Der Flügel
Am Morgen ist Scarlatti wieder in seinem Wintergarten zurück. Er betrachtet den leuchtend roten Efeu, der sich in breiten Ausläufern an einer Strebe hochrankt. Aus einer Blumenampel, die in der Mitte des Raums herabhängt, quillt ein üppiges Farngewächs. Auf den von der Sonne beschienenen Steinplatten am Boden schreitet ein Pfau. Mit ruckartigen Bewegungen pickt er hier und dort nach einem Futterkorn.
Ein Mann um die Fünfzig mit einer Hornbrille und schütterem Haar steht hinter der Glasfassade und klopft gegen die Scheibe.
„Die Türe ist offen“, ruft Scarlattis fröhlich. Der Besucher schiebt die Glastüre unbeholfen beiseite.
„Darf ich hereinkommen?“
Scarlatti verbeugt sich und bittet den Mann mit einer einladenden Geste herein. Dieser betritt zögernd den Raum und besieht staunend den Wintergarten.
„Werter Herr, was führt Sie zu mir?“
„Mein Name ist Kirkpatrick; bitte nennen sie mich Ralph. Ich habe mich mein halbes Leben mit Ihrer Musik und Person beschäftigt. Kürzlich habe ich einen großen Sänger Ihrer Zeit getroffen und erfahren, wo ich Sie antreffe; daraufhin habe ich mich gleich auf den Weg hierher gemacht.“
„Es war Farinelli, nehme ich an“, sagt Scarlatti belustigt. „Er hat erwähnt, dass jemand ein Buch über mich geschrieben hat. Sind Sie auch Musiker?“
„Oh ja. – Es waren zwei Bände“, erklärt Kirkpatrick aufgeregt. „Zudem habe ich ein Werkverzeichnis Ihrer Musikstücke erstellt. Ich habe die Orte in Europa bereist, an denen Sie geweilt hatten, und Bildermaterial, Noten und Dokumente über Sie gesammelt und die Nachfahren Ihrer Familie besucht.“
„Bitte setzen Sie sich doch, lieber Ralph“, bietet Scarlatti an. Kirkpatrick nickt dankend und lässt sich in einem Korbstuhl nieder.
„Sie müssen meine Aufregung verzeihen“, sagt er. „Ihr Anblick überwältigt mich.“
„Aber, aber, werter Herr“, winkt Scarlatti ab. „Ich bin verwundert darüber, dass sich Leute aus Ihrer Zeit für wohl doch schon längst überholte Musik interessieren.“
„Ihr Genius ist zeitlos, Domenico.“
„Sie machen mich ja ganz verlegen“, sagt Scarlatti. „Erzählen Sie mir etwas von Ihrer Reise. Woher kommen Sie?“
„Aus Amerika. Ich fand dort wenig über Sie und brach in den vierziger Jahren nach Europa auf, um mehr zu erfahren.“
„1840 aufwärts also“, wirft Scarlatti ein.
„Nein nein, neunzehnhundertsiebenundvierzig, im – 20. Jahrhundert“, erwidert Kirkpatrick.
„Ach! – Haben Sie dort noch irgendetwas gefunden?“
„Ich habe eine beträchtliche Anzahl von Sonaten und anderen Werken entdeckt, jedoch leider nicht besonders viel zu Ihrer Person“, antwortet Kirkpatrick. „Sie schienen eine schattenhafte, ungreifbare Figur zu sein. Also entschloss ich mich, Sie über Personen, wie beispielsweise Farinelli, die Ihnen nahe gestanden waren, vor ihrem historischen Hintergrund sichtbar zu machen.“
„Was für ein Unterfangen!“ Scarlatti lacht erstaunt.
