Francisca Ricinski
Blaue Koralle gegen grünen Bernstein
Die Rothaarige stützt sich gegen die Fensterbank, die Frau mit der struppigen Frisur sitzt auf dem Kunstlederstuhl. Eine dritte Frau in dem Nachbarbett, eine sehr junge, setzt den Kopfhörer über die Locken ihrer maisgelben Perücke und empfängt Hardrockmusik mit geschlossenen Augen, damit sie den chromblitzenden Infusionsstab und die Belagerung ihrer Adern mit den durchsichtigen Schläuchen nicht mehr sieht. Sie will mit niemandem reden, nicht vorm Ende, geht lieber in sich ein, um nicht einzugehen.
Die Rothaarige öffnet ihren Bademantel und schaut kurz zur rechten Brust, mit dem Blick einer Mutter, die nach ihrem eingeschlafenen Kind nochmals schaut, bevor sie die Lichter ausmacht.
Wie viel haben sie dir weggeschnippelt?, fragt die Frau, die auf dem Stuhl sitzt.
Die Rothaarige erinnert sich an die Skizze des Chirurgen: Ein Quadrant. Antwortet: Ein Viertelkreis. Und dir?
Die sitzende Frau traut sich nicht, sich anzusehen, zeigt mit dem Finger auf ihre waage- und senkrecht laufenden Narben: Alles! Mein Mann fand mich widerlich ohne Brüste, einen Monat später zog er aus. „Wo sind deine zwei saftigen Quitten geblieben?“, verhöhnte er mich vorher auf einem Zettel, den er an den großen Schrankspiegel im Schlafzimmer klebte. „Noch nicht mal Fallobst!“ Weißt du, wir hatten im Süden eine Obstplantage gehabt, deutet sie den Ursprung dieser leibhaften Bilder. Und dein Mann?
Er kam drei Stunden nach der Operation, sturzbesoffen, polterte und fuchtelte mit einem Lineal in der Luft: So, Frau Doktor, jetzt wird der neue Radius Ihrer Brust mit höchster Präzision gemessen. Vertrauen Sie dem Mathematiklehrer!
Wieso nannte er dich „Frau Doktor“?
Weil ich Ärztin bin. Bevor ich ihn vor sieben Jahren heiratete, hab ich Kranke und Verwundete in vielen Ländern behandelt – in Mexiko, Indien, auf Papua, an der Elfenbeinküste und in Bethlehem...
So weit bist du gewesen?, wundert sich die Obstgärtnerin. Meine längste Reise endete in Südtirol. Ein Geschenk unserer Töchter zum Hochzeitstag. Mein Mann bestieg gerne die Berge und blies dabei das Alpenhorn, ich melkte lieber die Kühe. Weißt du, was ich nicht verstehe? Ich bin eine Bäuerin, aber du, wieso hast du nicht gemerkt, dass deine Brust...?
Die Ärztin verlässt ihren Platz am Fenster und setzt sich an den Bettrand. Ihre rote Haarpracht fällt auf das mit Lavendel besprühte Kissen. Ich glaube, diese perfiden Zellmonster, wie ich sie nenne, würden noch nicht mal vor Gott zurückschrecken, wenn er die Brüste einer Frau hätte, sagt sie. Mein Mann meinte, es sei alles passiert, weil ich keine Ahnung von dem Codex meines eigenen Körpers hätte, ich wäre zu verschwenderisch gewesen und hätte ihn zu wild beraubt. Seine mathematische Lebenstheorie: Alles muss messbar und berechenbar sein, die Gleichungen sollen unverletzt bleiben.
Ich verstehe diese gewieften Sätze nicht. Was ist eine Gleichung?
Die Ärztin kennt die Definition allzu gut, denn er artikulierte sie wie eine Litanei, bis zum Erbrechen, ob ein Anlass vorhanden war oder nicht. Sogar beim Koitus. Die Stöße passten sich dem Satzrhythmus an, genau auf Punkt und Komma: Die Verknüpfung zweier wertgleicher, aber formverschiedener mathematischer Ausdrücke durch das Gleichheitszeichen.
Sie antwortet aber: Wir haben es mit einer Gleichung zu tun, wenn ich zum Beispiel 12 Infusionen in 3 Etappen bekomme und du nur in 2, erklärt sie und schreibt in die Luft: 4+4+4=6+6.
