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Claudia Gülzow

Jeder eine andere

In der Nacht, durch den Park. Und dann am Kreisverkehr, scherte es mich aus. Nicht vollends. Es ist nur so, dass ich vom Weg abkam. Nicht meine Wohnungstür öffnete, sondern die Kneipentür. Auf ein Bier, hatte ich gedacht und dann an einem Tisch gesessen und die Bestel­lung auf­gegeben. Bei den Tischen hatte ich die Wahl, nicht bei dem Vater. Eben noch, an deinem Tisch, hattest du mich gefragt nach meinem Vater. Meine Antwort war wütend: ich kenne nicht einmal meinen Großvater. Und der Nachsatz: meine Großväter.
Wieso?
Der eine in russischer Gefangenschaft '45 gestorben, an der Ruhr heißt es; den andern haben die Russen auf seinem Hof in Pommern erschossen.
Mehr weißt du nicht?
Kaum.
Und dein Vater?
Ein Flüchtlingskind. Mit Mutter und älterem Bruder aus Pommern geflohen, vertrieben. Fünf Jahre war der Vater da, der Bruder acht und die Mutter, die Mutter war schon 47 Jahre alt. Eine Spätgebärende war sie gewesen.
Hast du sie gekannt?
Gekannt habe ich sie, fünf Jahre lang, aber erinnern kann ich mich nicht. Immer schon wurde mir gesagt, du siehst aus wie deine Großmutter, aber ich weiß nicht wie sie aussah. Geschichten. Geschichten hat man mir erzählt, jeder eine andere. Später, mit zehn Jahren, war ich noch einmal im Erzgebirge: „Die Großmutter hätte sich so gefreut, dich noch einmal zu sehen, aber du kommst zwei Jahre zu spät.“ Man kann nicht alles wollen. Hat man diesen Satz auch zu dir gesagt? Ja. Sie hat also im Erzgebirge gelebt?
Genau. An der tschechischen Grenze. Da hörte ihre Flucht auf und da blieben sie.
Und dein Vater?
Nicht anwesend.
Wo ist er?
Ich glaube er ist nirgends.
Du bist ohne ihn aufgewachsen?
Das kann man so sagen.
Wie kann man es denn noch sagen?
Eben das er nicht anwesend war.
Hat er die Flucht nicht verkraftet?
Sicher. Er erzählt immer die gleichen Geschichten. Immer die gleichen. Von einem entsetzlichen Schrei seiner Mutter beim Anblick meines Vaters, der sich, da ihm die Beine schmerzten, gesetzt hatte. Von diesem Schrei spricht er oft. Er hatte sich auf eine Leiche gesetzt. Sicher hat er die Flucht nicht verkraftet. Und sicher hat auch seine Flucht etwas mit seiner Abwesenheit zu tun, nur ist das eben nicht das Ende der Fahnenstange.
Aber irgendwo muss er doch gewesen sein? Oder?
Ja. Ja. Irgendwo muss er gewesen sein, irgendwo ist er. Aber ich kenne diesen Ort nicht. Ich habe ihn bisher nicht finden können.
Hast du ihn gesucht?
Und wie! Weihnachten '82 besuchte ich ihn. Ihn und seine neue Frau, einen Nachmittag lang. Ich bekam eine große Babypuppe, die mich nicht interessierte und eine Banane. Die gesamte Szenerie ist kaum beleuchtet. Ein mächtiges Sofa, Dunkelheit, Puppe, mein Kopf auf den Armen, die Frage: Was ist denn das schönste an Weihnachten?, Antwort: Das ich bei Papi bin.
Wie alt warst du da?
Fünf. In den Jahren darauf, in denen ich ihn nicht sah, verlor ich die Erinnerung an sein Gesicht, an seinen Körper, an seine Stimme. Da gab es Männer, einen den ich im Fernsehen sah, einen anderen, der ein bekannter Sänger war, einige andere, die ich auf Straßen traf, oft auch die Väter von Schulfreunden. Ich fragte Mutter: Wie war mein Vater? Bin ich ihm ähnlich? Einmal stand sie dabei am Herd, sie kochte und ich drückte mich neben ihr an einen Küchenschrank; es war warm, ich trug kurze, blaue Hosen.
