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Joachim Zünder

Die Wirklicheit ist das Motiv
Die Notes toward a Supreme Fiction und die Poetologie des späten Wallace Stevens

Essay


And still the grossest iridiscence of ocean
Howls hoo and rises and howls hoo and falls.
Life´s nonsence pierces us with strange relation.

I

Der Begriff der Supreme Fiction ist ein Enigma. Stevens pflegt in seinen Briefen zu­meist dieses Enigma herunter zu spielen. Mit der Supreme Fiction sei, selbst­verständ­lich, die Poesie gemeint. Doch so einfach ist die Sache nicht, auch nicht für Stevens selbst. In einem Brief an Hi Simmons von 12. Januar 1943 schreibt er, sich auf die Supreme Fiction bezie­hend: „I don´t want to say that I don´t mean poetry; I don´t know what I mean. The next thing for me to do will be to try to be a little more precise about this enigma.“ Doch auch das ist nicht so einfach. Denn: „as soon as I start to rationalize, I lose the poetry of the idea.“ Die Supreme Fiction, will, als poetische Idee, ein Enigma bleiben.

II

Die erste Begegnung mit den Notes toward a Supreme Fiction ist be­ein­druckend. Obwohl die Fremd­sprachig­keit und insbe­sondere das oft exotisch-exqui­site Voka­bular kein geringes Hin­dernis darstellen, findet man sich dennoch, unver­mittelt, in dem Klangraum einer immateriellen Kathedrale wieder, in der jemand, man weiß nicht wer, eine ebenso groß­artige wie bizarre Messe liest. Eine Messe, die starke Ähn­lich­keiten mit einer im Blank­vers-Rhytmus gehaltenen Vor­lesung hat, einer Vorlesung über den rätsel­haften Zustand einer Welt, in der alles auf wunder­bare Weise seinen Ort und seinen Ausdruck findet – der „lion“ als „most supple Challanger“, der „bear“ als „ponderous cinnamom“, die ironi­sierte Alltäg­lichkeit als „MacCullough“, der Aller­welts­mensch. Es ist eine Welt, die scheinbar mühelos mit dem „major man“, dem „giant“, dem „angel“, dem „thinker of the first idea“ und anderen ein ganzes Panoptikum abstrakter Perso­nifika­tionen generiert, in denen wir den Exponenten einer poetischen Utopie begegnen, die sich zwar oft andeutet, aber niemals ganz zu erkennen gibt. „The poet is the priest of the invisible“ notiert Stevens in den Adagia. Der Dichter in diesen Notes toward a Supreme Fiction ist nicht nur ein Priester oder prie­ster­licher Dozent des Un­sicht­baren, er ist auch selbst unsicht­bar. Er ist Stimme, Sprach­klang. Er ist der Sound, der in die Worte fährt und sie in ihrer Abfolge so arran­giert, dass aus der Sprache ein Kaleidoskop des Imagi­nären wird. Wir sehen ihn nicht, wir hören ihn nur. Und wenn wir doch etwas sehen, dann immer nur jene Gestalt oder jenen Gedan­ken, in die eine augen­blick­liche Sprach­lust ihn ver­wandeln. Er ist immer das, wovon er spricht. Und das, wovon er spricht, singt, halluziniert oder bauch­red­nerisch theore­tisiert, ist jeweils, für den Augen­blick, seine einzige Wirk­lichkeit.

III

Das Gedicht düpiert die Rationalität. Es lässt die Reflexe eines schnellen Verstehen­wollens ins Leere laufen. Das Gedicht wirft den schnellen Sinn nicht ab. Die Sprache des Gedichts ist das Tor zur Wirklichkeit des Gedichts. Die Wirk­lich­keit des Gedichts ist eine Erfahrung. Diese Erfah­rung ist eine von Imagination und Augen­blick provo­zierte und von Sprache, Imagination und Empfin­dungs­geist vollzogene schöpfe­rische Erfah­rung der Welt und des in der Welt seins. Und weil es sich bei dieser Erfahrung nicht eben um das gängige Modell von Erfah­rung handelt, können wir sagen: die Wirklichkeit des Gedichts ist eine Erfahrung von Differenz. Eine Differenz, die mit unser eigenen Indif­ferenz kol­lidiert und diese, für Momente des gelingenden Lesens, suspen­diert. Dabei empfinden wir eine erfri­schende Passion, ein pleasure, ein inspirie­rendes Vergnügen.

