Pierre Bayard
Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Lesen gibt es gar nicht
Pierre Bayard kämpft in Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat gegen schlechtes Gewissen und überkommene Bildungsideale.
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Pierre Bayard
Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Übersetzung: Lis Künzli
Antje Kunstmann 2007
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„Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen“, schreibt Jorge Luis Borges im Vorwort zu seinen „Fiktionen“. „Aus größerer Gewitztheit habe ich das Schreiben von Anmerkungen zu imaginären Büchern vorgezogen.“ Der Kommentar übergeht das Kommentierte und ist damit einem „realen“ Buch sogar noch überlegen, dessen Autor nur in der Lage war „auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht“. Diese Methode erlaubt es Borges, viele solcher Gedanken zu entwickeln und seine Kreativität speist sich statt aus dem Bücherschreiben ganz aus dem Reden über mögliche, aber ungeschriebene Bücher.
Pierre Bayard redet lieber über ungelesene. Er ist Professor für Literatur an der Universität Paris VIII, und sein Buch Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat war in Frankreich ein kleiner Bestseller. In Deutschland hat ihn Antje Kunstmann verlegt und der hiesigen Nichtleserschaft damit einen großen Dienst erwiesen. Darin stellt Bayard zunächst die Arten vor, in denen man zu einem Buch in Beziehung stehen kann, ohne es wirklich gelesen zu haben: Die pure Ignoranz, das Querlesen, das Kennen vom Hörensagen und das Vergessen. Anhand von literarischen Beispielen – er bemüht unter anderem Musil und Proust, die Olympier unter den Ungelesenen – zeigt er, dass jede dieser Formen des Nichtlesens ihre eigene Berechtigung hat und nicht etwa nur eine Annäherung an etwas ist, das es seiner Meinung nach gar nicht gibt: Bücher „gelesen“ zu haben. Denn der Prozess, den man gemeinhin „Lesen“ nennt, ist immer schon korrupt: Zwischen dem Aufklappen und Schließen eines Buches geschieht einiges – in keinem Fall kennt man am Ende das Buch, sondern hat nur eine eigene subjektive Vorstellung von ihm.
Die Unmöglichkeit zu lesen
Dass es egal ist, inwieweit man einen Text wirklich kennt, führt er in seinem eigenen Zitationssystem konsequent vor: Jedes Buch, auf das Bayard verweist, wird klassifiziert als von ihm nicht oder quergelesen, vergessen oder nur ihn seinem Beisein erwähnt. Zusätzlich zeigt ein Plus- oder Minuszeichen an, ob er es für gute oder schlecht befindet. Seine Fußnoten beziehen sich dabei auch auf eigene Bücher (meist vergessen und schlecht bewertet) oder imaginäre, die in irgendeinem Roman vorkommen. Und dass Bayard seinen Standpunkt ausnahmslos an Texten veranschaulicht, die er nach eigenen Angaben nicht gelesen hat, ist nachvollziehbar: Schließlich will er zeigen, dass es „das Lesen“ nicht gibt. Was es ihm aber trotzdem erlaubt, über diese nichtgelesenen Bücher zu reden, ist, dass er sie im Verhältnis zu anderen Büchern einordnen kann – selbst wenn er auch diese nicht gelesen hat, weiß er doch, wo ihr Ort in der „kollektiven Bibliothek“ unserer Kultur ist. Diese Kenntnis, meint Bayard, ermöglicht es uns, über jedes Buch zu sprechen, egal, in welcher Form wir es nicht gelesen haben.
