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Caroline Schleier
Gefährlicher wie Afrika
Ich lese jetzt Kunstzeitschriften. Und wenn ich nicht studiere, bin ich an der Förde und werfe Steine ins Wasser. Das Aufklatschen der Steine klingt nach Berlin, nach Elfenklo und Milla. Kiel war mein Wunsch gewesen, wegen des Meeres und der Fische und der Forschungsschiffe, doch die ZVS enttäuschte mich mit Berlin. Milla war begeistert. Vergiss Kiel, in der Spree gibt es auch Fische! Keine echten, fand ich. Milla lachte und kam einfach mit.

Mit Milla, das konnte ich schon früher niemandem erklären. Seit sie am Bus erschienen ist, der uns und jede Menge anderer Kinder zur Ostsee gefahren hat, in falsch herum angezogenem Fußballtrikot über Jeans und Pulli, oben England, unten Griechenland, wurde über sie gekichert. Sie hatte grelle Bänder in ihre schwarzen Haare geklemmt und hatte bestimmt zehn Bücher dabei. Sie konnte nicht gut lesen, sie schenkte jedem einzelnen Wort ihre volle Aufmerksamkeit und verlor sich dabei im Fluss des Satzes, immer wieder musste sie von vorne anfangen. Sie las sich selbst leise vor, auch spät abends noch. Wenn die anderen schliefen, versuchte ich von meinem Bett aus der Geschichte von dem Mehlwurm, der in der Baumborke wohnte und sich auf die Suche nach dem Mehl machte, zu folgen, aber es stand zu weit weg. Eines Abends hat sie die Bettdecke ein wenig angehoben und mich angeschaut, und aus einem Grund, den ich niemals habe finden können, habe ich mich zu ihr gelegt, peinlich darauf bedacht, dass sich unsere Körper nicht berührten. Und habe zugehört.

Wir sind erstmal in Kreuzberg untergekommen, bei Steffen, einem ehemaligen Arbeitskollegen von Millas Cousin. Er hatte ein Zimmer mit einer Hochetage zum Schlafen hatte, eins für seine Carrerabahn, eine Art Wohnzimmer für leere Bierkästen mit Sofa und Fernseher, und dann noch, für uns, ein schmales Zimmer mit übereinander gestapelten Dingen ehemaliger Mitbewohner. Die trugen wir über den Hof in den Keller. Im Hof lebten stinkende Katzen. Um die dreißig, wenn nicht mehr. Frau Stiefel vom ersten links, die liebt die Tiere, die kannse nicht einfach so einsperren, erklärte Steffen, also sindse halt im Hof, das mit Frau Stiefel, das ist andern auch schon passiert, ick sach euch, Berlin ist gefährlicher wie Afrika.

Drei Stunden später hatten wir unsere Kammer. Zwei Matratzen, ein kleiner Tisch, drei übereinander gestapelte Bananenkisten für Kleidung und drei für Bücher, dann waren noch zwei Schritte Dielen frei. Wir tranken in der Küche Steffens Bier und Milla erklärte uns ihre erste Ausstellung, Katzen auf Mülltonnen und Autoreifen, mit Schatten und ohne, immer in greller Kollage mit Atomkraftwerken, Panzern und ähnlichem. Das wird ja richtig intellektuell hier, rief Steffen begeistert.

Seit Milla mir Bücher vorgelesen hat, sind wir zusammen umher gezogen und ich habe ihr die Namen der Gräser, Blumen und Bäume erklärt, die wir gesehen haben und sie hat alles wie ein Schwamm aufgenommen, der sofort wieder ausgedrückt wird. Sie hat aus den Stängeln, Wurzeln und Blättern der Blumen, deren Namen sie sich nicht hat merken können, merkwürdige Gebilde geformt, die sie Würgenetz der Wurzelspinne, Elfenklo und Qualle Gottes nannte. Später baute sie Türme aus Holzkisten, die wie DNA-Stränge aussahen, und haute Gentomaten aus Specksteinen heraus. Das Elfenklo hat sie mir geschenkt. Aus Dankbarkeit meinte sie, ich hätte sie auf den Weg der Skulpturbiologie geführt.

In den ersten Wochen liefen wir durch Kreuzberg und Milla fotographierte einfach alles. Die Fotos entwickelte sie später in unserer Kammer, während ich auf dem Fahrrad durch die Kieze fuhr und mir vorstellte, wie es wäre am Helmholtzplatz, Frankfurter Tor oder Volkspark Friedrichshain zu wohnen. Ich hatte ihr die schwarzen Kisten mit ihren Lösungen, Fotopapieren und Apparaten von meinem ersten Besuch zu Hause mitgebracht, und Steffen hatte ihr erlaubt sie unter die Treppe zu seiner Hochetage zu stellen, und sicher hat er gehofft, dass Milla von dort den Weg nach oben finden würde. Ich liebte die Spätsommernächte auf dem Berliner Asphalt mit Flaschenbier und Millas skulpturbiologischen Monologen, doch als es nachts kälter wurde, begann mein Studium.

