Nicht leicht also, in dieser Gegend Poetisches zu entdecken. Dass dies trotzdem möglich ist, beweist Ralf Schwob in seinem Erzählungs-Band Tage wie Nächte. Schwob, der in der Gegend aufgewachsen ist, nutzt in den zehn Geschichten, die das Buch versammelt, seinen Heimvorteil und findet auch hinter Reihenhausfenstern interessanten literarischen Stoff. Großstadtliteratur darf man allerdings nicht erwarten, stattdessen wird Weizenbier getrunken und ins Freibad gegangen. Und man hat echte Probleme, arbeitet in miesen Jobs oder verliert gleich den Verstand. In seinem genauen und mitfühlenden Blick auf das Leben der Leute, die man früher „klein“ nannte und die heute „die vom sozialen Abstieg Bedrohten“ sind, erinnert Schwob an Ralf Rothmann und dessen brillanten Erzählungsband Ein Winter unter Hirschen. Sozialen Realismus hat Schwob allerdings, ähnlich wie Rothmann, nicht im Sinn. Zwar erzählt er realistische Geschichten, gleichzeitig aber spürt man, wie sehr er der sogenannten Realität misstraut, die sich in fast allen seinen Stories als äußerst erschütterbare Konstruktion erweist. So wird sie immer wieder von den Tagträumen der Figuren überwuchert, wie in Fernmündlich, dessen Ich-Erzähler in einem Call-Center arbeitet und der sich in immer neuen Varianten das Leben seiner Telefonbekanntschaft ausmalt. Manchen kommt die Realität auch ganz abhanden wie Ehrenfels, der Titelfigur der gleichnamigen Erzählung, der nach einem Unfall sein Gedächtnis verloren hat. Mit solchen „Störungen“ der Realitätswahrnehmung hat sich Schwob bereits in seinem Psychiatrie-Roman Geschlossene Station auseinandergesetzt. In Tage wie Nächte kehrt er noch einmal mit der Story Nick in dieses Setting zurück: Der Besuch einer alten Freundin, die unter schweren Depressionen leidet, ist dabei Ausgangspunkt für die Erinnerung der Erzählerin an die gemeinsame Vergangenheit. Erinnerung ist ein zentrales Element in fast allen Geschichten des Buchs. In Septemberlicht – einer der stärksten Erzählungen des Bandes, die unter anderem mit dem Debütpreis des Poetenladens ausgezeichnet wurde – bietet sie Zuflucht vor der Gegenwart, in der nach einem tragischen Zwischenfall nichts mehr ist wie zuvor. „Jeden Morgen versuche ich vergeblich zu begreifen“, so die Ich-Erzählerin, „welche der nächtlichen Bilder noch der Erinnerung entsprungen sind und welche schon dem Traum zuzurechnen waren“. Ein Satz, der für die meisten Figuren in Tage wie Nächte gilt. Das Ineinanderfließen von Gegenwart, Erinnerung und Traum macht es nicht immer leicht, den Schwob'schen Plots zu folgen. Selten erzählt er seine Geschichten linear, der Leser muss sich das Geschehen aus den verschiedenen Puzzleteilen, die der Autor in verknappter, an amerikanischen Vorbildern geschulten Sprache anbietet, selbst zusammensetzen. Nicht immer gelingt dies beim ersten Lesen und man bleibt ähnlich ratlos zurück wie Schwobs verstörte Helden. Dass der Autor auch andere Tonlagen beherrscht, beweist er in Freischwimmer, einer federleichten Jugend- und Liebesgeschichte, die so sehr nach Sommer schmeckt, wie sonst angeblich nur Eis am Stiel. Der melancholische Grundton, der viele der anderen Erzählungen durchzieht, fehlt hier völlig. Spätestens da drängt sich der Verdacht auf, dass die Gegend zwischen Mainz und Frankfurt doch nicht so übel ist. Wahrscheinlich kann man dort, an guten Tagen, herrlich im Freibad sitzen und Weizenbier trinken. Dietmar Gaumann 12.06.2007
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Dietmar Gaumann
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