IV

Der Titel Notes toward a Supreme Fiction ist aufschlussreich. Der Begriff einer obersten oder höchsten Fiktion impliziert, dass es noch andere Fiktionen gibt, mittlere, untere Fiktionen, eine Rangfolge oder Hierachie von Fiktionen. Wenn wir diese Implikation ins Spekulative oder Mut­maßende wenden, dann können wir sagen: die geschichtliche Situation, in der wir leben, ist eine Meta-Maschine, die unentwegt ein inflationäres Zuviel niederer Fiktionen generiert, Fiktionen, die gleichsam als inferior fiction unser Bewußt­sein fluten und in der Konsequenz unser geistiges Menschsein entstellen. Daraus ergibt sich die existenzielle wenn nicht gar histo­rische Not­wendig­keit einer „Supreme Fiction“, die als das offene Projekt eines poe­tisch-strate­gischen Weltbezugs nicht nur unserem Mensch­sein und dem natürlichen Sein der Welt gerecht wird, sondern überdies auch einen Prozess der Gesundung initiiert. So ist es keine Über­treibung, wenn Stevens in den Adagia vermerkt: „Poetry is a cure of the mind.“
  Das Wort „toward“ deutet auf eine Richtung hin und impliziert seinerseits, dass die „Supreme Fiction“ noch nicht erreicht ist. Die „notes“ als Notizen betonen den Character der Vorläu­figkeit. Das englische „note“ lässt sich auch als Merkmal oder Anmerkung übersetzen. In diesem Sinne skiz­zieren die „notes“ ein Anfor­derungs­profil an die „Supreme Fiction“, das den drei Abteilungen dieses poetischen Groß­unter­nehmens als gedankliche Ausrichtung dient. It Must Be Abstract, It Must Change, It Must Be Pleasure – die „Supreme Fiction“ muß abstrakt sein („abstrakt“ im Stevenschen Sinne des Wortes), sie muß Verwandlung bewirken, sie muß Vergnügen, Freude bereiten.
  So entfaltet sich unter der Begrifflichkeit von „abstract“, „change“, „pleasure“ in den Notes toward a Supreme Fiction das freie und ganz vom Geist der confidentia durchdrungene Spiel einer poetischen Erörterung, die immer auch produktive Exempli­fizie­rung ist. Es ist ein Spiel von Meditation, Episode. Spiel einer denkenden Irrationalität, die sich über das Lebens­dienliche hinaus als ein Ausdruck von justice begreift, von Schöpfungs­gerechtig­keit.

V

Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass die Dichtung von Wallace Stevens starke Verwandt­schafts­beziehungen zu zwei Seiten hin unterhält: Philo­sophie und Religion. Stevens selbst hat das nie abgestritten. Doch was ein philosophisches und, wenn man so will, auch ein religiöses Konzept sein könnte, geht ganz in seiner Dichtung auf. Eine Philosophie, die sich zugunsten der Dichtung stetig weigert, eine Philosophie zu sein. Und eine Religion, die sich, ohne Gott oder in der Nachfolge Gottes, auf ein pures, noch zu entdeckendes Diesseits bezieht, das wiederum einem noch zu entdeckenden Menschsein entspricht: It Must Be Human – so der Titel einer vierten Abteilung der Notes, die Stevens angedacht, aber nie geschrieben hat.

VI

Begriffe wie „poetry“, „supreme fiction“ oder auch „reality“ sind bei Stevens nicht einfach nur Begriffe. Es sind immer auch ideas of order. Es sind abstrakte Mythen, operative Größen einer poetischen Erkenntnis. Sie indi­zieren als Projekte der Vorstellungskraft offene Stellen, Leerräume, die sich mit dem Prozess einer stetigen Erkundung füllen. Es sind die Einflugsschneisen eines Denkens, das sich je nach Spiellaune mit diesem oder jenem Aspekt einer Geist-Sache beschäftigt; eines Denkens, das unter der Obhut des jeweiligen Begriffs niemals systematisch agiert, sondern, so könnte man sagen – fortuistisch, weil es sich zu einer Komplizenschaft mit der fortuity, dem spielenden, glückhaften Zufall bekennt und sich darin aufgehoben und getragen weiß. Und dennoch, oder gerade deswegen: wie die Atome in der Gitterstruktur eines Kristalls vibrieren die Begriffe bei Stevens samt ihrer iridi­sierenden Mehr­deutigkeit in einer Ordnung, die präzise ist. Es ist eine lebendige und zudem offene Ordnung, weil es eine Ordnung des Werdens ist. Wollte man das Tableau Stevenscher Begriffe als Begriffs­pyramide hierachi­sieren, dann müsste auf der Spitze der Pyra­mide, über allem, der Königsbegriff, das Wort „poetry“ thronen – übertroffen vielleicht nur noch von seiner eigenen produktiven Vision, der „Supreme Fiction“. Alle anderen Begriffe dienen diesem einen höchsten Begriff und arbeiten ihm zu. Das gilt auch für jene obersten Begriffs-Sekretäre, denen wir bei Stevens immer wieder begegnen: „mind“, „imagination“, „reality“.