Jetzt versteh ich, sagt die Gärtnerin. Das gilt aber nicht, wenn ein Mann und eine Frau sich küssen, denn dann sind sie nicht mehr zwei. Das war an einem Winterabend, als der russische Schiffskapitän ihr den grünschwarzen Bernsteinring schenkte.
Sie hält den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und schreibt wie die kranke Ärztin vorher: 1+1=1.
Ist es schön, dich daran zu erinnern?, fragt die Ärztin. Macht es dein Leben einfacher?
Sie wartet auf eine Fortsetzung der Liebesgeschichte, aber die andere Stimme folgt nur dem eigenen Weg.
Eine Weile bricht nur das Brummen aus dem CD-Player die Raumstille. Das Gift ist geräuschlos, wenn es sich mit dem Blut der jungen Frau mischt.
Lass uns etwas trinken!
Sie schlurfen mit ihren Metallbäumchen über den Steinboden und setzen sich in der Cafeteria an den Tisch mit den Orchideen. Die Ärztin will mit ihrer Bettnachbarin anstoßen, Kiwigrün mit Traubenrot, als eine Klemme sich vom Haken löst. Die Infusionstüte fällt auf Zigarrenasche und Stummel. Die Orchideen sind nun aschfahl.
Trauerst du um deine Viertelbrust?
Die Ärztin nickt. Ein wenig schon. Dann flüstert sie mehr für sich: Meine Zitzen wurden wie Brotteig geknetet, in Lehm modelliert, gemalt auf den Schilden von einem Dutzend Don Quichottes. Auf sie strömten Spermien, Kinder des Nichts, und Sektworte: Dein Meerschaum, Aphrodite...
Wovon redest du da? Heißt du Aphrodite? Die bislang schüchternen Blicke der Gärtnerin, der solche Tiraden fremd waren, flackerten vor Neugier.
Ich hieß mal so... war auch Undine, Vesuvia, Allegra...
Ojemine!, staunt sie. Ich hieß schon immer Melanie, noch im Bauch meiner Mutter. Was meinte dein mathematischer Mann mit dem Raubbau? Dass dein ausgebeuteter Körper sich jetzt gegen dich rächt? Bist du ein Flittchen gewesen?
Nein, nein. Ich war nur stets auf der Suche.
Dein Ring ist wunderschön!, meldet sich Melanie nach einer Weile.
Ja, die blaue Koralle. Ich hab sie aus dem ägyptischen Meer geholt. Und dein Bernstein? Stahl ihn dein Schiffskapitän aus dem Zarenpalast?
Die beiden lachen und baumeln mit den Beinen.
Kannst du dir vorstellen, vor einem neuen Mann dich auszuziehen? Deinen Busen wieder streicheln zu lassen?
Eine Frage wie ein Hagelschauer auf ihre noch wunden Gefühlszentren. Die Ärztin zwirbelt ihr Rothaar, wirft es zurück, irgendwann zwinkert sie Melanie zu: Von einem, der Asymmetrien liebt. Ein Bildhauer vielleicht. Und du?
Ich? Ich stehe am Kai, die Sirene seines Kriegschiffs nimmt Abschied vom Hafen, er sieht mich durchs Fernrohr, springt ins Boot und nimmt mich nochmals zwischen den Dünen, baut Sandburgen auf meiner Haut und schmückt sie mit Muscheln. Ich treffe ihn jeden Dienstag im Traum.
Es klingt für die Ärztin, die bisher geglaubt hatte zu wissen, was Leid und Glück ist, fast wie im Film. Sie hat keine Mühe, ihr Geheimnis sich vorzustellen. Wie sich vor zwei Jahrzehnten Melanies Flaumhaut anfühlte und wie Dünensand auf ihren Schamlippen und ihrer Klitoris schmeckte, ihm schmeckte. Sie könnte ihr noch mehr davon erzählen. „Denn ich hab sie gesehen!“ Sie lächelte. „Bin die Seeschwalbe gewesen, die auf ihren Köpfen stolzierte.“ Stattdessen fragt sie: Ein Stück Kirschtorte, Melanie?
Ja, Aphrodite! Und noch einen Kiwisaft! Prost!
Auf unsere Narben! Und auf die Ringe! Wollen wir tauschen? Blaue Koralle gegen grünen Bernstein? Oder umgekehrt? Ich heiße allerdings Beatrix.
|
Francisca Ricinski
Lyrik
Prosa
Gespräch
Kommentar
|