, das Arbeitsamt habe sie als Zivilisten in diesen Kriegsdienst geschickt, den zu verweigern nicht zulässig war.

Auch Faruk wird man nicht wieder einladen. Ich kenne seine Adresse nicht, und das letzte Bild, das ich von ihm im Kopf habe, ist jenes, auf dem er eine Kapuze trägt. Er liegt auf dem Boden, und ein Soldat drückt ihm ein Knie in den Rücken. Faruk hat einen Finger des Soldaten zu fassen bekommen, als der die Kapuze um seinen Kopf festziehen wollte, er dreht den Finger aus dem Gelenk, in die Schreie des Soldaten hinein, in die Befehle, die in verschiedenen Sprachen gebrüllt werden. Die Taliban sind vom Dach gekommen, die Sen­soren heulen, ein Toter steht auf und eine Waffe ist auf meinem Kopf gerichtet. Ich starre auf die Wand und erwarte den Schuss, der sich lösen und mein Trommel­fell zerfetzen wird. Aber es passiert nichts. Sie bringen Faruk nach draußen, und später heißt es, man hätte der Geisel nicht in die Kniekehlen treten dürfen. Auch die Kapuze war falsch, und als sie mich abführen, muss ich einen Stock auf dem Rücken festhalten, weil man mir die Hände nicht fesseln darf. Sie geben mir einen Helm, den ich im Jeep aufsetzen muss, for safety reasons, und als ich im Lager eine Aussage machen soll, weiß ich nicht, ob sie mich oder Aladdin fragen.

Die sechste Woche hat angefangen. Ab heute wird jeder Tag ein Letzter sein, und ich sehe den Wolken zu, die zu weit oben ziehen, um den Hügel zu streifen. Manchmal landet ein Hubschrauber in einer Windhose aus rotem Staub. Wenn der Lärm verstummt ist, höre ich einen der alten Männer singen, Ibrahim oder Saheed, die diese Namen auch jenseits des Zaunes tragen und schon viele Sommer im Dorf verbracht haben. Die Schlüssel­rollen werden immer mit Afghanen besetzt, und ich frage mich, wohin sie bald zurück­kehren werden. Noch eine Stunde, dann können wir beten gehen, es so aussehen lassen, als könnten wir beten: für Faruk oder den Soldaten mit der ver­bundenen Hand, von dem es heißt, er sei gerade Vater geworden. Wenn er Glück hat, wird auch er wieder nach Hause geschickt, und bis es für mich soweit ist, sitze ich auf der Terrasse. Meine Bücher sind ausgelesen, meine Haut ist ledern geworden, und an klaren Tagen entdecke ich manchmal Rehe am Waldrand.

Isabelle Lehn   2014    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht   

 

 
Isabelle Lehn
Prosa