VI

Wallace Stevens hat in seinen letzten Jahren wieder­hohlt mit dem Ge­danken ge­spielt, eine umfasssende Theorie der Dichtung zu schreiben. Stevens, der seinen Job als vice president der Hartford Accident and Indemnity Company auch im hohen Alter nicht missen mochte, hat diese Theorie der Dichtung nie geschrie­ben. Doch gibt es überall in seinen Gedichten, Essays, Briefen und vor allem in seiner Notizen­sammlung Adagia – Ansätze, Vorformen und Zuläufe zu einer solchen Theorie. Die Notes toward a Supreme Fiction erlauben die Lesart einer sich als Großgedicht exempli­fizie­renden Poetologie. In den Adagia begegnen wir den Ent­wurfs­skizzen zum Bau eines poeto­logisch-philo­sophischen Laboratoriums. Bei der Lektüre von The Noble Rider and the Sound of Words oder Imagination as Value aus dem Essayband The Necessary Angel bekommen wir gedanklich and stilis­tisch bedeutende Vorab­muster geliefert.

VII

Das, was denkt, ist etwas anderes als das, was lebt - lautet in etwa Benns berühmtes Diktum. Auch bei Wallace Stevens haben wir den klassischen weil produktiven Fall eines Doppel­lebens, in dem das, was denkt, etwas anderes ist als das, was lebt. Das, was lebt, arrangiert sich, äußerlich erfolgreich, mit einem zutiefst materia­listischen Zeitalter und einer nicht weniger mate­rialis­tischen Gesellschaft, in welcher der Mensch eigentlich an garnichts mehr glaubt. Doch das, was denkt, suspendiert den Unglauben und erschafft sich eine neue Mythologie des Wirklichen, in welcher die Dichtung als „Supreme Fiction“ das Niveau jener anderen „Supreme Fiction“ übernimmt, welche, in einer anderen Zeit, als poetische Schöpfung, Gott gewesen ist.
  Doch was ist dieses Wirkliche? „We live in the mind“ notiert Stevens in den Adagia. Ein Gedanke, den er in Imagination as Value wieder aufgreift und erläutert. We live in the mind – das bedeutet: „mind“, „ima­gination“, „reality“ ist ein unse­äparie­rbares Ganzes von hoher intrin­sischer Relativität. Was für uns eine Wirklich­keit ist, das hängt ab von unserer Bewußtseins­art. Und da die Imagination, die sich an jeglicher Wahr­nehmung beteiligt, als eine geistige Lebens­form unser Bewußt­sein erfüllt, hängt das, was für uns eine Wirklichkeit ist, auch ab von der Beschaffenheit und dem Modus unserer Vorstellungskraft. Daraus ergibt sich parallel zu einer Hierachie der Fiktionen eine Hierachie der Wirklich­keiten. Es ist nur konsequent, wenn wir bei der „Supreme Fiction“ eine Supreme Reality gleich mitdenken. Die Supreme Reality - das ist die bei Stevens als „mundo“ verbürgte Wirklichkeit der Welt, die sich im Bewußtsein des Dichters in ihrer vollen sinnlichen Differenz enthüllt und überdies von sich selbst in der „Supreme Fiction“ als Dichtung exemplarische Spuren hinterlässt.
  Diese Wirklichkeit als Zentrum und potentia des geistigen Menschseins ist gemeint, wenn Stevens in den Adagia schreibt: „Reality is the spirit´s true center.“ Oder: „The great conquest is the conquest of reality.“ Und schließlich lesen wir in den Adagia auch: „When one is young everything is physical; when one is old everything is psychic.“ Für den Dichter ist „Wirklichkeit“ letztendlich ein Mysterium, das seine Karriere im Physischen beginnt und im Psychischen vollendet.

Zuerst erschienen in Akzente

Joachim Zünder    19.05.2012   

 

 
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