„Soweit es mir möglich war“, sagt Kirkpatrick, „habe ich versucht, Tagebücher, Memoiren und Reiseschilderungen aus Ihrer Epoche mit den Augen eines Zeitgenossen zu sehen. Dazu eignete ich mir allgemeine Kenntnisse der italienischen, portugiesischen und spanischen Geschichte an. Immer wieder prüfte ich alle biographischen Unterlagen, die ich über Sie in die Hände bekommen konnte.“
„Und Ihre Reisen nach Neapel, Rom, Lissabon und Madrid?“, will Scarlatti wissen. „Haben Sie sie genossen?“
„Oh ja, ich habe mich bei Ihren warmherzigen Landsleuten recht wohlgefühlt“, erinnert sich Kirkpatrick, „und die alten historischen Bauwerke, die man in Europa überall im Überfluss findet, begeisterten mich. Doch Sie kennen ja die modernen amerikanischen Großstädte als Gegenstück nicht.“
„Es sind zu meiner Zeit viele Spanier in das neue Land ausgewandert. Mir wäre allein schon die lange Überfahrt zu anstrengend gewesen.“
„Nun ja“, sagt Kirkpatrick. „Ich bin geflogen.“
„Verstehe ich nicht“, rätselt Scarlatti. „Wie ein Vogel?“
„Mit dem Flugzeug natürlich. Insgesamt habe ich zwölf Jahre darauf verwendet, meine beiden Bücher über Sie zu schreiben“, sagt Kirkpatrick, „und bin in dieser Zeit mehrmals in Europa gewesen. Bei dem Versuch, mit Worten ein Bild von Ihnen zu zeichnen, stieß ich wieder und wieder an meine Grenzen. Was dabei herauskam, waren wohl eher dürftige Beiträge zu Ihrem Portrait, das eigentlich nur durch Ihre Musik vervollständigt werden konnte. Doch selbst meine Interpretationen der Sonaten haben deren wesentlichen Gehalt nur eingeengt, wenn nicht sogar entstellt.“
„Ach, was sind schon Worte?“, sagt Scarlatti leichthin. „Nehmen Sie das nicht so schwer. Werden Ihre Bücher heutzutage noch gelesen?“
„Ich weiß es nicht“, Kirkpatrick schüttelt bedächtig den Kopf. „Früher habe ich insgeheim gehofft, sie würden als Standardwerke nie ihren Wert verlieren. Vielleicht sind sie heute schon verstaubt und vergriffen, und niemand weiß mehr, was das K vor der Werkverzeichnisnummer über den Notensätzen bedeutet.“
„Das könnte sein.“ Scarlatti kratzt sich am Kinn. „Aber was wäre so schlimm daran? Sie sind zu Lebzeiten durch Ihr Unterfangen viel herumgekommen und haben schöne Erinnerungen an Ihre Reisen. Die behalten Sie ewig.“
„Vielleicht haben Sie Recht“, sagt Kirkpatrick. „Alles andere ist nicht so wichtig. Nun bin ich auch Ihnen näher, als ich es je war.“ Nach einer gedankenvollen Pause setzt er feierlich an: „Lieber Domenico, ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht.“
„Oh, das wäre aber nicht nötig gewesen. Was ist es denn?“
„Da ich herausgefunden habe“, sagt Kirkpatrick, „dass Sie sich für das zu Ihrer Zeit neu entwickelte Hammerklavier begeistert hatten, dachte ich mir, dass ich Sie mit einem Instrument erfreuen könnte, das sozusagen der direkte Nachfahre des Hammerklaviers ist. Es ist ein – Flügel.“
Zwei kräftige Männer in blauen Latzhosen tragen das Instrument in den Wintergarten. Scarlatti steht staunend von seinem Korbsessel auf. Kirkpatrick weist die Männer durch Gesten an, den Flügel in die Mitte des Raumes zu stellen.
„Bitte nehmen Sie auf der Bank Platz, Domenico, ich brenne darauf, Sie spielen zu hören.“ Scarlatti besieht das Instrument von allen Seiten und setzt sich daraufhin zögernd.
„Was bedeuten die Hebel am Fußende?“, fragt er.
„Oh, das sind die Pedale. Eine weitere Neuerung.“
Scarlatti spielt in einer fließenden Bewegung eine Tonleiter auf und ab, und erkundet staunend die Wirkung der drei Pedale, die er nacheinander vorsichtig mit seinen Füßen drückt.
Er schickt sich an, eine Sonate zu spielen. Während Scarlatti zarte Klänge durch den Wintergarten schweben lässt, dreht er sich lächelnd zu Kirkpatrick um.
„Ich fliege, lieber Ralph…“ Kirkpatrick hat sich zurückgelehnt und ist mit geschlossenen Augen ganz auf die Musik konzentriert. Auf seinem Gesicht liegt ein seliger Ausdruck. Scarlatti spielt und spielt. Als der letzte Ton verklingt, schaut Kirkpatrick um sich. Scarlatti ist verschwunden.
Die Fenster des Wintergartens stehen weit offen, und ein kühler Lufthauch weht durch den Raum.
Der Flügel aus:
Angela Kreuz: Scarlattis Wintergarten. Erzählung
Tönning: edition das andere buch 2005
ISBN 3-89959-374-X
angela kreuz