Nach dieser Analyse des Lesens wird Bayard zum Nachhilfelehrer in Sachen kultureller Sozialkompetenz und erteilt seinen Nichtlesern Tipps, wie man das nun macht: Reden über Ungelesenes. Die Idee dahinter ist aber nicht so sehr, Ratgeberliteratur für gestresste Bildungsbürger zu verfassen, sondern vielmehr das bildungsbürgerliche Wissensideal selbst zu torpedieren, mit seinen Kanons und Leselisten, die einmal abgearbeitet kulturelle Bildung garantieren sollen: Wenn man gar nicht lesen kann, sondern immer nur nichtlesen, ist jeder Versuch in diese Richtung zum Scheitern verurteilt. Bayards Gegenentwurf sieht zunächst Entspannung vor: Er beruhigt das schlechte Gewissen des Lesers, dem die Autorität von Literaturpäpsten Reich-Ranicki'scher Prägung angewöhnt hat, dass nur das bienenfleißige Abtragen von Weltliteratur erlaubt, über diese auch zu sprechen, und führt tröstliche Beispiele inkompetenter Leser an: In der Gesellschaft von Montaigne und Balzac fühlt sich der Nichtleser schon besser, wenn auch noch nicht gänzlich beruhigt. Und weil Bayards Buch eher eine Meditation über den Umgang mit Literatur und weniger ein Ratgeber ist, ist seine Handlungsanweisung dann auch wenig originell: Wenn meine Vorstellung von einem Text immer notwendig eine andere ist als die meiner Gesprächspartner, dann ist es letztlich egal, ob ich den Text „gelesen“ habe oder nicht: Ich spreche einfach über das, was ich mir darunter vorstelle und wenn ich das vehement und glaubwürdig genug tue, kommt mir schon keiner auf die Schliche. Bayard sieht im Reden über Bücher in erster Line aber keinen sozialen, sondern einen kreativen Prozess: Sein Ideal ist, vom Rezipieren zum Produzieren überzugehen, vom Leser selbst zum Schriftsteller zu werden. Die Gefahr des sklavischen und kanonischen Lesens liegt für ihn dann darin, sich einem Buch allzu sehr anzunähern und darüber die eigene schöpferische Kraft zu verlieren. Bayard macht dafür stark, dass man nur über die Bücher reden sollte und kann, in die man sich nicht zu sehr versenkt hat, weil sonst die eigene Person im Werk untergeht. Das höchste ist, sie auszudrücken und für Bayard heißt das: Selbst mit dem Schreiben zu beginnen.
Erfinden statt memorieren
Man kann Bayard als intellektuellen Entertainer lesen: Vergnüglich, erfrischend anarchisch, das eigene Gewissen entlastend: Wir sind doch alle nur Menschen, geben wir ruhig zu, dass wir den Zauberberg nicht gelesen haben! Lesen wird überhaupt überbewertet! Dumm nur: Wäre sein Buch ein Plädoyer fürs Nichtlesen, würde das sein eigenes Buch natürlich miteinschließen. So überschlägt sich auf dem Klappentext übrigens ein als französischer Literaturpapst ausgewiesener Bernard Pivot über Bayards Buch folgendermaßen: „Man muss in diesem Leben nur noch Bayard lesen. Sein Buch ersetzt alle anderen, alte, neue, zukünftige.“ Er hat natürlich nichts verstanden. Denn Bayard geht es um das Reden über Bücher und nicht darum, das Lesen abzuschaffen. Was er attackiert, ist ein Bildungsideal, das aus dem neunzehnten Jahrhundert in die Gegenwart mitgeschleift wurde, in seinem Absolutismus jedes kreative Moment hemmt. Deshalb sollte man ihn radikaler – und interessanter – verstehen: Als Verfechter eines diskursiven Literaturbegriffs, der den „Leser“ davor bewahren will, die Lektüre eines Buches zum kanonbeflissenen Memorierspiel zu machen.
Sicherlich ist das Buch weniger eine Analyse als eine Polemik. Aber wer den Plauderton, in dem Bayard seine Gedanken vorträgt, für zu seicht hält, für willkürlich kompilierte Beispiele aus Texten, in denen der Held nun zufällig ein Buch mal nicht gelesen hat, wird im letzten Kapitel eines Besseren belehrt. Denn da klärt Bayard mit der selben Zwanglosigkeit darüber auf, dass er sich erlaubt hat, sämtliche Beispiele aus der Literatur falsch zu zitieren. Nicht gänzlich falsch, aber abgeändert, übertrieben oder ausgeschmückt. Eben so, wie es geschieht, wenn wir über Bücher reden, die wir nicht gelesen haben und damit kreativer werden, als folgten wir minutiös dem einen Gedanken, den der Autor auswalzt. Während Borges meint, dass die Zeit zu kostbar ist, um die Bücher zu schreiben, über die man spricht, und sie lieber beim Kommentieren ausdenken soll, geht Bayard den umgekehrten Weg: Indem wir ungelesene Bücher kommentieren, sind wir auf dem besten Weg, selbst welche zu schreiben. Beide wollen, dass wir die Bücher erfinden, über die wir sprechen. Obwohl sie recht haben, sollte man sie lesen – so gut das eben geht.
Pierre Bayard hat mehrere literarische Essays veröffentlicht und lebt als Literaturprofessor und Psychoanalytiker in Paris. Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat wird derzeit in zwölf Sprachen übersetzt.
Pierre Bayard | Université Paris 8
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Hannes Bajohr
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