Wenn ich gefragt werde, ob das Studium in Berlin anders ist als in Kiel, sage ich nein. Hörsaal, Mensa, Labor und Erstsemesterdisko, eine Übungsgruppe, weil ich große Schwierigkeiten mit Mathe habe. Vermutlich überall das gleiche. Und dann höre ich das Aufklatschen der Steine an der Förde, das von den Wochenenden auf Vernissagen in Hinterhöfen und Etagen erzählt, mit Zigarren in der Hand und zu großen Hüten auf dem Kopf. Milla fiel auf, wie schon immer und überall, doch hier war es anders, es wunderte sich niemand über sie. Nicht über die Rauchwürste auf ihren Hüten, auch nicht als sie sich grellgrüne Schwimmflossen auf gelbe Gummistiefel geklebt hatte und damit ständig jemandem auf den Füßen stand, niemand wunderte sich, alle schienen Milla zu kennen, und das genoss sie. Ihre Atomkollagen klebte sie auf die Deckel von Schuhkartons und gab sie jedem, der nicht danach gefragt hatte. Jede Woche arbeitete sie an einer neuen Kollage, und jede Woche hielten eine Menge Leute ihre Deckel in der Hand.

Später am Abend gingen wir meistens mit anderen Leuten mit, Milla sprach ein paar Sätze hier und dort und niemand schien sich an unserer Begleitung zu stören. So landeten wir manchmal auf privaten Partys, einmal in einem privaten Spielclub, den wir aber nach einer halben Minute wieder verlassen mussten, ein kleiner Mann mit riesigen Händen, die uns das Blut in den Armen abquetschten, schob uns auf die Straße hinaus. Milla schrie und spuckte und versuchte ihn zu beißen, aber es half nichts. Wir pinkelten im Stehen an die Tür, wir kicherten und fühlten uns unbesiegbar. Manchmal stiegen wir auf ein Dach, auf das wir einmal mitgegangen waren. Bis Milla zu betrunken gewesen ist, obwohl ich den Verdacht hatte, dass sie nicht nur getrunken hatte, ich hielt es nicht mit Pillen, die irgendwer durch andere Hände reichen ließ, und hatte Milla ein paar mal rechtzeitig abhalten können, und obwohl ich an diesem Abend nichts dergleichen bemerkt hatte, war ich mir fast sicher, dass es nicht nur die Tequilas waren, die Milla auf die Balustrade steigen ließ. Sie streckte die Hände in die Luft, und schrie, ich bin die Maria von Berlin, Jesus, kannst kommen, und dann wird gefickt, aber richtig in echt, du alter Telefonjunkie, doch das fand kaum einer lustig, ganz im Gegenteil, einer mit Dreadlocks zerrte sie hinunter und fing an zu schreien, wegen solcher Irren wie uns ginge am Ende alles vor die Hunde. Von da an durften wir nur noch auf das Dach, wenn der Rastamann nicht da war, und auch dann nur, wenn Milla noch nicht zu betrunken war und ich versprach aufzupassen.

Eines Nachts war das Elfenklo weg. Steffen meinte, Milla sei mit einer Kiste voll Gerümpel zum Kanal gegangen. Ich habe sie nicht lange suchen müssen, sie stand zwischen den alten Kastanien, die sie an Caesar und Cleopatra erinnerten, die leere Kiste neben ihr. Das Elfenklo hielt sie in der Hand und als sie mich kommen sah, warf sie es schnell ins Wasser. Sind keine echten, sagte sie, wie die Fische hier, und jetzt fängt die Zukunft an.

Was mein Studium anging, lag ich schnell hinter meinen Kommilitoninnen zurück, die die Wochenenden bei ihren Eltern in der Hollywoodschaukel verbrachten. So kam mir das Angebot von Claudia, ich könne ein frei werdendes Zimmer in ihrer WG beziehen, sehr gelegen, und es tat gut, wieder ein Badezimmer putzen und eine Küche mit Töpfen und Schwamm benutzen zu können. Die Entwicklung der Kollagen kostete Geld, und ich hatte mir schon einige Male Gedanken gemacht, wo Milla es her bekam, als sie am Vorabend meines Auszugs verkündete, jetzt mit einer Telefondienstleistung zu verdienen. Ich musste an die Maria auf dem Dach denken und fragte lieber nicht nach, was für einen Dienst Milla genau am Telefon leistete und seit wann schon oder ob es Zufall war, dass sie es ausgerechnet jetzt erwähnte, und beschloss, die Miete bei Steffen weiter zu zahlen. Wenn sie mit ihren Kollagen reich und berühmt geworden sei, würde ich es mir zurück holen.