Hast du ihn nie wieder gesehen?
Doch, doch. Ich sagte zu ihr: Ich will meinen Vater treffen. Dann gab es eine Verabredung. Vor einer Kaufhalle, in dieser Stadt, die nicht mehr meine war, an einem Sonntag, er würde dann da sein.
Ist er nicht gekommen?
Er lief über den leeren Platz vor der Kaufhalle auf mich zu. Ich mochte meine Winterjacke nicht, die ich an dem Tag trug. Wann war das?
'87. Er hat mir Fotografien gezeigt. Vater, Mutter, Kind, und das Gesicht meiner Mutter war herausgeschnitten. Dabei weinte er, sagte: Ich habe sehr gelitten.
Und das ist die Abwesenheit, von der du gesprochen hast? Zumindest konnte sie mitunter so aussehen.
Wie ging es weiter?
Ich schaffte es bald nicht mehr ihn zu besuchen. Der Kontakt brach wieder ab, da ich mich nicht mehr meldete. Und er tat es eh nie.
Wieso hast du es nicht mehr „geschafft“?
Die Verwirrung und die Verletzung, es ging nicht. Er sprach, wenn ich ihn besuchte, von dem Scheitern der Ehe mit meiner Mutter und er ließ kein Haar an ihr. Ich war zehn. Ich wollte etwas anderes. Das ist doch verständlich! Oder?
Also brach dann der Kontakt wieder ab?
Dann brach der Kontakt wieder ab. Ja. Als ich fünfzehn oder sechzehn war: ein paar Treffen. Die endeten auch wieder in Verwirrung und Verletzung. Dann, mit Anfang zwanzig wieder. Selten, eher ein Telefonat, aber auch selten. Rief ich an, sagte er: Ach, interessierst du dich mal wieder für deinen Vater! Rief er an, sagte er: Du interessierst dich wohl nicht für deinen Vater. Und ich, ich sagte: Doch! Erst mit Ende zwanzig sagte ich nicht mehr: doch. Da sagte ich so etwas: Ach, hör auf damit. Und endlich, er hatte begonnen von der Ehe und meiner Mutter und dem Bösen in seinem Leben zu sprechen, endlich sagte ich: Erzähl 's mir bitte nicht.
Hat er sich daran gehalten?
Er hat es versucht. Im letzten Jahr verkündete er plötzlich: deine Mutter ist schlau, aber ich bin romantisch. Er hatte mich gerade vom Zug abgeholt, ich war eben angekommen. Zwei Stunden später brachte er mich zum Bahnhof zurück. Und in den zwei Stunden hat er gefurzt.
Wie, er hat gefurzt?
Er hat gefurzt. Dann bin ich abgefahren.
Und ist er nicht auch stolz auf dich?
Ich konnte auch gut Bagger fahren: das letzte, was ich aus seinem Mund gehört habe.
Und, wie soll es weiter gehen?
Ich weiß es nicht. Ob ich noch einmal Kontakt aufnehme, irgendwann, ich weiß es nicht.
Meinst du es ist das letzte Wort gesprochen zwischen euch? Nein. Das letzte Wort.
Auf ein Bier denke ich und gebe die Bestellung auf.
Das letzte Wort, Prost, wäre das erste Wort. Oder? Ob er mit mir gesprochen hat, früher, zu Hause, wo soll das sein, in Pommern, wo er so frisch am Leben war, früher, zu Hause, dort wo ich so frisch am Leben war, und wo er immer noch lebt, in einer Wohnung sitzt? Geheult hat er immer schon viel. Wie 's weiter gehen soll? Ich weiß nicht was ich mit diesem Typen anfangen soll.

Claudia Gülzow   26.03.2009    
Claudia Gülzow
Prosa