Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Wolfgang Schlenker
(Nürnberg 1964 – Müncheberg 2011)
knappe bedenkzeit
was immer hier jetzt ist
mehr wird es nicht
das leben scheint zu funktionieren
wie ein tausch
was man gibt
bekommt man wieder
mit verzögerung allerdings
und manchmal aus zweiter hand
aber wie ein prinzip
dieses stirb und werde
und das negativ davon:
wenn ich nicht sterbe
dann sterbe ich
auf der dunklen erde
und siehe da:
der freie wille
ist vielleicht nicht das
wofür man ihn gerne gehalten hätte
aber das ist kein grund
ihn zu verspotten
freier wille
ist ein geschenk
und schenken heißt:
die vergangenheit gibt es nicht.
Aus: doktor zeit. Gedichte. Urs Engeler (roughbook 020), Basel 2012
»Als ob sie wüssten, wo es offenbar nichts zu holen gibt, nämlich in der erkünstelten Tiefe, holen Wolfgang Schlenkers Texte ihre Reize aus bescheidenen Reihen, kleinen Verschiebungen auf der Oberfläche, Einsichten in den Verzicht.« Christian Filips
Wolfgang Schlenker, geboren am 26. Juli 1964 in Nürnberg, verstorben am 1. August in Müncheberg bei Berlin.
Nach seinem Studium der Sozialpädagogik und Sinologie lebte er als freier Autor, Übersetzer und Leiter des Projekts „Kinderstraße“ in Berlin und der Fränkischen Schweiz. 1993 erhielt er den Open-Mike-Preis der Literaturwerkstatt Berlin. Im selben Jahr erschienen zwei erste Gedichtbände (»Das verwaiste Land«, Marbach und Rorschachfauna, Berlin). 2000 legte er bei Urs Engeler Editor seinen Gedichtband »nachtwächters morgen« und kurz darauf eine viel beachtete Übersetzung von Emily Dickinsons Gedichten, »Biene und Klee«, vor. Posthum aus dem Nachlass erschien 2012 die Sammlung »doktor zeit« (roughbooks).
Schlenkers Gedichte sprechen vor allem mit dem, was sie nicht sagen. Beschämen durch die Besitzlosigkeit ihres Wortgebrauchs. Meist tragen die lose gefügten, zwei- bis vierzeiligen Strophen sehr schwierige Dinge sehr einfach vor: mit der Evidenz von gelenkigen „wisdom sayings“, die sich oft zu allegorisch-filmischen Landschaften erweitern. Ein kindliches Meinen voller Trotz, aus jenem „bereich ohne worte“, „der lieber beobachtet, als zu erlösen“.
04.04.2012