Es ist warm geworden, doch der Wind ist stark an der Förde, so dass ich meine Jacke noch anhabe. Wenn ich zurückrechne, bin ich schon länger hier im Wohnheim als ich damals bei Claudia gewohnt habe, und es macht mich traurig, was in so kurzer Zeit geschehen kann.

Nach Weihnachten haben die ersten Klausuren angestanden, und ich verbrachte die Wochenenden am Schreibtisch. Milla fragte mich nicht mehr, ob ich mit los ziehen würde, dafür lud sie sich manchmal unter der Woche zu mir ein. Wir kochten, und sie aß oft drei Teller hintereinander, dann legten wir uns mit einer Flasche Rotwein ins Bett und Milla las Dostojewski. Sie kam bald zwei Tage die Woche, jedes Mal schien sie dünner als zuvor. Sie erzählte immer weniger, und ich fragte nicht mehr nach, sondern erklärte ihr geduldig, was ich für meine Klausuren lernte, den Unterschied zwischen R- und K-Strategen und die Evolution der Ammoniten. An diesem Ammonitenabend fragte sie mich, wie machst Du das, das alles verstehen, wie das alles entsteht und wächst und alles wird schneller und schneller und plötzlich ist schlussausvorbei und tot. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, es ging wohl nicht mehr um fossile Kopffüßer. Sie schloss die Augen, zum ersten Mal las sie nicht mehr, ich legte mich neben sie und streichelte ihr durch ihre struppigen Haare, und lauschte auf ihren regelmäßigen Atem. Bis zu meinen Prüfungen sah ich sie danach nicht mehr. Ich feierte die letzte Klausur erst mit meiner Übungsgruppe, dann schaute ich in meinen Briefkasten und setzte mich mit dem grünen Umschlag nach Kreuzberg ab. Früher hatten wir oft unangemeldet bei der anderen vor der Tür gestanden, und ich habe mich oft gefragt, wieso ich nicht auf den Gedanken gekommen bin, dass sich seit Berlin etwas geändert haben könnte, ich freute mich einfach auf die Hinterhöfe und das Flaschenbier, und selbst der Gestank der Katzen, der nun schon bis vor die Haustür drang, steigerte meine Vorfreude noch. Milla starrte mich nur an. Sie sah schrecklich aus, abgemagert und grau, die Haarsträhnen hatte sie in ein dreckiges Tuch gezwungen. Sie bot mir in der Küche ein Bier an, nannte Steffen jetzt Steve, der aus seinem Zimmer kam und Milla über den Hals leckte, eine Hand fest an ihrem Busen. Milla wurde nervös, das wollte ich dir ja auch noch unbedingt erzählen, das mit der Miete hat sich jetzt erledigt, ab nächsten Monat, und dann redete sie über eine Installation, die sie bald machen würde, in Friedrichshain. Es war mir peinlich, dass sie log, lieber hätte ich ihr das Geld einfach so gegeben. Milla bestand darauf, dass wir zwei noch los zogen und als wir hinaus gingen, konnte ich durch einen Spalt in unsere Kammer schauen. Die Matratzen waren unter Bergen von Wäsche, Zeitungen, Geschirr, unter Essensresten und Fotos nicht mehr zu sehen. Es stank. Wir kauften Bier und Branntwein in einer Dönerbude. Wie siehts aus, fragte sie, wollen wir noch mal aufs Dach hoch, so wie früher, den krassen Rasta ein bisschen ärgern?

Ich zog den Briefumschlag aus meiner Tasche.

Ich bin in Kiel genommen, im März ziehe ich um, sagte ich.

Toll. Auf zu den echten Fischen. Milla klang bitter. Sie starrte auf ihr Branntweinfläschchen. Weißt Du noch? Berlin ist gefährlicher wie Afrika, nicht wahr. Sie trat zu mir, drückte mir ihre Lippen auf den Mund. Und dann war sie weg. Einfach weg.

Und ich bin hier in Kiel und werfe Steine in die Förde. Ich lese jetzt Kunstzeitschriften. Vielleicht finde ich sie ja eines Tages wieder.

 

Caroline Schleier    22.09.2007   

Caroline Schleier
Prosa